Dienstag, 16. Oktober 2018

Zizek in Teheran 171


Die von den Komplikationen betroffenen werden Vagrants genannt. Und wandern von Ort zu Ort, wie der Name schon sagt. 

Nichts gibt so sehr das Gefühl der Unendlichkeit 

Als wie die Erregung
Die ich empfand
Als mich Danesch
Zu der Mittwochsrunde einlud. 

Worum geht es in dieser Runde eigentlich? 

Und als er sagte 

Wir wollen
Unser Teheran zurück 

Erinnerte er mich
Auf einmal
An 

Osymandias.

Osymandias
Ist die von Diodoros, dem Sizilianer 
gräzisierte – also griechisierte – Version
Des sogenannten Thronnamens
Des Pharaos Ramses des II.
Berühmt durch das Gedicht
Gleichen Namens
Von Percy Bysshe Shelley 

I met a traveller from an antique land
Who said: – Two vast and trunkless legs of stone
Stand in the desert ... Near them on the sand,
Half sunk, a shattered visage lies, whose frown,
And wrinkled lip, and sneer of cold command
Tell that its sculptor well those passions read ... 

Das alles wußte ich
Als Danesch
Mich damals
In der Cafeteria
Auf einmal
An Osymandias erinnerte
Natürlich noch nicht

Später beichtete ich 

Sie erinnern mich an Osymandias 

Woraufhin er das von Shelley und Ramses usw. erzählte
Was ich bald darauf wieder vergaß
Und vorhin auf Wikipedia nachgeschaut habe.

Der Osymandias
An den Danesch
In der Cafeteria
Mich 
Auf einmal 
Erinnerte
Ist nämlich ein anderer.
Nämlich der
Von den 

Weißen Bergen 

Dem Buch
Ich meine: Dem Buch
Meiner Kindheit.
In den Weißen Bergen 
(Dem ersten Teil
Der Trilogie 

The Tripods 

Des Science-Fiction-Autors 

John Christopher)

Gibt es Passagen
An die ich mich besser erinnere
Als an manch
Ein wirkliches
Ereignis
Der Kindheit.

Das ist
Aber nicht alles
LeserIn:
Manchmal
Habe ich
Das Gefühl
Jene Passagen
Sind nicht bloß Passagen
In einem Science-Fiction-Roman
Für Halbwüchsige
Sondern: Daß sie tatsächlich passiert sind.

Seltsamerweise
Verbindet mich das
Mit dem vierzigsten Präsidenten
Der Vereinigten Staaten
Der im Präsidentschaftswahlkampf

1980

Mehrmals
Und unter Tränen
Behauptete
Er hätte
Im Zweiten Weltkrieg
Als Fallschirmjäger
Erlebt
Daß der Pilot
Seiner Maschine
Nachdem sie getroffen worden war
Die Besatzung aufforderte
Abzuspringen.
Ein junger Schütze
Konnte aber nicht
Weil er schwer verletzt war
Woraufhin der Pilot
Sich zu ihm setzte
Seine Hand hielt
Und sagte 
Machts nichts Junge
Dann bringen wir die Kiste
Gemeinsam runter. 

Posthum sei ihm
Die Ehrenmedaille des Kongresses
Verliehen worden.

Recherchen
Investigativer
Journalisten
Ergaben dann aber
Daß Reagan das alles
Nicht erlebt haben konnte.
Daß es sich vielmehr um eine Szene
Des Films 

A Wing and A Prayer 

https://www.youtube.com/watch?v=5hhaTgO6Cmo 

Handelte. 

The White Mountains 
Erzählen von einer Zukunft
In der die 
Tripods
Riesenhafte
Dreibeinige
Roboterartige
Bewohner eines fernen Planeten
Die Erde erobert
Und die Menschheit versklavt haben.
Damit niemand
Vom Pfad
Des Gehorsams
Gegenüber den Tripods
Abweicht
Wird den Menschen im Alter von dreizehn
Oder vierzehn
Ich weiß es nicht mehr
Die sogenannte 

Kappe 

aufgesetzt
Ein Metallimplantat
In der Kopfhaut
Das das Gehirn kontrolliert
Und Neugier und Kreativität
Abtötet.

Mitunter ist
Das Implantieren
Der Kappe
Mit ernsthaften
Komplikationen verbunden
Sprich mit Gehirnschäden.
Die von diesen Komplikationen betroffenen
Werden 

Vagrants 

Genannt
Also Vagabunden.
Und wandern
Wie der Name schon sagt
Von Ort zu Ort. 

Will Parker 

Dreizehnjähriger
Protagonist
Der Weißen Berge 
Begegnet
Einige wenige Monate
Vor seiner Initiation
Durch die Kappe
Einem geheimnisvollen älteren Mann
Scheinbar Vagabund
In Wahrheit aber
Agent
Der Widerstandsbewegung gegen die Tripods.

Sein Name ist 
Osymandias.

Osymandias erzählt Will
Von den Weißen Bergen 
Dem letzten Nest des Widerstands
Gegen die Außerirdischen
Und verführt ihn dazu
Vor seiner Weihe
Durch die Kappe
Aus seinem Dorf
Dem – imaginären – 
Wherton 
In England
Zu fliehen
Um sich in den Weißen Bergen 
Im Süden
Dem Kampf
Gegen die Tripods
Und für die Befreiung
Der Erde
Anzuschließen.

Danesch erinnerte mich also
An Osymandias. 

wird fortgesetzt

Donnerstag, 11. Oktober 2018

Achte Folge der Radiokolumne "Im Bus mit Sama Maani"


"Gott gehört vielleicht der NSDAP an ..."
„Gott“, sagt der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki zu Beginn einer Doku, die ich mir im Bus, im Smartphone, ansehe, „Gott ist eine literarische Erfindung. Es gibt keinen Gott.“ Und dann: „Wenn ich damals, unter den Nazis, von Gott hörte, hatte ich den Verdacht, Gott gehört vielleicht der NSDAP an. Denn er unterstützt alles, was die Nazis machen. Vieles gelingt ihnen. Was glauben Sie, was das für ein Erlebnis war, die Nachricht, dass die Nazis Paris erobert haben“.

Die Blicke des sympathischen, älteren Herrn vis à vis, der mir bekannt vorkommt, zeigen, dass irgendetwas nicht stimmt. Na klar. Mein Smartphone ist zu laut eingestellt, was ich – mit den Kopfhörern im Ohr – nicht mitbekommen konnte – er hat wohl alles mitgehört, und sein Blick signalisiert alles andere als Zustimmung.

„Früher“, sagte der Religionslehrer im Gymnasium in Graz, den wir, seiner Streitlust wegen, Don Camillo nannten, „früher war der Sex tabu – heute die Religion“. „Heute“, fuhr Don Camillo fort, „können Sie alles sein: Anarchist, Kommunist, Terrorist, Sadist, Masochist – aber sagen Sie einmal: Ich bin fromm“.

Don Camillo hatte recht. Heute scheint Religion aber in einem anderen Sinn tabu zu sein, als damals in den Achtziger Jahren. Tabu nicht mehr im Sinn von: unmöglich, weil hoffnungslos veraltet – sondern im Sinn von: unantastbar, weil heilig.

Die Worte „Gott ist eine literarische Erfindung“ an den Anfang dieser Kolumne zu setzen, erfüllte mich dementsprechend mit Scham. So wie mich das Bekenntnis: „Ich bin Atheist“ mit Scham erfüllt – oder der Gedanke, dass er – der Herr vis à vis – jedes Wort des verstorbenen, gottlosen Literaturkritikers mitgehört haben könnte.

Er, der auf einmal aufsteht – und den ich wiedererkenne. Den sympathischen, ein wenig verwahrlosten, älteren Herrn, dem ich, lang lang ist’s her, hier, im 13 A, häufig begegnete. Jedesmal war er – irgendwann – auf einmal aufgestanden um, so wie jetzt, ohne Vorwarnung eine Predigt zu halten. Ein Buß- und Busprediger mit ungarischem Akzent.

„Wo viele Gottlose sind“, sagt die unverändert sanfte Stimme in einer Art Sprechgesang, „da – ist viel Sünde ... Wo keine Offenbarung ist, wird das Volk wild und wüst. Wohl dem, der auf das Gesetz achtet!“

Meine Scham verdoppelt sich – um eine gute Portion Fremdscham. Fremdscham ist aber auch den anderen Fahrgästen ins Gesicht geschrieben. Als seien wir alle Zeugen eines höchst anstößigen Aktes.

Ich muss das eben gefällte Urteil revidieren. Tabu ist heute sowohl ein offenes Bekenntnis zur Religion – als auch gegen sie.