Dienstag, 19. Februar 2008

Der, der sterben wird




Der folgende Text entstand knapp vor der Jahrtausendwende.

Der, der sterben wird

Der, der sterben wird, steht neben mir am Grab. Wir sprechen über den, der schon tot ist. Den, der sterben wird, kenne ich kaum. Fünf oder sechs Mal habe ich mit ihm gesprochen, immer im Café C., immer in Gesellschaft anderer, Älterer. Ich hatte angenommen, der, der sterben wird, habe Familie, Kinder, vielleicht Enkelkinder.
Der, der sterben wird, hat die Stimme eines Jungen. Er ist groß und kräftig gebaut, die Frauen sagen, er sei schön. Beim Begräbnis dessen, der schon tot ist, glänzt seine hellbraune Halbglatze in der Sonne. Der, der sterben wird hat silbergraue Haare und einen schwarzgrauen Schnurrbart.
„Wie kann man nur im Mai sterben?”, fragt er mich, als sei ich dafür verantwortlich, daß der, der schon tot ist, im Mai gestorben ist. Der, der sterben wird, wird im Juni sterben.

Meine Schwester, die Biologin, spricht über Mai- und Junikäfer. Beim Begräbnis dessen, der schon tot ist, steht sie in der Schlange derer, die warten, um eine Blume auf den Sarg werfen zu können, hinter mir. Ich stehe hinter dem, der sterben wird. Um die Maikäfer von den Junikäfern zu unterscheiden, brauche man keinen geschulten Blick, sagt meine Schwester, die Biologin. Die Farbe des Junikäfers sei goldbraun, die des Maikäfers hingegen rotbraun.
Der, der schon tot ist, war mit dem Fahrrad in der Mittagshitze zu einem Badesee unterwegs. Es war ein für dieses Land ungewöhnlich heißer Maitag gewesen. Niemand wüßte, woran der, der schon tot ist, gestorben sei, sagt sein Chef, der Primarius, bei der Grabrede. Der, der schon tot ist, war Arzt im Landeskrankenhaus in D. Immer hat er sich abfällig über die Patienten geäußert, sagt meine Schwester, die Biologin. Er sei der alten, häßlichen, chronisch kranken Patienten überdrüssig, habe er immer wieder gesagt, er wünsche sich nur junge und hübsche Patienten. In den Zeitungen steht, der, der schon tot ist, sei bei den Patienten äußerst beliebt gewesen. Gerade die Älteren, berichtet auch meine Schwester, die Biologin, hätten ihn in Wahrheit geliebt.

Ich denke, vielleicht hat den, der schon tot ist, ein Insekt gestochen. Selbstmord oder Mord seien unwahrscheinlich, sagt sein Chef, der Primarius vom Landeskrankenhaus in D. Die Eltern dessen, der schon tot ist, hätten ihn gebeten, bei seiner Grabrede etwas über die Todesursache zu sagen. Im Moment könne man über die Todesursache noch gar nichts sagen, sagt der Primarius, man müsse auf den Befund der Gerichtsmediziner warten.

Der, der schon tot ist, war dreißig Jahre jünger, als der, der sterben wird. Meine Schwester, die Biologin meint, der, der sterben wird, sei über Ecken mit dem, der schon tot ist verwandt.
Ich kenne den, der schon tot ist, von früher. Seitdem ich in W. bin, habe ich ihn aus den Augen verloren. Mit zwanzig - der, der schon tot ist, war zweiundzwanzig - war ich mit ihm, seiner hübschen jüngeren Schwester und einigen jungen hiesigen Menschen, eine Woche Skifahren in F. Während der Skiwoche hatte ich mit dem, der schon tot ist, ständig Streit. Er verspottete und kränkte mich in einem fort. Bei jeder Gelegenheit hat er mich gekränkt und verspottet, denke ich, als der Regionalsender meldet, ein Arzt, ein Landsmann, 37, der in G. wohnt und im Landeskrankenhaus D. arbeitet, sei tot in seiner Wohnung aufgefunden worden.
Die Provinzzeitungen, auch die fremdenfeindliche, schreiben gut über den, der schon tot ist. Der, der schon tot ist, schreiben sie, stamme aus M. und sei bei seinen Patienten äußerst beliebt gewesen. Sie hätten schreiben wollen: Der, der schon tot ist stammt aus M. und sei dennoch bei seinen Patienten äußerst beliebt gewesen.

Dem der sterben wird, ist zu Ohren gekommen, daß ich, der ich das Land verlassen werde, über die Menschen dieses Landes zu klagen gewohnt sei. Daß ausgerechnet ich über die Menschen dieses Landes zu klagen gewohnt sei, habe ihn überrascht, sagt der, der sterben wird - ich, der ich hier geboren und aufgewachsen sei. Es trennen uns drei Grabsteine vom Grab dessen, der schon tot ist. Gefreut habe er sich, sagt der, der sterben wird, daß ich, der ich hier geboren und aufgewachsen sei, gewohnt sei, mich über die Menschen dieses Landes abfällig zu äußern. In seinen Augen, sagt der, der sterben wird, sei mein Wert, jetzt, da er wüßte, daß ich mich über die Menschen dieses Landes abfällig zu äußern gewohnt sei, außerordentlich gestiegen. Er, der hier wirklich fremd sei, hätte üble Erlebnisse mit den hiesigen Menschen gehabt. Er hätte es mir gegenüber aber nie gewagt, davon zu sprechen, weil er angenommen hätte, daß ich, der ich hier geboren und aufgewachsen sei, zu den Menschen dieses Landes gehöre.
Ich lache. Wir sind jetzt nur mehr einen Grabstein vom Grab dessen, der schon tot ist, entfernt. Sie irren sich, korrigiere ich den, der sterben wird. Nie und nimmer werde ich mich hier zugehörig fühlen, sage ich. Auf Schritt und Tritt, sage ich, weisen sie einen darauf hin, daß man nicht zu ihnen gehöre. Die Sache sei nicht etwa die, flüstere ich, wir stehen jetzt am Grab dessen, der schon tot ist, die Sache sei nicht etwa die, daß es in diesem Land keine guten Menschen gäbe. Gar nicht wenige der Menschen dieses Landes seien durch und durch gute Menschen - bessere Menschen jedenfalls als die Menschen aus M. Die Sache sei die, daß ich den Menschenschlag dieses Landes nicht schmecken könne, sage ich und rümpfe die Nase, die Sache sei die, daß ich den Menschenschlag dieses Landes nicht riechen könne, lache ich, ich stehe am Grab dessen, der schon tot ist und kann nicht mehr aufhören zu lachen.

Der, der sterben wird, wird in der Fremde sterben. Sein Körper wird sich in der Erde des fremden Landes auflösen. Mit der Zeit wird sich die Erde, in der er sich aufgelöst haben wird, mit der Erde, in der die Körper der Menschen dieses Landes sich aufgelöst haben werden, vermischen. Die Lippen, die Augen, die Zunge, die Nase, das Kinn dessen, der sterben wird, wird sich mit den Gesichtern der Menschen des Landes vermischen. Nie hätte sich der, der sterben wird, gedacht, daß sein Körper und sein Gesicht für immer in dem fremden Land bleiben könnten. Nie hätte sich der, der sterben wird, gedacht, daß seine Nase und seine Zunge irgendeinmal ein Stück des Landes werden könnten, das er nicht riechen und nicht schmecken konnte.

Das Gesicht dessen, der streben wird, ist ein Widerspruch. Seine hohe Stirn, die langgezogene Nase, die tiefliegenden Augen, der zornige Blick gehören zu einem starken Gesicht, einem Männergesicht, rauh. Noch die Oberlippe dessen, der sterben wird, ist hart. Aber schon die Unterlippe ist sanfter, ragt aus dem Männergesicht heraus, hängt weich, ratlos, wie erwartungsvoll herab. Der, der sterben wird, hat das Gesicht eines Mädchens, ein zartes Mädchengesicht, ein Gesicht, an dem man mit feiner Klinge geschnitzt hat. Der, der sterben wird, hat das Gesicht eines großen, verzärtelten Mädchens.

Der, der sterben wird, wird im Juni sterben. Im Café C., wo ich den, der sterben wird, über den väterlichen Freund kennengelernt habe, wird der väterliche Freund vor dem Rotweinglas sitzen und auf den Boden starren. Als er mich sehen wird, wird er aufstehen und wie immer über das ganze Gesicht zu strahlen versuchen. Die Augen des väterlichen Freundes werden jedoch glanzlos sein.

Ich will eine Parte aufgeben, wird der väterliche Freund sagen und mich länger anschauen als sonst. Ich spreche die Sprache des Landes nicht gut, wird er in unserer Heimatsprache sagen. Es ist nicht selbstverständlich, daß mich der väterliche Freund in der Sprache unserer Heimat anspricht. Oftmals, wenn der väterliche Freund über ein Buch, das er gelesen hat, dozieren möchte, verfällt er in die Sprache dieses Landes. Auch wenn er mir einmal ein neues Buch in der Sprache unserer Heimat auseinanderlegen will, bringt er die Höhepunkte seiner Rede – Worte und Sätze, die man, wenn sie sie geschrieben wären, mit Leuchtschrift markiert hätte - in der Sprache dieses Landes. Auch bei unserem ersten Treffen nach dem Tod dessen, der sterben wird, wird der väterliche Freund in der Sprache unserer Heimat beginnen, das Wesentliche aber in der Sprache des Landes sagen, in dem der, der sterben wird, zu liegen gekommen sein wird. Ich möchte eine Parte schreiben, wird der väterliche Freund sagen und meinen Blick festzuhalten versuchen. Tu mir, wird der väterliche Freund sagen, einen Gefallen. Du bist hier geboren - schreib mir doch eine Parte in der Sprache des Landes.
Ich werde mich verwirrt zeigen. Wie soll ich, werde ich fragen. Ich kannte den, der sterben wird nicht.
Schreib, wird der väterliche Freund sagen, „in tiefer Trauer”, schreib „mit Bestürzung”, schreib „mein bester Freund”, schreib „mein politischer Kampfgefährte”. Obwohl der väterliche Freund in der Sprache unserer Heimat begonnen haben wird, wird er die Worte in Anführungszeichen in der Sprache dieses Landes sagen. Die letzte Silbe eines jeden Wortes wird er dehnen und, während er seine Laute dehnt, mich noch eindringlicher ansehen als ohnehin schon. Nach der letzten Silbe eines jeden Satzteils, wird er seine Hände bogenförmig krümmen und vor seiner Brust halten, als wäre er eine Frau, die ihren großen Busen mit den Händen umfaßt und abschirmt.

Nach dem Tode dessen, der sterben wird, werde ich mich an eine Episode erinnern, die ich schon für vergessen gehalten haben werde. Im Regen, an einer befahrenen Kreuzung im Zentrum, wo die Autos, rücksichtslos schnell von der B.- in die K.-Straße hineineinbiegen, war der, der sterben wird, das Fahrrad mit der Rechten schiebend, und in der Linken einen rotweißrot gestreiften Familienschirm, über den Schutzweg gegangen. Ich stand, um mich vor dem Regen zu schützen, unter den Kolonnaden des Postamts und beobachtete ihn. Ein weißer Ford mit einem Provinzkennzeichen war rasant von der B.- in die
K.-Straße eingebogen und hatte keinerlei Anstalten gemacht, vor dem Schutzweg, den der, der sterben wird, schon betreten hatte, anzuhalten. Der, der sterben wird, hatte so getan, als hätte er das Provinzauto nicht bemerkt. Dann, als das Auto vor ihm gebremst hatte, abrupt und wie unwillig, knapp bevor er den, der sterben wird, überfahren hätte, hatte sich der, der sterben wird umgedreht und das Provinzauto angestarrt. Dann hatte er eine Kopfbewegung nach oben gemacht und dem Fahrer etwas mir Unverständliches zugerufen. Der Fahrer, ein weißhaariger Provinzler, seine Frau neben sich im Beifahrersitz, hatte ebenfalls eine Kopfbewegung gemacht, eine weiche, wiegende Bewegung nach links, als hätte er dem, der sterben sagen wollen: „Verputz Dich!“
Der, der sterben wird, war weitergegangen und hatte den Provinzler vorbeifahren lassen. Dann hatte er sich, abrupt wie zuvor, nach rechts gedreht, die Faust in die Höhe gestreckt - und „Arschloch!“ gebrüllt.
Der, der sterben wird, hatte das „Arschloch!” in der Art der Menschen des Landes, gebrüllt, aus dem er herkommt (und aus dem auch ich herkomme). Ein „Arschloch!“ mit einem dunklen A, einem rollenden R und einer über alle Maßen gedehnten zweiten Silbe, die sekundenlang, trotz des heftiger werdenden Regens, nachzuhallen schien. Den ganzen „Arschloch!“ hatte der, der sterben wird, so weich ausgesprochen, und so warm, das es wie eine Liebkosung geklungen hatte, die einer mitten auf der Straße steht und hinausbrüllt, damit alle Welt weiß, daß er liebt.