Sonntag, 28. Oktober 2012

Zizek in Teheran (14)

Wir haben kein Stiegenhaus und kein Vorzimmer passiert und betreten das gemütlichste Wohnzimmer der Welt. Dessen Ende verliert sich im Dunkeln. Feauteuils, aus denen man sich nicht mehr erhebt. Wie im viktorianischen England. Dicke Teppiche und unendlich viele Bücher. Endlich. Aber altehrwürdige, die man nicht anfassen will. Als seien auch sie bloß Fassade.

Wir haben Glück, sagt Schirin, ihre Kommilitonin ist längst nicht mehr da, und deutet auf ein islamisches Mädchen, das sich aus einem Feauteuil gerade erhebt, man kann also doch, sich eine Trockenhaube vom Kopf nimmt, und sie auf einen Beistelltisch stellt. Aus den 70er Jahren.

Das Mädchen verläßt, mit einem sehr roten, zufriedenen Gesicht, das Haus des Vergessens, ganz ohne Kopftuch, um nicht zu sagen ganz glücklich.

Wir sind allein.

Schirin nimmt die Trockenhaube vom Tisch und beginnt:

„Das Internat Islamischer Mädchen ist eines der besten Internate für Islamische Mädchen in Teheran. Es gibt die Direktorin und die Vizedirektorin. Unsere Mädchen stammen aus wohlhabenden islamischen Häusern. Entsprechend hoch ist das Schulgeld, und unser Budget. Dazu kommen die Spenden. Nur reiche Schulen erhalten reichliche Spenden. Nicht die Armen. Die müssen schauen, wo sie bleiben. Wäre es anders, würden die Armen ja immer reicher.

Auch unserer Internats-Bibliotheken haben hohe Budgets. Das höchste hat die Bibliothek der in der Sprache Teherans verfaßten Bücher. Wo wir uns befinden“.

Ich schaue mich um.

„Die Bibliothek der in der Sprache Teherans verfaßten Bücher unseres Internats Islamischer Mädchen", sagt Schirin, "hat das höchste Budget aller Bibliotheken der in der Sprache Teherans verfaßten Bücher der Welt. Es gibt die Direktorin und die Vizedirektorin. Die Vizedirektorin macht die Statistik. Die meisten unserer islamischen Mädchen, sagte die Statistik, entlehnen immer die selben drei oder vier Bücher. Viele immer nur ein und das selbe.
Der Direktorin machte das Sorgen. Um die Lesegewohnheiten der Mädchen zu ändern, produzierte die Vize ein Maßnahmenpaket nach dem anderen. Alles vergebens.

Eines Tages änderte sich alles.

Warum lesen wir Bücher?, fragte die Vizedirektorin.

Wegen der Bildung, sagte die Direktorin.

Nein, sagte die Vize. Ihre Augen strahlten und änderten ihre Farbe. Von grau oder blau auf grün. Nein, sagte die Vizedirektorin, Wir lesen, um zu genießen.

Die erste Lektüre eines Buches“, sagte jetzt nicht die Vizedirektorin, sondern Schirin, das islamische Mädchen, „bringt uns den größten Genuß. Aber die zweite Lektüre ist nicht die Wiederholung der ersten. Sie können, wenn Sie ein Buch ein zweites Mal lesen, den Genuß der ersten Lektüre nicht wiederholen. Schon deshalb, weil jede zweite Lektüre die Erinnerung an die erste enthält, was der ersten Lektüre natürlich fehlt. So können sich erste und zweite Lektüre niemals gleichen. Wollen Sie den Genuß der ersten Lektüre wiederholen, wenn Sie ein Buch das zweite Mal lesen, müssen Sie die erste Lektüre vergessen. Ohne Vergessen keine Wiederholung.

Die Direktorin und die Vizedirektorin beschlossen, die islamischen Mädchen, die immer wieder die selben Bücher entlehnen, in die Lage zu versetzen, den Genuß der ersten Lektüre zu wiederholen. Deshalb gibt es Das Haus des Vergessens in der Bibliothek der in der Sprache Teherans verfaßten Bücher unseres Internats Islamischer Mädchen.“

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Sonntag, 14. Oktober 2012

Zizek in Teheran (13)

August Macke, Hutladen

Aus den Vitrinen (also doch kein Mittelalter) und Fenstern, dringt grünes und oranges Licht. Sowie rosa. Die Sterne, am Himmel sind gelb, und flackern nicht.

In dieser Bibliothek ist es still, die keine Bibliothek ist, sondern eine Bühne, aber nicht mucksmäuschen, und herrscht eine Nacht, die glaubt man zu riechen. Aber nicht die Nacht der Natur. Sondern Molton und künstliches Licht.

Wir, die Mädchen und ich, verteilen uns auf dem Haupt- bzw. Marktplatz der Kleinstadt. Ich weiß die Mädchen in meiner Nähe, aber sie sind keine Nebenmenschen, die stören würden, sondern angenehme Gestalten. Meiner Phantasie.

behescht an-jast k’asari nabaschad
kassi ra ba kasi kari nabaschad

Freiheit
Gleichheit
Gleichgültigkeit.

So schauts aus.
Das Paradies.

Ich oder wir stehen vor der Haustür eines dreistöckigen Hauses. Ist es eine Fassade? Zu beiden Seiten des Eingangs das gelbe Licht der Vitrinen, definitiv kein Mittelater, eines Hutladens, aber das interessiert mich nicht.

Daß die Bibliothek keine Bibliothek ist, erinnert mich an einen Witz, über Teheran, in dem Toilettenanlagen, Bethäuser, die Universität, Toilettenanlagen, Studenten, das Gefängnis, Toilettenanlagen und die Regierung vorkommen. Ich weiß. Du sollst in der Literatur keine Witze erzählen. Aber was ist (schon) Literatur?

Wo sind die Bücher?, will ich fragen. Da höre ich Schirin, die kennt meine Gedanken: Das ist Das Haus des Vergessens. Kommen Sie. Und wir betreten Das Haus des Vergessens der Bibliothek der in der Sprache Teherans verfaßten Bücher des Internats Islamischer Mädchen.

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Sonntag, 7. Oktober 2012

Zizek in Teheran (12)

Ich erröte, und wir betreten das Areal der Deutschen Schule. Sobald wir das Tor passieren, biegen die Mädchen nach links. Dort ist das Häuschen der Bibliothek der in der Sprache Teherans verfaßten Bücher. Noch immer. Wobei nicht nur die in der Sprache Teherans verfaßten, sondern auch die in die Sprache Teherans übersetzten Bücher gemeint sind, wie Die Nonne. Ich will den islamischen Mädchen natürlich folgen, aber meine Blicke. Wollen nach rechts. Hinter den Portacamps ist noch immer die Hecke. Unser Lager war im Zwischenraum zwischen Hecke und Mauer. Narges war unser Opfer. Die Narzisse.

Wie auch immer. Ich folge den Mädchen. Will sagen: Ich folge den Mädchen. Wie immer. Nach links. Natürlich hat sich auch dort nichts geändert. Nur der Rahmen des Fensters an der Längsseite des länglichen Häuschens der Bibliothek der in der Sprache Teherans verfaßten Bücher, eines Ziegelsteinbaus. Ist jetzt rot. Ein Transparentpapier hängt im Fenster, auf dem etwas geschrieben zu sein scheint, und verdeckt es zur Gänze. Der Text, wenn es denn einer ist, wird von farbigen Rechtecken, vermutlich Fotografien, unterbrochen.

Ich folge den Mädchen, oder sagen wir: Besagte Schirin u./o. ihre Kommilitonin nehmen meine Hand und führen mich in das Häuschen der Bibliothek der in der Sprache Teherans verfaßten Bücher des Internats Islamischer Mädchen. Aber weder betreten wir eine Bibliothek. Noch ist es ein Häuschen. Auch wenn es von außen gesehen natürlich eines ist. Werter Leser! Nachdem wir die Türe des Häuschens der Bibliothek der in der Sprache Teherans verfaßten Bücher des Internats Islamischer Mädchen passiert haben, befinden wir uns auf dem Haupt- oder Marktplatz einer Kleinstadt. Es könnte Graz sein. Ist es aber nicht. Draußen ist ja, oder war gerade, helllichter Tag, hier später Abend.

Spannend, nicht wahr?

Bei genauer Betrachtung befinden wir uns auf dem Bühnenbild eines Theaters. Einer Märchenbühne. Oder in einer, allerdings ungewöhnlich großen, Nische einer Märchengrottenbahn. Nicht nur sind wir an einem fremden Ort, sondern wir befinden uns in einer anderen Zeit, werter Leser. Wie bei den Texten des Gefängnisarztes. Aber - in welcher Zeit befinden wir uns? Ist es ein Haupt- oder Marktplatz des Mittelalters? Oder des Neunzehnten Jahrhunderts? Oder ein Haupt- oder Marktplatz des Mittelalters mit den Augen des Neunzehnten Jahrhunderts betrachtet?

Gepflastert jedenfalls. Aus den Vitrinen (also doch kein Mittelalter) und Fenstern, dringt grünes und oranges Licht. Sowie rosa . Die Sterne,  am Himmel, Theaterhimmel oder  Himmel über der Märchengrottenbahn, sind gelb und flackern nicht.

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