Samstag, 3. November 2018

Teheran Wunderland oder die Krux mit der Migrantenliteratur (DER STANDARD, ALBUM, 3. November 2018)


Jetzt, im Bus, hatte ich die Gelegenheit, mich eines Besseren belehren zu lassen
Vor Jahren behauptete ein beliebter Kinderbuchautor bei einer Lesung in Wien, es gäbe für einen Schriftsteller nichts beglückenderes als die zufällige Begegnung mit jemandem, der gerade ein von ihm verfasstes Buch lese. Das wunderte mich. Würde mir doch, gefragt nach dem schönsten denkmöglichen Erlebnis eines Autors, manch anderes einfallen. Von der glücklichen Fertigstellung eines Romans bis zum Nobelpreis. 

Eine Begegnung im Bus 

Jetzt, im Bus, hätte ich die Gelegenheit, mich eines besseren belehren zu lassen. Die junge Frau vis à vis, Typus deutsche Studentin der Germanistik, hält meinen neuen Roman, Teheran Wunderland, in der Hand, in dem die Geschichte der Revolution in Teheran als tragisch-surreale Farce erzählt wird („Teheran“ steht für ein imaginäres Land, das mit dem real existierenden Iran manches gemein hat, mit diesem aber nicht ident ist). Bevor ich es schaffe, die Frage, ob diese Begegnung beglückender wirken mag als der Nobelpreis, zu Ende zu denken, merke ich, dass sie meine Blicke erwidert.
„Sind Sie der ... Sama Maani?“
„Ja“, sage ich erwartungsvoll und verlegen.
„Okay“, sagt sie. Und wendet sich wieder dem Buch zu.
Eine Zeit lang sehe ich sie verstohlen – und weiterhin erwartungsvoll – an. Bis sie auf einmal den Kopf schüttelt, mich seltsam-vorwurfsvoll anschaut und mir eine Stelle meines Buches vorzulesen beginnt. 

„Wir sind Teheran – und nicht in Berlin“ 

Es handelt sich, das sei vorausgeschickt, um das Gedicht eines jungen, linken Poeten im fiktiven revolutionären Teheran der Siebziger Jahre. Als ihn „sein Mädchen“ wegen des Sohnes eines Wurstfabrikanten, des Klassenfeindes also, verläßt, warnt er die Teheraner Männer – vor ihren Frauen: 

Versuche sie also nicht zu verstehen/Wie soll das auch gehen/Sie versteht sich ja selbst nicht/Und bevor sie dich bricht/Komm zu Verstand/Und nimm ihr bitte das Heft aus der Hand/Du musst sie bezwingen/Du musst sie erzieh’n/Wir sind in Teheran/Und nicht in Berlin. 

„Das ist doch“, sagt die deutsche Studentin, die dem Akzent nach doch keine Deutsche zu sein scheint, sondern Wienerin, „das ist doch – frauenfeindlich!“ Ich bin verdutzt. Einer Germanistikstudentin hätte ich mehr Kompetenz im Umgang mit literarischen Texten zugetraut.
„Klar“, sage ich, „Es handelt sich ja um das Gedicht eines jungen, narzisstisch gekränkten, revolutionären Machos – der die Rechnung für sein Machotum dann auch präsentiert bekommt: Er, der gerne der Chefpoet der proletarischen Revolution sein möchte, wird über Nacht zum Lieblingsdichter der religiösen Faschisten, die sein Gedicht in den Straßen skandieren und die – , ich unterbreche mich, um nicht mehr zu verraten und zücke, einem Impuls folgend, ein Flugblatt aus der Tasche.
„Sie haben doch sicher von den Protesten der Frauen im Iran gegen den Kopftuchzwang gehört. Morgen findet am Stephansplatz eine Solidaritätskundgebung statt. Vielleicht möchten Sie –“
„Ich ... weiß nicht. Wenn wir hier gegen den Kopftuchzwang im Iran demonstrieren, wäre das nicht eine kolonialistische Bevormundung der Frauen dort? Die haben doch eine andere Kultur und – Ui! Hab vergessen, den Fahrschein zu entwerten“, sagt es, springt auf und versucht sich durch eine Gruppe von Schülern zum Entwerter durchzukämpfen. 

„Jetzt verstehe ich endlich, was ich sagen wollte!“ 

Literatur, so ein mögliches Resümee dieser Begegnung im Bus, kann missverstanden werden. Und missverstandene Literatur kann – potentiell  beglückende – Begegnungen verderben. Gemeint ist natürlich nicht, dass LeserInnen Texte mitunter anders interpretieren als deren AutorInnen. Diese Art „Missverständnis“ kann, im Gegenteil, oft beglückend wirken. Hegel, so die Anekdote, soll nach der Lektüre der französischen Übersetzung seiner „Phänomenologie des Geistes“, ausgerufen haben: „Jetzt verstehe ich endlich, was ich sagen wollte!“
Gemeint ist auch nicht, dass die Leserin in unserer Busepisode zwischen den Positionen des Autors, des Erzählers und der Figuren eines Romans nicht zu unterscheiden wüsste. Dieser Unterschiede sei sie sich, wie sie im weiteren Verlauf unserer Begegnung versicherte, durchaus bewußt. Weil aber der Autor des Romans aus einer patriarchalen Kultur stamme, hätte sie angenommen, dass das Gedicht dessen eigene Position wiedergebe.
Das wunderte mich. So wie es mich wunderte, dass sie, die eben gegen jenes frauenfeindliche Gedicht protestiert hatte, die Solidarität mit den Frauen im Iran, mit dem Hinweis auf deren „andere Kultur“, ablehnte. Zumal sie – im erwähnten weiteren Verlauf des Gesprächs – die Betonung der Differenz zwischen „unserer Kultur“ und der des Iran mit ihrer antirassistischen Haltung begründete. Und mit ihrer Weltoffenheit. 

Weltoffenheit gestern und heute 

Noch vor wenigen Jahrzehnten bedeutete Weltoffenheit gegenüber Fremden, dass man ihnen signalisierte, sie seien ungeachtet ihrer Herkunft und „ihrer Kultur“ in unserer Gesellschaft willkommen. Fremdenfeindliche Ressentiments hingegen waren stets mit der Betonung der Herkunft der Angefeindeten verknüpft. Heute scheinen aber auch Weltoffene, wenn es um Fremde geht, nicht ohne ausdrückliche Betonung von deren Zugehörigkeit zu einer „anderen Kultur“ auszukommen. Diese „anderen Kulturen“ – und nicht die Individuen, die ihnen subsummiert werden – sollten wir, so die Devise dieser neuen Weltoffenheit respektieren.
Die Vorstellung, dass Fremde in erster Linie „ihre Kultur“ (zu) repräsentieren (haben) – und dann lange nichts – gilt häufig auch für deren literarische Produktion. Ausschlaggebend für deren Beurteilung sind dann nicht inhaltliche oder formale Kriterien der Literatur, sondern die Frage, was sie uns über „ihre Kultur“ oder die Begegnung „ihrer Kultur“ mit „unserer“ sagen mögen, und wie „authentisch“ sie dies tun. Stichwort: „Migrantenliteratur“. 

Migrantenphilosophie 

Ich hatte mich immer gefragt, warum wir ganz selbstverständlich von Migrantenliteratur reden, nicht aber – zum Beispiel – von „Migrantenphilosophie“. Bis mir mein Freund, der brillante deutsch-indische Philosoph Pravu Mazumdar von der folgenden und anderen, ähnlichen Reaktionen auf sein erstes Buch über Foucault erzählte: „Sie kommen aus Indien? Welch wunderbare Kultur! Warum schreiben’s dann über einen französischen Philosophen? Schreiben’s doch über Indien!“
Pravu Mazumdar, dem Angehörigen der „wunderbaren indischen Kultur“, wurde mit anderen Worten das Recht abgesprochen, auch noch etwas anderes zu sein als Angehöriger „seiner Kultur“, etwa ein Kenner der französischen Philosophie. Hier würden jene weltoffenen Kritiker meines Freundes aber widersprechen. Sie seien schließlich keine Rassisten, sondern Bewunderer „fremder Kulturen“. Seltsam aber, dass es kaum jemadem einfallen würde, einem französischen Autor, der ein Buch über indische Philosophie veröffentlicht, zuzurufen: „Sie kommen aus Frankreich? Welch wunderbare Kultur! Warum beschäftigen Sie sich dann mit Indien? Schreiben’s doch über Frankreich!“
Die Rede von Migrantenliteratur, von „eigener“ und „fremder Kultur“ sowie der Wunsch, Mazumdar möge nicht über französische Philosophie, sondern über „seine wunderbare indische Kultur“ schreiben, ist typisch für den Diskurs der Identitätspolitik, der seit den 1970er Jahren die gesellschaftlichen und kulturellen Debatten zunehmend beherrscht. Ein Diskurs, in dem die Gesellschaft durch unauflösliche Differenzen kollektiver „kultureller Identitäten“ geprägt scheint. Unterschiede oder Widersprüche zwischen verschiedenen sozialen Klassen ein und derselben „Kultur“ oder den Individuen und „ihrer“ Kultur haben in diesem Diskurs keinen Platz. 

Jedem Stamm seine Bräuche 

Diese Eliminierung eigenständiger Individuen aus dem Diskurs, ihre Auflösung in „ihrer“ Kultur, mit der sie identifiziert werden und mit der sie sich häufig auch selbst identifizieren, erinnert an die Lebens- und Gedankenwelt archaischer Stammesgesellschaften (genauer: an unsere Vorstellung von der Gedankenwelt jener Gesellschaften), wo jeder Stammesangehörige seinen Platz und jeder Stamm seine Bräuche hat.  
Freud spricht in diesem Zusammenhang vom Prinzip der „Allmacht der Gedanken“: In dieser Welt kann ein böser Gedanke oder eine Verwünschung einen Feind töten, eine Formel den Regen herbeizaubern, Krankheiten heilen etc. Dieses magische Denken scheint auch bestimmten – von den Idealen der Identitätspolitik beherrschten – Formen der „political correctness“ zugrunde zu liegen. Gemeint sind nicht zivilisatorische Selbstverständlichkeiten, wie etwa die Regel, niemanden als „Neger“ oder „Zigeuner“ zu beschimpfen, sondern jenes Konzept von Politik, das die komplexe Wechselbeziehung zwischen Sprache und Herrschaft ausblendet. Und politisches Handeln auf die Reglementierung des Sprechens reduziert. Als würde Sprache – unvermittelt – Realität erzeugen. Als gäbe es keinen stummen Zwang der ökonomischen und politischen Verhältnisse. Und als würden die Herrschenden nicht herrschen, weil sie herrschen – sondern  weil sie sprechen. Das ist aber noch einmal eine andere Geschichte.

Dienstag, 16. Oktober 2018

Zizek in Teheran 171


Die von den Komplikationen betroffenen werden Vagrants genannt. Und wandern von Ort zu Ort, wie der Name schon sagt. 

Nichts gibt so sehr das Gefühl der Unendlichkeit 

Als wie die Erregung
Die ich empfand
Als mich Danesch
Zu der Mittwochsrunde einlud. 

Worum geht es in dieser Runde eigentlich? 

Und als er sagte 

Wir wollen
Unser Teheran zurück 

Erinnerte er mich
Auf einmal
An 

Osymandias.

Osymandias
Ist die von Diodoros, dem Sizilianer 
gräzisierte – also griechisierte – Version
Des sogenannten Thronnamens
Des Pharaos Ramses des II.
Berühmt durch das Gedicht
Gleichen Namens
Von Percy Bysshe Shelley 

I met a traveller from an antique land
Who said: – Two vast and trunkless legs of stone
Stand in the desert ... Near them on the sand,
Half sunk, a shattered visage lies, whose frown,
And wrinkled lip, and sneer of cold command
Tell that its sculptor well those passions read ... 

Das alles wußte ich
Als Danesch
Mich damals
In der Cafeteria
Auf einmal
An Osymandias erinnerte
Natürlich noch nicht

Später beichtete ich 

Sie erinnern mich an Osymandias 

Woraufhin er das von Shelley und Ramses usw. erzählte
Was ich bald darauf wieder vergaß
Und vorhin auf Wikipedia nachgeschaut habe.

Der Osymandias
An den Danesch
In der Cafeteria
Mich 
Auf einmal 
Erinnerte
Ist nämlich ein anderer.
Nämlich der
Von den 

Weißen Bergen 

Dem Buch
Ich meine: Dem Buch
Meiner Kindheit.
In den Weißen Bergen 
(Dem ersten Teil
Der Trilogie 

The Tripods 

Des Science-Fiction-Autors 

John Christopher)

Gibt es Passagen
An die ich mich besser erinnere
Als an manch
Ein wirkliches
Ereignis
Der Kindheit.

Das ist
Aber nicht alles
LeserIn:
Manchmal
Habe ich
Das Gefühl
Jene Passagen
Sind nicht bloß Passagen
In einem Science-Fiction-Roman
Für Halbwüchsige
Sondern: Daß sie tatsächlich passiert sind.

Seltsamerweise
Verbindet mich das
Mit dem vierzigsten Präsidenten
Der Vereinigten Staaten
Der im Präsidentschaftswahlkampf

1980

Mehrmals
Und unter Tränen
Behauptete
Er hätte
Im Zweiten Weltkrieg
Als Fallschirmjäger
Erlebt
Daß der Pilot
Seiner Maschine
Nachdem sie getroffen worden war
Die Besatzung aufforderte
Abzuspringen.
Ein junger Schütze
Konnte aber nicht
Weil er schwer verletzt war
Woraufhin der Pilot
Sich zu ihm setzte
Seine Hand hielt
Und sagte 
Machts nichts Junge
Dann bringen wir die Kiste
Gemeinsam runter. 

Posthum sei ihm
Die Ehrenmedaille des Kongresses
Verliehen worden.

Recherchen
Investigativer
Journalisten
Ergaben dann aber
Daß Reagan das alles
Nicht erlebt haben konnte.
Daß es sich vielmehr um eine Szene
Des Films 

A Wing and A Prayer 

https://www.youtube.com/watch?v=5hhaTgO6Cmo 

Handelte. 

The White Mountains 
Erzählen von einer Zukunft
In der die 
Tripods
Riesenhafte
Dreibeinige
Roboterartige
Bewohner eines fernen Planeten
Die Erde erobert
Und die Menschheit versklavt haben.
Damit niemand
Vom Pfad
Des Gehorsams
Gegenüber den Tripods
Abweicht
Wird den Menschen im Alter von dreizehn
Oder vierzehn
Ich weiß es nicht mehr
Die sogenannte 

Kappe 

aufgesetzt
Ein Metallimplantat
In der Kopfhaut
Das das Gehirn kontrolliert
Und Neugier und Kreativität
Abtötet.

Mitunter ist
Das Implantieren
Der Kappe
Mit ernsthaften
Komplikationen verbunden
Sprich mit Gehirnschäden.
Die von diesen Komplikationen betroffenen
Werden 

Vagrants 

Genannt
Also Vagabunden.
Und wandern
Wie der Name schon sagt
Von Ort zu Ort. 

Will Parker 

Dreizehnjähriger
Protagonist
Der Weißen Berge 
Begegnet
Einige wenige Monate
Vor seiner Initiation
Durch die Kappe
Einem geheimnisvollen älteren Mann
Scheinbar Vagabund
In Wahrheit aber
Agent
Der Widerstandsbewegung gegen die Tripods.

Sein Name ist 
Osymandias.

Osymandias erzählt Will
Von den Weißen Bergen 
Dem letzten Nest des Widerstands
Gegen die Außerirdischen
Und verführt ihn dazu
Vor seiner Weihe
Durch die Kappe
Aus seinem Dorf
Dem – imaginären – 
Wherton 
In England
Zu fliehen
Um sich in den Weißen Bergen 
Im Süden
Dem Kampf
Gegen die Tripods
Und für die Befreiung
Der Erde
Anzuschließen.

Danesch erinnerte mich also
An Osymandias. 

wird fortgesetzt

Donnerstag, 11. Oktober 2018

Achte Folge der Radiokolumne "Im Bus mit Sama Maani"


"Gott gehört vielleicht der NSDAP an ..."
„Gott“, sagt der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki zu Beginn einer Doku, die ich mir im Bus, im Smartphone, ansehe, „Gott ist eine literarische Erfindung. Es gibt keinen Gott.“ Und dann: „Wenn ich damals, unter den Nazis, von Gott hörte, hatte ich den Verdacht, Gott gehört vielleicht der NSDAP an. Denn er unterstützt alles, was die Nazis machen. Vieles gelingt ihnen. Was glauben Sie, was das für ein Erlebnis war, die Nachricht, dass die Nazis Paris erobert haben“.

Die Blicke des sympathischen, älteren Herrn vis à vis, der mir bekannt vorkommt, zeigen, dass irgendetwas nicht stimmt. Na klar. Mein Smartphone ist zu laut eingestellt, was ich – mit den Kopfhörern im Ohr – nicht mitbekommen konnte – er hat wohl alles mitgehört, und sein Blick signalisiert alles andere als Zustimmung.

„Früher“, sagte der Religionslehrer im Gymnasium in Graz, den wir, seiner Streitlust wegen, Don Camillo nannten, „früher war der Sex tabu – heute die Religion“. „Heute“, fuhr Don Camillo fort, „können Sie alles sein: Anarchist, Kommunist, Terrorist, Sadist, Masochist – aber sagen Sie einmal: Ich bin fromm“.

Don Camillo hatte recht. Heute scheint Religion aber in einem anderen Sinn tabu zu sein, als damals in den Achtziger Jahren. Tabu nicht mehr im Sinn von: unmöglich, weil hoffnungslos veraltet – sondern im Sinn von: unantastbar, weil heilig.

Die Worte „Gott ist eine literarische Erfindung“ an den Anfang dieser Kolumne zu setzen, erfüllte mich dementsprechend mit Scham. So wie mich das Bekenntnis: „Ich bin Atheist“ mit Scham erfüllt – oder der Gedanke, dass er – der Herr vis à vis – jedes Wort des verstorbenen, gottlosen Literaturkritikers mitgehört haben könnte.

Er, der auf einmal aufsteht – und den ich wiedererkenne. Den sympathischen, ein wenig verwahrlosten, älteren Herrn, dem ich, lang lang ist’s her, hier, im 13 A, häufig begegnete. Jedesmal war er – irgendwann – auf einmal aufgestanden um, so wie jetzt, ohne Vorwarnung eine Predigt zu halten. Ein Buß- und Busprediger mit ungarischem Akzent.

„Wo viele Gottlose sind“, sagt die unverändert sanfte Stimme in einer Art Sprechgesang, „da – ist viel Sünde ... Wo keine Offenbarung ist, wird das Volk wild und wüst. Wohl dem, der auf das Gesetz achtet!“

Meine Scham verdoppelt sich – um eine gute Portion Fremdscham. Fremdscham ist aber auch den anderen Fahrgästen ins Gesicht geschrieben. Als seien wir alle Zeugen eines höchst anstößigen Aktes.

Ich muss das eben gefällte Urteil revidieren. Tabu ist heute sowohl ein offenes Bekenntnis zur Religion – als auch gegen sie.

Sonntag, 30. September 2018

Zizek in Teheran 170


"Dem dauergrantigen, bier- und tierernsten Führer der Revolution des Isalm"
Oder aber ...
Er ist ein Hirngespinst
Aber nicht
Ein Hirngespinst des Übersetzers
Sondern ein Hirngespinst
Von mir

Aber ich kann doch
Nicht ernsthaft behaupten
Ich hätte mir
Den Analytiker
Nur eingebildet
Ich bin bei ihm
Auf der Couch gelegen
In diesem ...
Nicht Container, sondern 

Portacamp. 

In Portacamps
Sprich in bungalowförmigen Containern
Waren die Klassenzimmer
Der 

Deutschen Schule Teheran 

Untergebracht.
Die Deutsche Schule
Besuchte Narges
Unter dem Kaiser
Ihre Mutter ist
Wie gesagt Deutsche
Bis zu dem Trauma
Lang
Lang ist’s her
Lange bevor ich sie kennen- und lieben usw. gelernt hatte.

Dennoch aber: 

Das Trauma in dir
Tötet die Liebe in mir 

Wie wunderte ich mich
Als die Recherchen
Die geheimdienstlichen
Die ich in Auftrag gegeben
Ergaben:
Auch der Analytiker
Hatte die Deutsche Schule besucht
Als Kind
Und als Halbwüchsiger
Bevor er mit den Eltern
Nach Graz emigrierte
Mehr noch
Er und Narges waren
Klassenkollegen.

Wie ich es
Geschafft haben soll
Die Geheimdienste der Islamischen
Republik
Dazu zu bewegen
Die Whereabouts des Analytikers für mich
Zu recherchieren?

Frag doch erst 
Warum mich die Whereabouts des Analytikers
Überhaupt interessierten.
Letzteres hat mit meinem
Schon erwähnten
Status als 

Umstürzler 

Zu tun
Der wahre Grund
Meiner Zusammenarbeit
Mit den Geheimdiensten
Wie gesagt
Warum Umstürzler
Mit dem Geheimdienst
Des umzustürzenden
Regimes
Zusammenarbeiten
Ist klar
Oder?
Wegen des Zugangs
Zu Informationen
Und der Möglichkeit
Den Geheimdienst
Und durch den Geheimdienst
Das Regime
Zu manipulieren.

Warum ich überhaupt Umstürzler wurde?

Ich könnte sagen
Wie kann jemand in der Islamischen Republik hier
leben
Und nicht Umstürzler sein
(Und es gibt im ganzen Teheran tatsächlich
niemanden, der nicht Umstürzler wäre
(Oder es irgendwann nach der Machtübernahme des
Islam nicht geworden wäre)).
Aber ich weiß
Was du meinst
Wie es kam 
Daß ich Umstürzler wurde.

Der im folgenden Danesch genannte 

Babak Danesch-Arani 

Historiker
Philosoph
Und wahrscheinlich der beste Freund meines Vaters
War Umstürzler der ersten Stunde
Damals
Als noch alle –
Die Milizen und Fraktionen und Parteien der Linken
Die Liberalen
Und die Pan-Teheranisten 
Und leider auch die Feministen
Dem 

K1 

Huldigten
Dem
Dauergrantigen
Bier-
Und
Tierernsten
Führer der Revolution
Des Islam
Schon damals
War
Und wetterte Danesch
Gegen die Machtergreifung
Des Islam.

Versteh mich nicht falsch
Auch ich
Als Halbwüchsiger
War damals
Während der Revolution des Islam
Gegen die Macht des Islam.

Aber Danesch meinte
Eines abends
Jahre später
In der Cafeteria
Des alten Flughafens von Teheran: 

Es gibt nix Gutes. 

Beachte den Punkt nach Gutes LeserIn. 

Es gibt nix Gutes.
Außer: Man tut es 

Und ja
Auch dieser Spruch stammt aus einem
Der illustren
Deutschen Bücher der Narges
Aus keinem Kinderbuch allerdings
Sondern es handelt sich um ein Gedicht
Für Erwachsene
Aus der Feder eines Kinderbuchautors
Namens Kästner.

Als Vater
Einige
Wenige
Jahre nach der Revolution
Des Islam
Nach Bombay flog
Um zu bleiben
Verabschiedete ich mich
Von ihm
Zusammen
Mit Danesch
Am alten Flughafen
Von Teheran

Vom alten Flughafen zu sprechen
Ist irreführend
Du denkst wohl
Der Alte sei
Altvaterisch
Und der neue – nach K1 benannte –
Modern.

In Wahrheit ist und war der alte
Im wahrsten Sinnes des Wortes modern
Und stylish (aber inzwischen verwahrlost)
Wohingegen der neue
Nach K1 benannte
Selbst bei wohlwollender Beurteilung
An das 

Citypark Shopping Center 

In Graz
Erinnert
(Unmittelbar nach der Überschwemmung).

Wie auch immer.
Nach der Verabschiedung
Und dem Abflug
Des Vaters
Waren wir beide aufgekratzt 
Statt bekümmert
Und beschlossen
In der schönen, berühmten Cafeteria
Des alten Teheraner Flughafens
Kurz Kaffee zu trinken

Diese
Cafeteria hat Welt 
Sagte Danesch 

In Kafeteria Monde-sch balas 

Das
Hatte er früher
Auch schon gesagt
Oder hatte Vater erzählt
Daß Danesch
Am Nachmittag oft
Zum Flughafen fährt
Weil der Flughafen Welt hat
(Und von der Cafeteria aus
Den Flugzeugen
Beim Landen
Und beim Abheben zuschaut)?

Wir wollten

– Kurz – Kaffee trinken
Bleiben aber bis es Abend wird
Und als wir auf die Lichter
Der Landebahnen schauen
Der Start- und Landebahnen
Grün, weiß, rot
Und der Flugzeuge
Sagt Danesch 

Teheran ist ein besetztes Land 

Und schaut mich
Wie soll ich sagen 
Bedeutsam an.

Die Islamischen
MachthaberInnen
Hatten damals
Begonnen
Die Opposition
Und die Oppositionellen
Als Gefahr für den Fortbestand
Und die Einheit
Des ganzen Teheran
Zu bezeichnen
Und als Verbündete Washingtons und vor allem
Tel Avivs.

Danesch meinte
Die Islamischen
Würden auf Teheran
In Wahrheit scheißen
Und den Nationalismus Teherans bloß nützen
Um die Opposition
Zu zermalmen

In Wahrheit sei der Islam
Eine fremde Macht
Und hätte unser Teheran besetzt.

Ich stimmte zu
(Darin daß der Islam ein Besatzung sei)
Daß er unser Teheran sagte
Irritierte mich aber

Und zwar sehr

Dachte Danesch
Würde
Wie Vater
Und ich
Auf den Teheraner
Nationalismus
Scheißen
Auf den Teheraner
Und jedweden anderen
Sagte aber nichts

Witzig
Daß mir
Jetzt
Im Nachhinein
Nur dieses 

Unser Teheran 

Einfällt
Ich meine als erstes.
Dabei faszinierte
Und begeisterte mich
Danesch
Vor und nach dem Kaffee
In der Cafeteria des alten Teheraner Flughafens
Und fasziniert und begeistert mich noch immer.
Immens anstrengend ist es aber
Ihm zuzuhören
Wenn ich was frage
Und ich frage immer was 
Spannt er den Bogen so weit 
Daß ich nicht mehr weiß
Was die Frage überhaupt war
Er aber weiß es
Und kommt
Irgendwann
Wie weit der gespannte Bogen auch sein mag
Wieder
Auf die Frage zurück.
In der Sprache Teherans
Heißt Danesch
Wissen. 

Der Polyhistor Friedrich Eckstein, schreibt Friedrich Torberg, war der berühmteste der Stammgäste des Café Imperial … Autor einer leider verschollenen Bruckner-Monographie mit dem schönen Titel ‚Der Weltgeist an der Orgel‘, enorm belesen und enorm gebildet, stand ... Eckstein im Ruf, einfach alles zu wissen. Es gab keine Frage, die er nicht unverzüglich beantworten konnte, ja manchmal nahm er die Antwort ahnungsvoll und kenntnisreich vorweg, ohne die Frage abzuwarten. Man raunte sich zu, daß der große Brockhaus, wenn er etwas nicht wußte, heimlich aufstand und im Eckstein nachsah. Als einmal die Presse eine Meldung brachte, in der von einem neuen Werk des Dichters Kun-Han-Su die Rede war, konnte Eckstein seinen fragenden Jüngern sofort mit genauen Auskünften über das Schaffen dieses bedeutenden chinesischen Lyrikers aufwarten, der als einziger versuchte, eine unter den letzten Kaisern der Ming-Dynastie zur Hochblüte gelangte Versform wieder zu beleben. Zwar stellte sich am nächsten Tag heraus, daß es sich bei Kun-Han-Su lediglich um einen telegraphischen Übermittlungsfehler von Knut Hamsun (des norwegischen Schriftstellers), handelte, aber Friedrich Eckstein hatte wieder einmal alles gewußt, und man respektierte ihn so sehr, daß man geneigt war, auch weiterhin an die Existenz eines chinesischen Lyrikers namens Kun-Han-Su zu glauben. 

(Diesen Eckstein 
Kennt heute kein 
Schwein 
(Und schon wieder der Reimzwang)
Damals kannten ihn aber alle
Im gebildeten Wien
Des Fin de Siècle
Er war eine
Nein 
Die 
Zentralfigur dieses
Wiens des Fin de Siècle
Aber seine Schwester kennen heute
Zwar auch nicht alle
Aber alle
Mit der Psychoanalyse
Vertrauten
Sie ist die Irma
Von Freuds
Traum 

Irmas Injektion.

Aber
Woher weiß ich das alles?
Aus einem der illustren Bücher der ...
Nein?
Oder?)

Wir schauen
Auf die Lichtsignale
Grün, weiß, rot
Der Landebahnen
Danesch ist
Gerade dabei
Die Antwort
Auf meine Frage
Warum die Väter
In der Mythologie der Teheraner
Die Söhne töten
Hingegen bei den Griechen
Ödipus seinen Vater
Zu Ende zu führen
Da
Als folgte er
Einem Impuls
Fängt er an
Von einer Runde 
Zu reden

Junge
Frauen und Männer
Die sich
Mittwochs
In der Cafeteria des Flughafens
Mit ihm treffen. 

Nichts gibt so sehr das Gefühl der Unendlichkeit als wie die Dummheit 

Sagt Ödon
Von Horvath
Ich aber sage 

Nichts gibt so sehr das Gefühl der Unendlichkeit 

Als wie die Erregung
Die ich empfand
Als Danesch mich
Einlud
Zu seiner Mittwochsrunde zu stoßen. 

Worum geht es in dieser Runde?

Wir wollen
Unser
Teheran zurück 

Sagt Danesch 

wird fortgesetzt