Samstag, 3. November 2018

Teheran Wunderland oder die Krux mit der Migrantenliteratur (DER STANDARD, ALBUM, 3. November 2018)


Jetzt, im Bus, hatte ich die Gelegenheit, mich eines Besseren belehren zu lassen
Vor Jahren behauptete ein beliebter Kinderbuchautor bei einer Lesung in Wien, es gäbe für einen Schriftsteller nichts beglückenderes als die zufällige Begegnung mit jemandem, der gerade ein von ihm verfasstes Buch lese. Das wunderte mich. Würde mir doch, gefragt nach dem schönsten denkmöglichen Erlebnis eines Autors, manch anderes einfallen. Von der glücklichen Fertigstellung eines Romans bis zum Nobelpreis. 

Eine Begegnung im Bus 

Jetzt, im Bus, hätte ich die Gelegenheit, mich eines besseren belehren zu lassen. Die junge Frau vis à vis, Typus deutsche Studentin der Germanistik, hält meinen neuen Roman, Teheran Wunderland, in der Hand, in dem die Geschichte der Revolution in Teheran als tragisch-surreale Farce erzählt wird („Teheran“ steht für ein imaginäres Land, das mit dem real existierenden Iran manches gemein hat, mit diesem aber nicht ident ist). Bevor ich es schaffe, die Frage, ob diese Begegnung beglückender wirken mag als der Nobelpreis, zu Ende zu denken, merke ich, dass sie meine Blicke erwidert.
„Sind Sie der ... Sama Maani?“
„Ja“, sage ich erwartungsvoll und verlegen.
„Okay“, sagt sie. Und wendet sich wieder dem Buch zu.
Eine Zeit lang sehe ich sie verstohlen – und weiterhin erwartungsvoll – an. Bis sie auf einmal den Kopf schüttelt, mich seltsam-vorwurfsvoll anschaut und mir eine Stelle meines Buches vorzulesen beginnt. 

„Wir sind Teheran – und nicht in Berlin“ 

Es handelt sich, das sei vorausgeschickt, um das Gedicht eines jungen, linken Poeten im fiktiven revolutionären Teheran der Siebziger Jahre. Als ihn „sein Mädchen“ wegen des Sohnes eines Wurstfabrikanten, des Klassenfeindes also, verläßt, warnt er die Teheraner Männer – vor ihren Frauen: 

Versuche sie also nicht zu verstehen/Wie soll das auch gehen/Sie versteht sich ja selbst nicht/Und bevor sie dich bricht/Komm zu Verstand/Und nimm ihr bitte das Heft aus der Hand/Du musst sie bezwingen/Du musst sie erzieh’n/Wir sind in Teheran/Und nicht in Berlin. 

„Das ist doch“, sagt die deutsche Studentin, die dem Akzent nach doch keine Deutsche zu sein scheint, sondern Wienerin, „das ist doch – frauenfeindlich!“ Ich bin verdutzt. Einer Germanistikstudentin hätte ich mehr Kompetenz im Umgang mit literarischen Texten zugetraut.
„Klar“, sage ich, „Es handelt sich ja um das Gedicht eines jungen, narzisstisch gekränkten, revolutionären Machos – der die Rechnung für sein Machotum dann auch präsentiert bekommt: Er, der gerne der Chefpoet der proletarischen Revolution sein möchte, wird über Nacht zum Lieblingsdichter der religiösen Faschisten, die sein Gedicht in den Straßen skandieren und die – , ich unterbreche mich, um nicht mehr zu verraten und zücke, einem Impuls folgend, ein Flugblatt aus der Tasche.
„Sie haben doch sicher von den Protesten der Frauen im Iran gegen den Kopftuchzwang gehört. Morgen findet am Stephansplatz eine Solidaritätskundgebung statt. Vielleicht möchten Sie –“
„Ich ... weiß nicht. Wenn wir hier gegen den Kopftuchzwang im Iran demonstrieren, wäre das nicht eine kolonialistische Bevormundung der Frauen dort? Die haben doch eine andere Kultur und – Ui! Hab vergessen, den Fahrschein zu entwerten“, sagt es, springt auf und versucht sich durch eine Gruppe von Schülern zum Entwerter durchzukämpfen. 

„Jetzt verstehe ich endlich, was ich sagen wollte!“ 

Literatur, so ein mögliches Resümee dieser Begegnung im Bus, kann missverstanden werden. Und missverstandene Literatur kann – potentiell  beglückende – Begegnungen verderben. Gemeint ist natürlich nicht, dass LeserInnen Texte mitunter anders interpretieren als deren AutorInnen. Diese Art „Missverständnis“ kann, im Gegenteil, oft beglückend wirken. Hegel, so die Anekdote, soll nach der Lektüre der französischen Übersetzung seiner „Phänomenologie des Geistes“, ausgerufen haben: „Jetzt verstehe ich endlich, was ich sagen wollte!“
Gemeint ist auch nicht, dass die Leserin in unserer Busepisode zwischen den Positionen des Autors, des Erzählers und der Figuren eines Romans nicht zu unterscheiden wüsste. Dieser Unterschiede sei sie sich, wie sie im weiteren Verlauf unserer Begegnung versicherte, durchaus bewußt. Weil aber der Autor des Romans aus einer patriarchalen Kultur stamme, hätte sie angenommen, dass das Gedicht dessen eigene Position wiedergebe.
Das wunderte mich. So wie es mich wunderte, dass sie, die eben gegen jenes frauenfeindliche Gedicht protestiert hatte, die Solidarität mit den Frauen im Iran, mit dem Hinweis auf deren „andere Kultur“, ablehnte. Zumal sie – im erwähnten weiteren Verlauf des Gesprächs – die Betonung der Differenz zwischen „unserer Kultur“ und der des Iran mit ihrer antirassistischen Haltung begründete. Und mit ihrer Weltoffenheit. 

Weltoffenheit gestern und heute 

Noch vor wenigen Jahrzehnten bedeutete Weltoffenheit gegenüber Fremden, dass man ihnen signalisierte, sie seien ungeachtet ihrer Herkunft und „ihrer Kultur“ in unserer Gesellschaft willkommen. Fremdenfeindliche Ressentiments hingegen waren stets mit der Betonung der Herkunft der Angefeindeten verknüpft. Heute scheinen aber auch Weltoffene, wenn es um Fremde geht, nicht ohne ausdrückliche Betonung von deren Zugehörigkeit zu einer „anderen Kultur“ auszukommen. Diese „anderen Kulturen“ – und nicht die Individuen, die ihnen subsummiert werden – sollten wir, so die Devise dieser neuen Weltoffenheit respektieren.
Die Vorstellung, dass Fremde in erster Linie „ihre Kultur“ (zu) repräsentieren (haben) – und dann lange nichts – gilt häufig auch für deren literarische Produktion. Ausschlaggebend für deren Beurteilung sind dann nicht inhaltliche oder formale Kriterien der Literatur, sondern die Frage, was sie uns über „ihre Kultur“ oder die Begegnung „ihrer Kultur“ mit „unserer“ sagen mögen, und wie „authentisch“ sie dies tun. Stichwort: „Migrantenliteratur“. 

Migrantenphilosophie 

Ich hatte mich immer gefragt, warum wir ganz selbstverständlich von Migrantenliteratur reden, nicht aber – zum Beispiel – von „Migrantenphilosophie“. Bis mir mein Freund, der brillante deutsch-indische Philosoph Pravu Mazumdar von der folgenden und anderen, ähnlichen Reaktionen auf sein erstes Buch über Foucault erzählte: „Sie kommen aus Indien? Welch wunderbare Kultur! Warum schreiben’s dann über einen französischen Philosophen? Schreiben’s doch über Indien!“
Pravu Mazumdar, dem Angehörigen der „wunderbaren indischen Kultur“, wurde mit anderen Worten das Recht abgesprochen, auch noch etwas anderes zu sein als Angehöriger „seiner Kultur“, etwa ein Kenner der französischen Philosophie. Hier würden jene weltoffenen Kritiker meines Freundes aber widersprechen. Sie seien schließlich keine Rassisten, sondern Bewunderer „fremder Kulturen“. Seltsam aber, dass es kaum jemadem einfallen würde, einem französischen Autor, der ein Buch über indische Philosophie veröffentlicht, zuzurufen: „Sie kommen aus Frankreich? Welch wunderbare Kultur! Warum beschäftigen Sie sich dann mit Indien? Schreiben’s doch über Frankreich!“
Die Rede von Migrantenliteratur, von „eigener“ und „fremder Kultur“ sowie der Wunsch, Mazumdar möge nicht über französische Philosophie, sondern über „seine wunderbare indische Kultur“ schreiben, ist typisch für den Diskurs der Identitätspolitik, der seit den 1970er Jahren die gesellschaftlichen und kulturellen Debatten zunehmend beherrscht. Ein Diskurs, in dem die Gesellschaft durch unauflösliche Differenzen kollektiver „kultureller Identitäten“ geprägt scheint. Unterschiede oder Widersprüche zwischen verschiedenen sozialen Klassen ein und derselben „Kultur“ oder den Individuen und „ihrer“ Kultur haben in diesem Diskurs keinen Platz. 

Jedem Stamm seine Bräuche 

Diese Eliminierung eigenständiger Individuen aus dem Diskurs, ihre Auflösung in „ihrer“ Kultur, mit der sie identifiziert werden und mit der sie sich häufig auch selbst identifizieren, erinnert an die Lebens- und Gedankenwelt archaischer Stammesgesellschaften (genauer: an unsere Vorstellung von der Gedankenwelt jener Gesellschaften), wo jeder Stammesangehörige seinen Platz und jeder Stamm seine Bräuche hat.  
Freud spricht in diesem Zusammenhang vom Prinzip der „Allmacht der Gedanken“: In dieser Welt kann ein böser Gedanke oder eine Verwünschung einen Feind töten, eine Formel den Regen herbeizaubern, Krankheiten heilen etc. Dieses magische Denken scheint auch bestimmten – von den Idealen der Identitätspolitik beherrschten – Formen der „political correctness“ zugrunde zu liegen. Gemeint sind nicht zivilisatorische Selbstverständlichkeiten, wie etwa die Regel, niemanden als „Neger“ oder „Zigeuner“ zu beschimpfen, sondern jenes Konzept von Politik, das die komplexe Wechselbeziehung zwischen Sprache und Herrschaft ausblendet. Und politisches Handeln auf die Reglementierung des Sprechens reduziert. Als würde Sprache – unvermittelt – Realität erzeugen. Als gäbe es keinen stummen Zwang der ökonomischen und politischen Verhältnisse. Und als würden die Herrschenden nicht herrschen, weil sie herrschen – sondern  weil sie sprechen. Das ist aber noch einmal eine andere Geschichte.