Sonntag, 21. Juni 2009

Nachts, über den Dächern von Teheran


In den 70er Jahren, als ich mit den Eltern von Deutschland nach Teheran zurückkam, fiel mir auf, daß die Erwachsenen ihre Sätze bei jeder Gelegenheit mit den Worten beendeten: „ … kein Wunder also, daß der Iran zurückgeblieben ist“. Ich war sechs.
Eines Abends kehrte ich in Begleitung meiner Großmutter, bei der ich hin und wieder die Nachmittage verbrachte, zu meinen Eltern nach Hause zurück. Es war schon spät, und wir waren zu Fuß unterwegs, man sah die Sterne am Himmel. Großmutter begann mir die Sternbilder zu erklären - nicht zum ersten Mal - und ich fragte sie, woher sie das alles wisse. „Im Sommer“, sagte Großmutter, „schlafen die Teheraner nachts auf den Dächern.“ Auf den Dächern? Schlafen? Das verwirrte mich. Daß es sich bei den Teheraner Dächern - im Unterschied zu den Dächern in Düsseldorf und in Krefeld, wo ich herkam - um Flachdächer handelte, war mir offensichtlich nicht klar, und ich versuchte mir, meine alte Großmutter schlafend auf einem schrägen Düsseldorfer Dach vorzustellen. „Kein Wunder also“, hörte ich mich sagen, „daß der Iran zurückgeblieben ist.“ Ich war ein altkluges Kind.

Dieser Tage ist wieder Sommer in Teheran, und die Menschen gehen nachts auf die Dächer, weniger allerdings um zu schlafen - von den Dächern ist vielmehr der von Nacht zu Nacht lauter werdende Ruf "Allah-o-Akbar" zu hören, "Allah ist groß". Es ist der Schlachtruf der Opposition gegen ein Regime, das sich entschlossen hat, mittels offenkundiger Wahlfälschung und dem Einsatz brutalster Gewalt die Rufe der Menschen nach ein wenig mehr Freiheit und Würde zu ersticken.

Warum aber "Allah-o-Akbar"? Hat denn nicht vor 30 Jahren genau dieses "Allah-o-Akbar" jene Revolution eingeläutet, die in genau dieses System mündete, gegen das die Menschen heute aufbegehren? Warum rufen sie nicht "Nieder mit der Diktatur!" oder "Freiheit!" (sie tun es natürlich, aber weniger laut und mehr tagsüber als in den Nächten)?

Sind die Menschen Opfer einer Art historischen Wiederholungszwangs, der sie, wie fremdgesteuert, immer und immer wieder denselben Fehler machen läßt? Bekanntlich war für Freud der Wiederholungszwang ein Ausdruck des Todestriebes. Sind die Iraner eine Nation von lebensmüden Selbstmördern?

Manche sagen, das "Allah-o-Akbar" von heute sei weniger eine Aussage als ein Zitat - ein Zitat nämlich aus der Zeit der islamischen Revolution 1978/1979, und indem die Menschen nachts auf den Dächern dieses Zitat wiederholen, wollen sie ihren Unterdrückern - allen voran Ali Khamenei - eine Botschaft übermitteln: Erinnert Ihr Euch, wie es damals war? Es ist wieder so weit.

Da ist was dran - und so gesehen wäre das "Allah-o-Akbar" von heute in seinem Zitat- und Verweischarakter keine archaische sondern im Gegenteil eine postmoderne Form des Protests. Aber verstricken sich die Menschen, indem sie die Sprache ihrer Unterdrücker sprechen – und sei es nur, um von ihnen verstanden zu werden –, nicht in deren unheilvolles „Netz der Signifikanten“? Anders gesagt: Schreiben oder schreien sie - "Allah-o-Akbar" rufend - ihre Unterdrückung nicht fort?

Vielleicht sind aber die "Allah-o-Akbar"-Rufe von heute weniger eine Art Zitat als eine Art Denkmal. In seinem Buch „Die politische Suspension des Ethischen“ erwähnt Slavoj Zizek einen kommunistischen slowenischen Revolutionär, der 1943 in einem von den italienischen Faschisten errichteten KZ auf der Insel Rab eine Rebellion jugoslawischer Gefangener anführte, denen es gelang, mehr als 2000 bewaffnete italienische Soldaten zu besiegen. Nach dem Krieg wurde der besagte Revolutionär von den Kommunisten festgenommen und in ein anderes KZ auf eine andere Insel gebracht, wo er 1953 gezwungen wurde, zusammen mit anderen Gefangenen ein Denkmal zur Feier des 10. Jahrestages der Rebellion auf der Insel Rab zu errichten – ein Denkmal also für sich selbst …
Zizek sieht im Schicksal dieses Revolutionärs eine Parallele zum Schicksal von Millionen Menschen, die nachdem sie zunächst im Kampf für die Revolution das alte Regime gestürzt hatten, dann unter der Herrschaft Stalins versklavt und gezwungen wurden, Denkmäler zur Erinerung an ihre eigene revolutionäre Vergangenheit zu errichten – eine in den Worten Zizeks „poetische Ungerechtigkeit“.

Für Poesie hatten wir Iraner immer schon eine Ader - jetzt also auch für „poetische Ungerechtigkeit“. Wir setzen uns - "Allah-o-Akbar" rufend - unser eigenes Denkmal, uns und unserer revolutionären Verangenheit, resp. der revolutionären Verangenheit unserer Eltern. Wir machen es – im Unterschied zu den Menschen in den Beispielen von Zizek – aus eigenen Stücken, und wir machen es in einem Augenblick, in dem die Befreiung aus den Fesseln der religiösen Diktatur zwar nicht zum Greifen nahe ist, aber näher als je zuvor seit dem Bestehen dieser Islamischen Republik.

Ob wir eines Tages in Erinnerung an unsere "Allah-o-Akbar"–Rufe von heute, unsere - gegen uns selbst gerichtete - Version der „poetischen Ungerechtigkeit“, ob wir eines Tages in Erinnerung an diese Allah-o-Akbar -Rufe sagen werden: „ … kein Wunder also, daß der Iran zurückgeblieben ist“?