Sonntag, 11. Dezember 2011

Wunderland 36


Gefällt er Dir?, fragte der Militärschneider.

Obwohl ich ein ‚Mädchen‘ war, oder auf dem Weg zu einem solchen, dachte ich, daß er wissen wollte, ob ich Paskarani als Sänger, resp. Schauspieler mochte, was ich verneinte, weil ich weder Teheraner Lieder noch Teherano-Western mag.

Paskarani steht zwar nicht auf ‚Mädchen‘ wie Euch, sagte der Militärschneider – und erst da kapierte ich, was er mit der Frage, ob mir Paskarani gefiel, gemeint hatte; daß Paskarani nicht auf ‚Mädchen wie uns‘ stand, verletzte mich übrigens, obwohl ich ihn als Schauspieler, wie gesagt, und Sänger nicht mochte, und sich seine Ablehnung von ‚uns Mädchen‘ nicht auf mich persönlich bezog, und ich mich ohnehin nicht als ‚Mädchen‘ fühlte, und mich zur Teilnahme an der Mädchenweihe nur bereit erklärt hatte, um das Lager verlassen zu können - Paskarani steht zwar nicht auf ‚Mädchen‘ wie Euch, aber darum geht es hier nicht, der Militärschneider sah mich erwartungsvoll an.
Nein, sagte ich.
Ich kannte mich nicht aus.

Paskarani ist verheiratet, sagte der Scheider, und er hat eine Affäre. Eine Studentin und Mitarbeiterin seines Teams“, der Junge wandte sich an mich, „Paskarani hatte für das Präsidentenamt der klerikalen Republik kandidiert. Er galt als linksliberal. Die Wahlen sollten ein halbes Jahr nach jenem Gespräch mit dem Militärschneider stattfinden.

So weit ich weiß, sagte der Militärschneider, ist die Geliebte unsere Agentin, aber ich bin mir nicht sicher. Wie auch immer - sie wird kooperieren. Paskarani hat ein Appartement in Nord-Teheran, wo die beiden sich treffen. Wir wissen, daß er immer nur im Dunkeln Sex hat. Und immer nur im Schlafzimmer.

Wovon reden Sie überhaupt, sagte ich, oder wollte ich sagen. Es irritierte mich übrigens, daß der Militärschneider mit seiner phrygischen Mütze und den Folianten auf dem Tisch, Sex gesagt hatte, und nicht etwa Liebe. Auf meine Frage - falls ich sie wirklich gestellt haben sollte - reagierte er nicht.

An das Schlafzimmer schließt ein großer begehbarer Schrank an. Darin wartest Du. Kurz nachdem der Sex begonnen hat, verläßt das Mädchen unter irgendeinem Vorwand das Schlafzimmer, um in das Badezimmer zu gehen, und vom Badezimmer, das durch eine Tür ebenfalls mit dem begehbaren Kleiderschrank verbunden ist, in eben diesen. Dort löst Du sie ab und gehst über das Badezimmer in das Schlafzimmer, wo Paskarani glauben wird, Du seiest das Mädchen. Du wirst Dich nach Möglichkeit so positionieren, daß er nicht gleich merkt daß Du … kein richtiges Mädchen bist, das werden wir natürlich üben, und die Zeit, die er braucht, bis er es merkt, nützen wir, um Euch zu filmen.

Als er das sagte, lächelte der Schneider wie ein gütiger Vater“.

wird fortgesetzt

Freitag, 9. Dezember 2011

„Geben Sie mir eine Katze“ - von Vladimir Vertlib

Auschwitz, die Wannsee-Konferenz, Warschau, Stalingrad, Dresden oder Hiroshima stehen im kollektiven Bewusstsein für Rassenwahn, Massenmord, Zerstörung und das Grauen des Krieges. Aber Leningrad? Was sollte dort gewesen sein?

Der folgende Artikel meines Freundes, des Schriftstellers Vladimir Vertlib, beschäftigt sich mit der blutigsten Stadtbelagerung der Geschichte.

Es muss fast auf den Tag genau vor 70 Jahren gewesen sein, als eine junge Frau meinen Großeltern erzählt hat, dass ihr Sohn im Sterben liege. Meine Großeltern könnten ihm aber vielleicht das Leben retten, sagte sie, denn sie habe gehört, sie besäßen noch eine Katze. Alle anderen Bewohner der Stadt hätten ihre Hunde und Katzen schon aufgegessen. „Geben Sie mir die Katze, damit mein Sohn nicht verhungert“, bat die Frau. „Die Katze ist seine letzte Chance.“ Der Sohn der jungen Frau war ein Mitschüler meines Onkels. Mein Onkel war damals zehn, seine kleine Schwester – meine Mutter - knapp vier Jahre alt.
Meine Großmutter wollte die Katze nicht hergeben, drängte die Frau aus der Wohnung und schlug die Tür zu. „Doch sie ging nicht weg“, erzählte mir meine Mutter Jahrzehnte später, „sondern kniete draußen im Korridor vor unserer Wohnungstür und heulte und bettelte so lange, bis sich deine Großmutter schließlich doch bereit erklärte, ihr die Katze zu schenken.“ Meine Mutter erinnert sich noch, wie die Katze sich zu verstecken versuchte, so, als wüsste sie, was ihr bevorstand, und wie man ihr nachjagte, wie man sie einfing und in einen Polsterüberzug steckte. Das Kind überlebte. Es ist seltsam, dass mich von allen Blockadegeschichten, die mir meine Eltern erzählt haben, gerade diese besonders erschüttert hat. Vielleicht war das Grauen der anderen Szenen zu unmittelbar, die Dimension zu groß, um sie als Nachgeborener, der die Zeit nicht selbst erlebt hat, emotionell fassen zu können.
Die nüchternen Fakten: Im September 1941 wurden die Stadt Leningrad (heute wieder St. Petersburg) und einige umliegende Dörfer von der deutschen Wehrmacht im Süden und der finnischen Armee im Norden umzingelt und konnten fortan nur über den Ladoga-See mit Schiffen – im Winter, wenn der See zugefroren war, auch mit Lkw – notdürftig versorgt werden. Erst im Jänner 1943 wurde der Blockadering an einer Stelle durch die Rote Armee gebrochen. Die Belagerung der Stadt durch die Wehrmacht dauerte jedoch noch ein weiteres Jahr an. Nach neuesten Schätzungen verhungerten oder starben damals an den Folgen der Unterernährung etwa 750.000 Leningrader Zivilisten, ein Drittel der Bevölkerung, die meisten davon zwischen Dezember 1941 und Mai 1942. Ungefähr 17.000 kamen durch Fliegerangriffe und den permanenten Artilleriebeschuss ums Leben. Hunderttausende Soldaten der Roten Armee wurden bei der Verteidigung der Stadt getötet. Damit gilt die Leningrader Blockade als die wahrscheinlich blutigste Belagerung einer Stadt überhaupt.
Viele Menschen, vor allem Kinder, wurden 1942 über den Ladoga-See aus der Stadt gebracht. So auch meine Eltern und Großeltern. Durch eine Verkettung glücklicher Zufälle hatten sie die schlimmsten Hungermonate überlebt, mussten aber fortan unter den Traumata der Belagerung und den Folgen des Hungers leiden – Folgewirkungen, die in der Sowjetunion gar nicht oder nur mangelhaft aufgearbeitet werden konnten.

Bombardierung und Abriegelung

Hitler hatte geplant, Leningrad dem Erdboden gleichzumachen und seine Einwohner zu vertreiben oder zu liquidieren. Nachdem die Einnahme der ehemaligen russischen Hauptstadt im Herbst 1941 gescheitert war, beschränkte sich die deutsche Armee hauptsächlich auf die Bombardierung und hermetische Abriegelung der Region. Das „logistische Problem mit der Zivilbevölkerung“ würde sich dadurch von selbst lösen. „In Anbetracht des Kräfteverbrauchs von Leningrad wird die Lage bis auf Weiteres gespannt bleiben, bis der Hunger als Bundesgenosse wirksam wird“, schrieb der Chef des deutschen Generalstabs des Heeres, Generaloberst Franz Halder. Übergabeangebote nach der Einkreisung der Stadt seien abzulehnen, lautete der Befehl. Auf diese Weise werde „ein großer Teil der Bevölkerung zugrunde gehen“, meinte Generalfeldmarschall von Brauchitsch, „aber doch wenigstens nicht unmittelbar vor unseren Augen“.
Nach dem Krieg wurde die Blockade von der sowjetischen Propaganda zur „heldenhaften Abwehrschlacht“ der Bevölkerung von Leningrad gegen den faschistischen Aggressor stilisiert. Die wenig heroischen Seiten wurden dabei verschwiegen: die Inkompetenz der sowjetischen Führung, deren falsche Entscheidungen das Einkreisen der Stadt erst ermöglicht hatten, das Chaos der ersten Kriegsmonate, die Ungerechtigkeiten bei der Zuteilung von Lebensmitteln, Diebstahl, Mord und Kannibalismus und vor allem der permanente Terror gegen vermeintliche „Volksfeinde“, der in der belagerten Stadt sogar noch intensiviert wurde.
Die Verlogenheit der sowjetischen Historiografie war wenig überraschend. Was meine Eltern hingegen verblüffte, nachdem sie die Sowjetunion verlassen hatten, war das völlige Unwissen, das in Österreich über die Blockade, über ihre Täter und Opfer, die Initiatoren und den Ausgang herrschte. Auschwitz, die Wannsee-Konferenz, Warschau, Stalingrad, Dresden oder Hiroshima stehen im kollektiven Bewusstsein für Rassenwahn, Massenmord, Zerstörung und das Grauen des Krieges. Aber Leningrad? Was sollte dort gewesen sein? Allenfalls brachten einige Menschen diese Stadt mit der Oktoberrevolution in Verbindung. Und wo waren die ehemaligen Angehörigen der Wehrmacht, die selbst an der Belagerung teilgenommen hatten? Sie schwiegen wahrscheinlich noch verbissener als alle anderen.
Auch in anderen Ländern, in Deutschland, Großbritannien oder in den USA, wussten eigentlich nur Experten über die Leningrader Blockade Bescheid. Es gab spannendere und wichtigere Themen als ein paar hunderttausend verhungerte russische Zivilisten. War deren Schicksal nicht einfach „nur“ eine tragische Folge des Frontverlaufs? Erst in den letzten Jahren ist das Interesse an dieser „Episode“ des Krieges gestiegen. Neben Fernseh- und Radiosendungen ist auch außerhalb Russlands eine Reihe von Büchern über die Blockade erschienen. Das mit Abstand beste davon hat nun die renommierte britische Historikerin und Journalistin Anna Reid geschrieben. Der englische Originaltitel, „Leningrad. Tragedy of a City under Siege, 1941–44“, ist weniger griffig, wird aber dem Inhalt und dem Ton des umfassenden Berichts sehr viel besser gerecht als der Titel der deutschen Ausgabe, „Blokada“. Der Originaltitel steht in seiner Mischung aus Anschaulichkeit und historischer Seriosität, Einfühlsamkeit und Sachlichkeit in guter Tradition der angelsächsischen Geschichtsschreibung.
Reid setzt einen klaren Schwerpunkt: Sie beleuchtet hauptsächlich die Ereignisse auf der russischen Seite der Front. Auch wenn an einigen Stellen die Aktionen der deutschen Wehrmacht, die zynischen Überlegungen der Generäle und manche Kommentare einfacher Soldaten wiedergegeben werden, so sind es vor allem russische Archive, die Reid durchforstet hat, russische Zeitzeugen, die sie zu Wort kommen lässt. Dabei stand ihr das umfangreiche, in Sowjetzeiten unter Verschluss gehaltene Material zur Verfügung, zum Beispiel die Protokolle der Gespräche Stalins mit seinen Generälen (darunter viele hysterische Meldungen und widersprüchliche Befehle) oder die peinlichen Auftritte von Parteibonzen, insbesondere jene von Andrej Schdanow, dem Leiter der Leningrader Parteiorganisation, der in seiner „tragikomischen Amtszeit Schostakowitsch auf dem Klavier politisch korrekte Melodien vorklimperte“. Vor allem, so Reid, „betätigte er sich als Massenmörder“, war er doch für die Leningrader Säuberungen von 1937 bis '39 zuständig gewesen.
Als die Sowjetunion 1941 von Hitlerdeutschland angegriffen wird, hat das Land gerade die furchtbarsten Zeiten politischen Terrors hinter sich. Kaum eine Familie, die nicht einen Angehörigen unter den Hingerichteten oder im Lager hat. Olga Berggolz etwa, die während der Blockade durch ihre Gedichte, die im Rundfunk gesendet werden und den Menschen viel Kraft zum Durchhalten geben, berühmt wird. Sie hat ihren Mann verloren. Er ist 1938 exekutiert worden. Ihr selbst wurde „im Gefängnis am Liteiny-Prospekt in den Bauch getreten, bis sie eine Fehlgeburt erlitt“. Danach ist sie freigelassen und rehabilitiert worden. Ihr zweiter Mann verhungert während der Blockade. Ihr Vater wird aufgrund seiner deutschen Herkunft nach Sibirien deportiert.
Zu den Zigtausenden Leningradern, die in den ersten Kriegsmonaten vom NKWD als „sozial fremde Elemente“ verhaftet werden, gehört auch der exzentrische Autor Daniil Charms, der heute als Klassiker der Avantgarde gilt. Er stirbt während der Blockade im Gefängnis. Warum wurde gerade er festgenommen? „Vielleicht nur deshalb“, heißt es, „weil er einen komischen Hut trug.“
Einige Gegner des Regimes halten die Deutschen für „Befreier“. Diese Illusion wird rasch zerstört. Flüchtlinge aus den besetzten Gebieten erzählen von Demütigungen, Misshandlungen und Massenerschießungen. Am 22.Juni 1941, in den ersten 24 Kriegsstunden, melden sich rund 100.000 Leningrader freiwillig zur Armee, „lange bevor die Bürokratie sie einberufen konnte“. Die Katastrophe können sie allerdings nicht abwenden.

Mit Zellulose aus Fichtenspänen

Wenige Monate später sind die meisten von ihnen tot oder in Gefangenschaft, und die Essensration für Kinder (wie damals meine Eltern), nicht berufstätige Erwachsene und Büroangestellte beträgt in Leningrad seit dem 20. November 125 Gramm Brot am Tag – drei dünne Scheiben, die neben Mehl auch Leinsamen und hydrolisierte Zellulose aus Fichtenspänen enthalten. Arbeiter und Soldaten erhalten etwas mehr. Es ist der Beginn der schlimmsten Hungerzeit, ein „Sturz in den Trichter“, wie sich der russische Historiker Sergej Jarow ausdrückt.
Für Anna Reid war die Stadt damals „ein an Goya gemahnendes Schlachtfeld“, in dem die meisten Errungenschaften der Zivilisation untergegangen waren. „Gebäude brannten tagelang, ohne dass sich jemand um sie kümmerte, ausgezehrte Leichen lagen verstreut auf den Straßen“, berichtet Reid. Wer keine guten Beziehungen oder keine Wertsachen besaß, die er gegen Lebensmittel tauschen konnte, hatte kaum eine Chance zu überleben. Nur die Parteisekretäre, Direktoren und Geheimdienstleute brauchten nicht zu hungern. „Speisen waren in der Sowjetunion stets ein Mittel zur Nötigung und zur Belohnung der Bevölkerung gewesen“, schreibt Reid. Führungskräfte erhielten in der „klassenlosen Gesellschaft“ sogar ganz offiziell höhere Lebensmittelzuteilungen.
Die eindrücklichsten und berührendsten Passagen in Reids Buch sind die vielen Zitate aus Interviews, Tagebüchern oder Erinnerungen, die die Autorin mit Bedacht ausgewählt, zu einem plastischen Kaleidoskop zusammengefügt und manchmal auch kritisch kommentiert hat. Wer das Buch gelesen hat, wird eine Ahnung davon bekommen, wie es damals wirklich gewesen ist.

Anna Reid: Blokada

Die Belagerung von Leningrad, 1941 bis 1944. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter. 560S., geb., €35 (Berlin Verlag, Berlin)

Copyright: Vladimir Vertlib

Samstag, 3. Dezember 2011

Teheran



Das Licht auf Giws Glatze macht seine Kopfhaut strahlen. Sein Gesicht ist ein hautfarbener Schuh, mit farblosem Spezialwachs geputzt. Wenn er dienstags und freitags im Café Columbia sitzt, ist der Giw ein Glanzpaket. Ich sag’s Euch Burschen, ein Wahnsinn ist das, was in Teheran passiert.

Zwei Mal die Woche sitzt Giw im Columbia-Café. Wenn ihm Arman und ich gegenübersitzen, pendeln sein Blicke wie ein Pfidschipfeile zwischen unseren Gesichtern. Meine Herren, was in Teheran passiert ist eine Wucht. Wenn er Wucht sagt, schlägt Giw mit seinem rechten Handrücken auf seine Linke. Die Hohlseiten seiner Hände sind rundlich gewölbte Pakete. Mit Einschnürungen dazwischen.

Der Vater, in seinem Büro sitzend, schweigt. Ich gehe im Vorraum, von dem aus drei Türen in andere Büroräume führen, auf und ab. Immer wieder komme ich in Vaters Zimmer und beobachte ihn beim Schweigen.

Im Auto, auf der Fahrt von Teheran nach Ghaswin, wird der Vater sagen: Wenn ich nicht Baha’i wäre, würde ich ein Maschinengewehr nehmen und kämpfen.

Am Jakominiplatz in Graz sehe ich die Studenten aus Teheran im Hungerstreik. Es wird 1978 sein. Abt, mein Kamerad vom Gymnasium, wird neben mir stehen, und schauen. Ich werde erregt und verwirrt sein. Alles was mit Teheran zu tun hat, erregt und verwirrt mich. Ich weiß nicht, ob ich den Schah mag, oder die Linken. Vielleicht mag ich den Schah, weil er mir leid tut. Ich denke, er ist traurig und sensibel. Aber dem Dariusch - meinem Kollegen von der Deutschen Schule Teheran - sein Vater, der Unfallchirurg, sagt, daß dem Schah sein Geheimdienst die schlimmsten Verbrechen verübt. Dem Dariusch sein Vater muß die Gefolterten wieder herrichten, daß man sie weiterfoltern kann. Die Toten würde man in Hubschrauber packen und über der Salzwüste abwerfen.

Ich kenne die Salzwüste aus dem Sachkundeunterricht der Fräulein Greiner in der Deutschen Schule Teheran. Sie ist ein großes, grauhaariges Fräulein mit einem roten Gesicht. Fräulein Greiner ist eine alte Jungfer. Aber wir lieben sie, weil sie alle paar Wochen ein paar von uns zum Steine-Sammeln ins Gebirge mitnimmt. Die Greiner werde ich fünf Jahre nach der Revolution bei einem Klassentreffen in Hunsrück, im Saarland, wiedersehen. Sie wird sich nicht so begeistert zeigen wie ich. Sie wird sich kaum an mich erinnern. Dann wird sie erzählen, daß Teheran ein Paradies war. Sie sei im ganzen Land herumgereist. Nie sei sie als Frau belästigt worden. Die anderen lachen verhalten und ich lache mit. Die Greiner ist dicker geworden, und wirkt athletisch. Ich werde mir ein Kopftuch kaufen. Es muß doch eine Möglichkeit geben, wieder hinunterzufahren.

Abt und ich spazieren am Jakominiplatz an den Studenten entlang. Sie liegen auf Feldbetten, und sind vermummt. Sie protestieren gegen den Schah und sein Regime, weil die Polizei gegen Teilnehmer am islamischen Opferfest gewaltsam vorgegangen ist. Einige Studenten haben Bärte. Sie sind Kommunisten, erkläre ich dem Abt. Sie benützen den Islam, um die Massen zu mobilisieren, aber sie sind Atheisten und Kommunisten. Ich bin fünfzehn und altklug. Foad, mein Oheim, wird sagen: Die Studenten schummeln. Sie essen heimlich. Er kenne sich da aus. Mina, die Frau des Proleten Peyman wird sagen: Und wenn sie die beste Weltanschauung der Welt hätten, gegen den Schah und seine Weltklasse-Armee haben Sie keine Chance.

Zuhause habe ich gelernt, daß Politik das größte Übel sei. Wir Baha’i mischen uns nicht in die Tagespolitik, sagt der Vater. Wir wollen den Weltfrieden, sagt die Mutter, die Politik entzweit die Menschen und ist dreckig.

Die Studenten am Jakominiplatz tragen Bärte. Keine Hippie-Bärte, sondern islamische. Einige Studentinnen tragen das Kopftuch.

Teheran existiert nicht, sage ich Giw. Es gibt keine Zeit, in die ich Teheran ansiedeln kann. Es gibt eine Zeit in der ich in Teheran angesiedelt wurde. Und es gibt eine Zeit, in der ich aus Teheran abgesiedelt wurde. Aber in der Zeit, in der ich in Teheran war, war ich nicht ich. Und in der Zeit, wo ich ich war, war ich nicht in Teheran. Also bin ich nie in Teheran gewesen. Also existiert Teheran nicht.

Du hast Teheran in Dir, sagt Giw. Du hast Teherans Geräusche, und Stimmungen, und Gerüche in Dir.

Aber welche Stelle meines Leibes oder meiner Seele enthält Teheran?

Teheran ist eine Fläche, aber mit zunehmendem Norden hebt Teheran vom Boden ab, und steigt an, bis es sich im kahlen und kühlen Elbursgebirge verliert.

Dem Giw seine Glatze ist kahl, aber nicht kühl. Niemals hat Giw einen kühlen Kopf gehabt. Seit er denken kann, ist der Giwkopf heiß gewesen. In den Siebzigern ging es, mit heißem Kopf und heißem Herzen, gegen die Imperialisten und Kapitalisten, und gegen den Schah.

Damals sang Giw abends, vor dem Einschlafen, ein Lied, das hatte keine bestimmte Melodie. Die Melodie war mal laut und rauh, wie eine Melodie in aller Herrgottsfrühe, zum Aufstehen, mal sehr leise wie das Nachklingen eines Wimmerns.

Das Lied war kein Lied. Es war die Melodie zu einem Gedicht, das jemand auf die Innenseite von Lenins Was tun? - in persischer Übersetzung - geschrieben hatte, und es handelte vom Damawand, dem Hausberg von Teheran.

Ey Dive sepide Pay dar Band,
Ey Gonbade Giti, ey Damawand
As sim be sar jeki Kolahchud,
S’Ahan be Mian jeki Kamarband ...

Damawand, Du weißer gefesselter Dämon,
Du silberne Kuppel der Welt -


Meine Erinnerung enthält keinen Damawand von Teheran aus, aber das Elbursgebirge am Abend. Von der Alten Schemiran-Straße zweigt eine Straße nach Gholhak ab, deren Namen ich nicht erinnere. An der Gabelung steht die gigantisch große Reklametafel von Canada Dry. Grün-weiß-rot leuchtet das Signet des Sprudelgetränks. Dahinter die Lichter der Bergstation Totschal. Weiße, blaue und grüne Punkte auf dem Weg in den Himmel.

Der Keyhan berichtet, der geistliche Führer des Landes ginge in aller Herrgottsfrühe Bergsteigen. Am 6. August 1992 haben seine Häscher in aller Herrgottsfrühe den Sänger und Showmaster Farokhzad umgebracht. Vom Farokhzad heißt es, er sei schwul gewesen. Bei einem Konzert im Parkhotel, in Wien, sagte er, man hätte ihm, bei einem Abendessen, sechs Mal dem selben Arzt, vorgestellt, einem Frauenarzt. Ich mag schwul sein, sagte er, aber eine Frau bin ich nicht.

Den Farokhzad haben sie in seiner Wohnung in Bonn umgebracht. Da war etwas mit einer Badewanne, ich weiß es nicht mehr. Im Teheran der Schah-Zeit erzählten sie einen Witz über ihn. Der Geheimdienst lädt drei Sänger, die Giti, den Aref und den Farokhzad, vor. Die drei werden in ein Wartezimmer gesetzt. Als erster wird Aref aufgerufen. Eine Stunde später kommt er in das Wartezimmer zurück. Er windet sich vor Schmerzen. Was haben sie Dir getan?, fragen die anderen. Sie haben mir eine Pepsi-Flasche in den Arsch gesteckt. Dann ist Giti dran. Zwei Stunden später kommt sie zurück. Auch sie windet sich vor Schmerzen. Was haben sie mit Dir gemacht? Coca Cola, schluchzt sie. Dann ist Farokhzad an der Reihe. Drei Stunden später kommt er aus dem Untersuchungsbüro. Und? Was haben sie mit Dir gemacht? Und an dieser Stelle muß dieser Witz mißlingen, weil er zum Gelingen voraussetzt, daß der Leser mit einem Werbespot des Teheraner Fernsehens der siebziger Jahren vertraut ist. Ein Werbespot, bei dem junge Menschen in einem Garten dicht nebeneinander stehen und tanzen. In der Mitte tanzt eine junge Frau, mit langen schwarzen, leicht gewellten Haaren. Sie singen: „Conodo Derei, da-là-la-la dà-la-la-la, Conodo Derei, da-là-la-la dà-la-la-la, Conodo Derei, da-là-la-la dà-la-la-la, Conodo Derei dà-là-la-la dà-la-la-la.“ Es ist eine Werbung für Canada Dry, nur daß Teheraner sich schwer tun, zwei Konsonanten hintereinander auszusprechen. Auch sprechen sie manche A‘s wie ein O aus.
Der Farokhzad des Witzes tanzt genau so wie das Mädchen mit den langen schwarzen, leicht gewellten Haaren. Er macht dieselben kreisenden Handbewegungen. Es sind die Handbewegungen einer Zauberin. Sein kleiner Finger bewegt sich wie der Stab eines Dirigenten.

Zwanzig Jahre später wird Farokhzad vom Geheimdienst der Islamischen Republik heimgesucht. Ich weiß nichts über seinen Tod. Ich habe ihn 1991 im Parkhotel in Wien gesehen. Da ging er tänzelnd durch die Reihen der aufgeputzten persischen Menschen. Sein Arsch wackelte in der Horizontalen. Er sprach von seiner Schwester Furugh, der Lyrikerin, die auch damals schon lange tot war, und die ich, ohne zu wissen warum, die Ingeborg Bachmann Teherans nenne.

Gonah kardam,
Gonahi por se Lesat,
dar Aghuschi ke garm o ataschin bud

Ich sündigte, hach welche Lust,
In seinen heißen Armen


Seine Schwester Furugh, sagte Farokhzad, hätte ihm einmal geschrieben, er solle ja nicht Showmaster werden. So etwas in Teheran zu machen, sei Scheiße. Dann sang er ein Lied von Hildegard Knef, und behauptete, Kultur bestünde nicht nur im Lesen der Dichter, sondern zeige sich auch in der Art, wie man in der Nase bohre. Dann sang er ein patriotisches Lied.

Iran, Iran marze porgohar

Iran, Land der Schätze …


Dabei reckte er die Fäuste in die Höhe. Wie ein Recke, dachte ich. Und: Was der alles ist: Showmaster, Kulturtheoretiker, Schwuler, Sänger, Polit-Aktivist, Patriot.

Es rühme sich nicht der, der seine Heimat liebt, sondern der, der die ganze Menschheit liebt, heißt es in den heiligen Texten der Baha’i. Der Himmel hat überall die gleiche Farbe, sagt Mutter. Ich bin mit ihr von Teheran nach Graz gekommen. Graz schmeckt mir nicht. Eine Woche nach unserer Ankunft, gehe ich mit meinem Oheim Foad ins Akademische Gymnasium, zum Direktor. Er ist ein netter Herr mit Anzug, Mascherl und Brille. Früher ist er Foads Französisch-Lehrer gewesen. Später wird er der Großvater seiner eigenen Kinder, indem er eine um Jahre jüngere Französin heiratet.

Bevor ich das Büro des Direktors betrete, gehe ich durch die Gänge der Schule. Das Innere des altehrwürdigen Gebäudes weckt in mir Erinnerungen an einen Film, den es nie gegeben hat. Der Film – aber es handelt sich eher um eine Fernsehserie -, spielt in einer altehrwürdigen Schule, in einem altehrwürdigen Land, in einer Anstalt, in der es Disziplin gibt, aber auch Abenteuer. Die Deutsche Schule in Teheran erscheint mir, als ich durch die hohen, altehrwürdigen Gänge des Akademischen Gymnasiums gehe, nie wirklich gewesen zu sein.

Einmal im Herbst sitze ich in unserem Klassen-Container, im oberen Teil der Deutschen Schule, gleich neben dem großen Swimmingpool. Ich mache aus meiner Hand einen Trichter, und lege die andere Hand als Deckel darauf. Wenn ich den Deckel öffne und schließe, entsteht ein Rauschen, wie das Rauschen, wenn man eine Muschel ans Ohr hält. Das Rauschen begleitet meine Stimme beim Lesen eines Gedichtes im Deutsch-Lesebuch, in dem es um die Stimmung in einer verlassenen Baracke am Arsch der Welt geht. Ich stelle mir eine Zeit vor, in der die Deutsche Schule leer und verlassen sein wird. Als besonders verlassen stelle ich mir eine Ecke hinter dem großen Backsteingebäude vor, in dem das Sprachlabor untergebracht ist. Die Ecke ist voller verrottender Gegenstände - Kästen, Ordner, Schreibtischschubladen, Atlanten, Fernsehmonitore, Zeitschriften, Stofffetzen. Ich stelle mir vor, meine Freunde, der Daniel, der Dariusch, der Parvis, der Sassan, sind alle verschwunden, so wie überhaupt alle Menschen der Schule. Ich bin allein. Ich fühle mich eigenartig. Schlecht und gut, gut und traurig, traurig und stark und frei.

Der Direktor des Grazer Gymnasiums sieht mich bekümmert an. Wir werden Dich erst mal als außerordentlichen Schüler einstufen. Wenn Du die Anforderungen nicht schaffst, wirst Du ein Jahr zurückgestuft. Du siehst mich so bekümmert an, sagt er, das muß ja nicht sein. Wenn Du die Anforderungen schaffst, geht alles in Ordnung.

Kolleritsch, der Deutschlehrer, lobt meinen Stil. Ich habe Dir jetzt einen Vierer gegeben. Wegen der Fehler. Aber dein Text ist schön. Er liest meinen Aufsatz vor, damit sie sehen, wie schön Deutsch sein kann. Ich habe von einem Landhaus am Rande von Teheran geschrieben. Ein Landhaus am Rande von Teheran hat es aber nicht gegeben. Es hat einen Garten gegeben, mit einem Häuschen in der Ecke, in Shian. Jedoch war es nicht wirklich ein Garten. Verglichen mit den Gärten in Graz war Shian kein Garten. Die Erde war trocken und blaß, und die Bäume dünn. Auch das Landhaus war, verglichen mit den Häusern in und in der Umgebung von Graz, nicht wirklich ein Haus. Ein Häuschen am Rande von Teheran, in den Siebzigern, ist etwas anderes, als ein Haus mit ländlich steirischer Fassade. Das Häuschen in Shian sah aus wie ein kleines, weißes Raumschiff. Wenn es warm ist, lege ich mich auf dem mit Teer beschichteten Dach. Das Grundstück liegt bei den Shian-Hügeln, mit ihrem schütterem Baumwuchs. Irgendwo dort oben soll die Villa eines Geheimdienst-Offiziers sein. Der Vater sagt, die Villa sei in Wahrheit eine Funkzentrale der SAVAK. Ich denke, daß es in Wahrheit um Außerirdische geht.

Jeden Freitag gibt es im Fernsehen die Serie Boschghab Parandeh, Die Fliegende Untertasse. Die Hauptrolle spielt ein Mann mit einer glatten blonden Frisur, und Stirnfransen. Er leitet eine Militäranlage gegen UFO’s, die die Erde bedrohen. Seine Kommandozentrale ist als Filmstudio getarnt.

Wenn ich an Shian denke, denke ich an Hadige. Die Landschaft in Hadige ist ähnlich der Landschaft um Shian. In Hadige finden im Sommer Baha’i-Jugendlager statt. Knapp vor Hadige haben sie einen Vergnügungspark mit Autodroms und einem Karussel gebaut. Der Vergnügungspark paßt nicht zu Hadige. In Hadige ist alles heilig. Morgens um sechs ist Morgenandacht im Amphitheater. Das Amphitheater ist eine Art Hörsaal mit abfallenden Sitzrängen. Unten steht links ein Rednerpult und rechts ein Yamaha-Klavier. Im persischen schreibt man Amphitheater Amfi Ta’atr und spricht es so aus, wie man es schreibt. In Graz lerne ich im Lateinunterricht, was ein Amphitheater in Wirklichkeit war, und welche Funktion es in der Antike hatte. Im Amfi Ta’atr von Hadige ist um 6.45 die Morgenandacht zu Ende. Zum Abschluß wird immer das selbe Lied gesungen:

Ey Djawanane Dore jasdani
Ey schoma Kache Solh ra bani

Jugend der göttlichen Ära,
Wegbereiter des Friedensreiches ...


Dann geht es zur Morgengymnastik ins Freie. Nach dem Frühstück gibt es im Amfi Ta’atr Vorlesungen. Die Redner sprechen über die Psychologie der Geschlechter und die Weltfriedensordnung. In der Nacht liegen wir in Stockbetten und träumen von den Mädchen im gegenüberliegenden Schlaftrakt. Armagan, mein pubertierender Cousin, nimmt vor der Morgenandacht die persische Ausgabe von Erich Fromms Die Kunst des Liebens zur Hand - das Buch wird in Hadige als Lehrbuch verwendet, um uns Baha’i-Jugendlichen eine fromme und zugleich moderne Haltung zur Liebe zu vermitteln - und sucht nach sexuellen Inhalten. Er sitzt mit sabberndem Mund auf dem Bett und liest vor: Das Wesen der Liebe besteht in Hingabe. Hingabe, wiederholt er, und strahlt. Seine Hände formen Halbkugeln, die sich hin und her bewegen, als umfaßten und schüttelten sie die Brüste einer Frau.

Nachts schlafen wir nicht. In einem Raum neben dem großen Schlafsaal treffen sich die älteren Jungen um ordinäre Witze auszutauschen. Es geht immer um die männlichen Bewohner der Hafenstadt Rascht, die regelmäßig von ihren Frauen beschissen werden.

Roland Kraut, ein blonder, schnauzbärtiger, österreichischer Bekannter der Eltern, sagt, es gebe Menschen, die nur darauf warten würden, daß jemand einen ordinären Witz erzählt. Sobald das passiere, erzählten sie einen ordinären Witz nach dem anderen. Niemals würde ein solcher Mensch mit dem Erzählen ordinärer Witze beginnen. Zuerst sei er zurückhaltend und höflich, dann ließen er die Sau raus.

Die Menschen aus Teheran, sagt Hilfspfleger Reini vom Landesnervenkrankenhaus Graz, sind außergewöhnlich zurückhaltend und höflich. Im Café Columbia, habe er Gelegenheit, Menschen aus Teheran zu studieren. Wenn er die Menschen aus Teheran sagt, meint der Reini den Giw. Die Menschen aus Teheran seien irgendwie anders, als die Menschen von Graz. Dabei zuckt Reini kurz mit dem Kopf. Seine Stimme ist hell, wie sein Gesicht, so daß er unmöglich aus Teheran sein könnte, weil die Menschen in Graz glauben, daß die Menschen aus Teheran niemals hell sein könnten, was aber nicht stimmt. Der Reini schaut dem Teheraner Liedermacher Farhad ähnlich, der das populäre Lied Freitags gesungen hat.

Djom’e waghte raftane,
Mosseme Del kandane,
Khandjar az Poscht misane,
Unke hamrahe mane

Dare as Abre sia Chun mitscheke
Djom’eha Chun djaje Barun mitscheke



Freitags ist es Zeit zu gehen,
Freitags reiß Dein Herz aus
Der hinter mir rammt mir ein Messer in den Rücken

Aus der schwarzen Wolke regnet es Blut
Freitags gibt es Blut statt Regen


Die Haut des Teheraner Liedermachers ist nicht dunkler als die des Hilfspflegers Reini, aber sein Haar. Der Hilfspfleger Reini war, bevor er Hilfspfleger in der Heilanstalt wurde, Elektriker. Als wir beide, er als Hilfspfleger, ich als Arzt, auf der Geriatrischen arbeiteten, eröffnete er mir, daß er einmal im Irak gewesen sei, in Basra. Basra liegt im Süden des Irak, an der Grenze zu Persien. Vor dreihundert Jahren gehörte es Persien. Reini behauptet, Basra hätte in den siebziger Jahren, als er dort auf Montage gewesen sei, dem Iran gehört. Es hat dem Schah gehört, sagt er.

Der Reini liest im Café Columbia Zeitungen, auch deutsche. Er ist ein feiner Mensch, der seine leichte Marke langsam raucht. Im Café Columbia sitzend, kneift er das linke Auge zu, und neigt den Kopf weit nach links, so daß es weh tun müßte. Bei der Supervision hat er viel zu sagen. Er spricht langsam. Zwischen den Sätzen schaut er an uns vorbei, in die Luft. Schwester Berta sagt, der Reini sei ein g‘spüriger Mensch. Seine Frau ist Stationsschwester, im LKH, auf der Neuro. Sie ist fett und ungepflegt, aber tüchtig. Früher war sie hübscher. Der Reini ist ein Feschak. Schaut aus wie ein Grieche.

Die Kriege zwischen den Griechen und Persern interessieren meine Kameraden in Graz ganz besonders. Der Liebmann, ein dunkelblonder Dünner, hält unaufgefordert ein Referat über die Perserkriege. Die Gudrun, eine der rundlichen Hammerl-Zwillinge ruft unaufgefordert in sein Referat hinein, es sei nur gerecht, daß die Griechen gewonnen hätten, sie seien gescheiter gewesen. Liebmann behauptet, daß Xerxes, der Perserkönig, das Meer hätte auspeitschen lassen, weil es so stürmisch gewesen sei, daß die persische Flotte nicht ablegen konnte. Der Liebmann hat mit dem Abt einen Geheimbund gegründet. Jeder in der Klasse hat einen Codenamen erhalten. Meiner ist Xerxes.

Im Sommer fliege ich mit den Eltern von Graz nach Teheran. 1974 ist das Dach des Teheraner Flughafens eingestürzt, der Flughafen selbst schaut jetzt aus wie ein Bahnhof, aber der Parkplatz davor ist noch der selbe. Ich stehe auf dem Parkplatz und atme. Die Abgase in Teheran, sage ich der Mutter, riechen anders als die Abgase in Graz. Die Mutter warnt mich vor den Abgasen in Teheran. Es gibt Tage, an denen das Radio alte und kranke Menschen davor warnt, das Haus zu verlasen. Ich bin seit zwei Jahren nicht in Teheran gewesen. Wir übernachten in der Wohnung eines Onkels in Nordteheran. Am nächsten Tag gehe ich allein in die Stadt. Ich bin vierzehn. Aber es gibt keine Stadt, so wie es in Graz eine Stadt gibt. Es gibt den Autoverkehr, einen Park, die Kanäle neben den Straßen, die orangen Taxis, die Maisverkäufer. Später fahre ich jeden Tag mit dem Taxi in die Wohnung einer Verwandten, um auch in den Ferien Klavier zu üben. Straßnig, meine Klavierlehrerin von der Grazer Landesmusikschule hat dieselbe Frisur wie der Hauptdarsteller des UFO-Films, und ist streng. Sie ist unzufrieden mit mir. Ich sei nicht motiviert, und ihr Vorgänger hätte meine Handhaltung ruiniert. Die Straßnig möchte aus ihrem Sohn einen Klaviervirtuosen machen. Es heißt, ihre Musikerziehung sei extremistisch. Ich erzähle ihr, daß der Werner, ein Schulkamerad, den sie kennt, politisch sehr rechts sei, und sich immer mit dem politisch sehr linken Deutschlehrer streite. Die Straßnig meint, alles Extreme sei ihr zuwider, am liebsten seien ihr Mitteldinger.

Falter, der Geschichtelehrer im Grazer Gymnasium kommt aus Siebenbürgen. Als wir die Perserkriege durchnehmen, erzählt er, es habe ihm einmal ein Perserteppich in der Auslage von Reyhanis Teppichgeschäft besonders gefallen. Er habe hineingefragt, was der Perserteppich koste. Der Verkäufer habe ihn angeschaut, dann den Teppich, dann wieder den Falter, und gesagt, der Teppich sei für den Falter zu teuer. Er koste hunderttausend Schilling. Der Falter schaut jetzt mich an und erwartet, daß ich etwas sage. Hunderttausend ist nicht viel. Es gibt teurere. Dem Falter gefällt meine Antwort nicht. Hunderttausend ist teuer genug. Über die teureren wollen wir nicht reden.

Der Falter ist auch Geographie-Lehrer. Er holt mich zur Landkarte des Orients und fragt, warum der Schah und seine OPEC den Ölpreis nicht noch höher ansetzen, als sie es ohnehin schon tun. Mir fällt nichts ein. Weil sie dann das Erdöl nicht absetzen könnten?. Nein, sagt Falter, weil dann auch die Erdölprodukte teurer würden, die sie importieren müssen. Der Falter strahlt wie der Farokhzad im Canada-Dry-Witz. Er hat demonstrieren können, daß er, was Persien betrifft, gescheiter ist als ich, aber auch, daß der Westen gescheiter ist als Persien. Weil Persien bloß den Rohstoff produziert und der Westen die Produkte, die Persien wieder importieren muß. Erdöl sei ein Bodenschatz, sagt der Falter. Jedoch müsse man als Land klug damit umgehen, damit man später nicht das Nachsehen habe.

In den Gasthäusern ist es mit dem Vater peinlich. Immer will er alle Bestellungen unter Kontrolle haben. Wenn er fragt, Was können Sie uns empfehlen?, lacht er nach jedem Wort. Wenn der Vater mit einer Kellnerin flirtet, und sie sich wegdreht, ohne es wahrgenommen zu haben, und geht, denke ich immer: Er hat das Nachsehen.

Die Perser, sagt der Liebmann, hätten bei der Seeschlacht von Salamis das Nachsehen gehabt. Ich denke, die Perserkriege sind lange her. Die Perser von damals haben mit den Persern von heute nichts zu tun.

In der Deutschen Schule, erzählt die Persisch-Lehrerin, Frau Andonian, von Ariobarsan, einem Feldherrn, der gegen Alexander einen Guerillakrieg führte. Seine Männer postierten sich auf den beiden Seiten einer Schlucht, durch die das Heer Alexanders durchmußte, und bewarfen es mit Steinen. Nur durch einen Verrat, so Andonian, hätten Alexanders Spione die Positionen der Perser erfahren, und diese bei einem nächtlichen Angriff massakriert.

Kreuz, der einzige Zeuge Jehova der Klasse, ist mein Freund, weil wir beide nicht katholisch sind. Er hat immer einen blauen Pullover mit V-Ausschnitt an, und darunter ein weißes Hemd. Die anderen sagen: Der Vater vom Kreuz ist wegen des Kirchenbeitrags Zeuge Jehovas. Warum, frage ich, mußte der Vater vom Kreuz Zeugen Jehovas werden, um keinen Kirchenbeitrag zu zahlen? Hätte es nicht gereicht, wenn er aus der Kirche ausgetreten wäre? Ich stelle die Frage nur mir, nicht den anderen, weil ich mir denke, so dumm können die anderen nicht sein, daß sie sich das, was ich mir denke, nicht auch denken.

In Teheran sagen sie, die Baha'i würden bei ihren Zusammenkünften einen Tee ausschenken, der Dich in eine besondere Stimmung versetzt. Dann würden Orgien gefeiert. Auch sagen sie, daß bei den Zusammenkünften der Baha'i plötzlich das Licht ausgehe. Dann würden Orgien gefeiert.

Obwohl der Kreuz ein Jehova ist, rauft er, und erzählt ordinäre Witze. Einmal kommt er in Rage und tritt gegen einen Sessel, der zusammenbricht. Die anderen sagen: Jehova hat seinem Haxn Kraft gegeben. Ich mag nicht, wenn sie Haxn sagen, aber wenn sie Jehova hat seinem Bein Kraft gegeben gesagt hätten, hätte es mir auch nicht gefallen. Das Steirische ist lässig, und widerwärtig.

Um mitreden zu können, mußt Du steirisch lernen, sagt Hormos, der Radiologe, der Ex-Studienkollege der Mutter. Es geht Dir schlecht, weil Du immer zuhause bei der Mutter bist. Damit es Dir gut geht, mußt Du in sein. Damit Du in bist, mußt Du Anschluß finden. Damit Du Anschluß findest, mußt Du steirisch reden. Damit Du steirisch lernst, mußt Du fortgehen. Damit Du fortgehen kannst, mußt Du zur Tanzschule. Sonntags mußt Du Flipper spielen. Am besten geh zum Alpenverein.

In Teheran bin ich auch nicht sportlich gewesen. Beim Skikurs, breche ich mir das linke Bein. Man transportiert mich mit einem Schlitten ins Tal. Das gebrochene Bein wird in eine aufblasbare Plastikschiene gesteckt. Sühnholz, unser liebenswürdiger Klassenvorstand, nimmt mich in seinem VW-Bus mit nach Teheran , zu den Eltern. Ich versuche tapfer zu sein, aber in der Ambulanz des Krankenhauses muß ich weinen. Der Sühnholz versucht mich zu trösten, indem er erzählt, daß Stalingrad viel schlimmer gewesen sei.

1998 wird der Giw außer sich sein. Er wird es nicht fassen können, daß Persien die WM-Qualifikation geschafft haben wird. Als das persische Team - in Australien - gegen Australien 2:2 spielt, schreien die persischen Jugendlichen in die australischen Kameras:

Iran mire - Faranse!
Iran mire - Faranse!

Iran geht nach - Frankreich!
Iran geht nach - Frankreich!


Ich träume, daß die Bevölkerung Teherans von Teheran abgesiedelt, und in Frankreich angesiedelt wird. Unter dem Arc de Triomphe gibt es ein Gelage. Die abgesiedelten Teheraner picknicken auf Teppichen und Decken. Die Stimmung ist gut. Aber viele protestieren. Sie wären lieber nach Amerika abgesiedelt worden. Ich stelle mich auf ein Podest, unter dem Arc de Triomphe, und halte eine Rede. Ich erkläre, daß Frankreich besser sei als Amerika. Vor hundert Jahren, bei der konstitutionellen Revolution in Teheran, sei die französische Revolution das große Vorbild gewesen. Die Revolutionäre hätten von dem Großen Französischen Volk gesprochen. Die Franzosen wüßten, wie man lebt und liebt. Außerdem seien sie bessere Fußballer als die Amis.

Beim WM-Spiel Persien gegen die USA ist der Fernsehpfarrer Paterno Gast im Sportstudio des österreichischen Fernsehens. Er atmet schwer und hat dunkelrote Äderchen im Gesicht. In der Pause sagt Paterno, die Perser würden sich irrsinnig anstrengen, aber die Amerikaner seien besser. Bisher hätten die Amerikaner Pech gehabt. Er würde für ihren Sieg beten. Giw meint, es sei schon ein Wunder, daß im Universum des Paterno auch für den Fußball Platz sei. Man könne nicht auch noch erwarten, daß im Universum des Pater Paterno die Vorstellung enthalten sei, daß ein Land wie Persien Fußball spielen könne.

Der Paterno ist Vorarlberger. Seine Vorfahren sind aus Italien. Beim Spiel Italien gegen Österreich, ist Paterno für Österreich. Der Paterno, meint Giw, wird seine Fußballkompetenz wohl gewinnbringend in seine Pfarrgemeinde eingebracht haben. Die Pfaffen in Teheran hätten keine Fußballkompetenz. In Frankreich hätten die persischen Fußballer die halbe Nacht vor dem Spiel mit Jugoslawien beten müssen, so daß sie beim Spiel müde gewesen seien. Der Paterno würde nicht wissen, wie schwer es die persischen Fußballer unter der Fuchtel von Paternos persischen Kollegen hätten. Der Islam sei schlecht für den Fußball.

Als Khomeini an die Macht kommt, setzt sich Giw, obwohl Atheist und Kommunist, für ihn ein. Bei einem Abendessen im Beisein meiner Großmutter Tuba, verkündete er, Khomeini sei ein Patriot erster Klasse, auch wenn er einen Turban trage und in Ghom sitze. Meine Großmutter Tuba fragt ihn, ob er, als Anhänger Khomeinis, auch faste und bete. Der Giw lacht über die Frage der Großmutter und scheint verlegen.

Damals, sagt Giw - jetzt, im Café Columbia -, damals wäre es ein leichtes gewesen, meiner Großmutter beizubringen, daß es gar kein Widerspruch sei, Kommunist und Atheist und zugleich für Khomeini zu sein. Dennoch hätte er es vorgezogen, der Großmutter gegenüber so zu tun, als ob er um eine Antwort verlegen wäre.

Jetzt ist der Giw, so wie alle Teheraner in Graz, gegen die Islamisten, die in Teheran herrschen. Dienstags und Freitags, im Columbia Café, erklärt er mir und dem Arman, was in Teheran passiert. Giw ist seit dreißig Jahren nicht mehr in Teheran gewesen. Dennoch ist er der größte Experte für Teheran. Jede Woche bekommt er Zeitungen und Magazine aus Teheran. Meistens per Post. Reisende bringen ihm Bücher.

Ich sag’s Euch, sagt Giw, ein Wahnsinn ist das, was in Teheran passiert. Zweidrittel der Teheraner sind jünger als Dreißig. Das sind die Kinder der Revolution, die werden die Revolution fressen. Der Giw hat schon mehrere Zweigelt intus. Der Glanz seiner Glatze wird wärmer. Der Khatami, sagt Giw, ist ein Großer. Er weiß, was er tut. Man muß langsam vorgehen, sagt Giw, mit Bestimmtheit, und bewegt seine Hände, die er parallel zueinander hält, von oben nach unten. In Teheran gehen die Uhren anders als in Graz. Erst passiert lange nichts. Dann aber alles.

Wenn im Frühjahr Khatami die Parlamentswahlen gewinnt, wird das Prinzip der Geistlichen Führung aus der Verfassung gestrichen. Dann wird Teheran frei sein. Dann werden wir einreisen und im Land bleiben dürfen. Dann werden die Teheraner so unbekümmert und frei sein wie die Menschen ... An dieser Stelle unterbricht sich der Giw, weil er sagen will: Dann werden die Teheraner so unbekümmert und frei sein, wie die Menschen in Graz. Aber das kann er nicht sagen, weil er sich in Graz nie frei und unbekümmert gefühlt hat.

Ich schweige, wenn Giw dienstags und freitags im Café Columbia über Teheran spricht, und schaue auf seine Hände, deren Hohlseiten rundlich gewölbte Pakete sind. Mit Einschnürungen dazwischen.

Sonntag, 27. November 2011

Wunderland 35








Oskar Kokoschka, Selbstbildnis mit Geliebter (1913)






Da dämmerte es uns, wie mächtig der Militärschneider war, den wir für einen Clown gehalten hatten. Einmal ließ er mich in sein Büro kommen, das unordentlich und elegant war, wie das Atelier eines Künstlers. Er empfing mich sitzend, an einem länglichen Tisch, auf dem sich Modemagazine stapelten sowie Aktenordner, die aber nicht aussahen wie Aktenordner, sondern wie Folianten. Einen der Folianten öffnete er, und begann zu lesen, d.h. er murmelte, und das Murmeln war bei genauerem Hinhören ein Singen.

Sie beschäftigen sich mit Freud, sagte er, und lächelte, gütig und ein wenig dümmlich. Ich sah, daß er eine Wollmütze trug, und schon alt war, eine Schlafmütze oder die phrygische Mütze der Jakobiner und der Magier im alten Teheran, und statt Angst zu empfinden, empfand ich Mitleid und Sympathie, wie für Vater. Eine Zeit lang wurde er wieder ganz unverständlich. Dann sagte er: Das gefällt mir.
Was?, fragte ich, woraufhin er wieder ganz unverständlich wurde, und hin und wieder schmunzelte.
Was gefällt Ihnen?, fragte ich.
Daß Du diesem Pfaffen die Leviten gelesen hast.
Er meinte offenbar die Episode in der Buchhandlung.
- Gehören Sie nicht zu den religiösen Faschisten?
Der Militärschneider lachte. I wo. Zu den religiösen jedenfalls nicht.
- Aber – zum Apparat der klerikalen Republik?
- Das wohl. Das hat aber mit Religion nichts zu tun. Wenn Du es genau wissen willst, Junge: Ich scheiße sowohl auf den Gott als auch auf die Religion Teherans.
Dann fragte er nach meinem Berufswunsch. Da ich noch immer unter dem Eindruck des Gebäudes des Instituts für Religionssexologie stand, sagte ich wahrheitsgemäß: Architekt.
Da kann ich Dir helfen, sagte der Militärschneider, der, wenn er mit uns ‚Mädchen‘ sprach, immer zwischen dem Du und dem Sie wechselte, wir haben die besten Kontakte zu den Universitäten in Amerika. Und in Paris. Und in den Deutschsprachigen Bergen. Ich werde mich um das Stipendium kümmern. Und um die Sicherheit Deiner Eltern. Du kennst ja die Gerüchte.
Er meinte die Grüchte über die Repressalien, die den Angehörigen jener Lagerbewohner drohten, die sich, ohne ein Entlassungszertifikat erhalten zu haben, aus dem Lager entfernten.
Das irritierte mich. Ich hatte die Professorin und Feministin so verstanden, daß die Teilnahme am Mädchenweihe-Projekt den Erhalt eines Entlassungszertifikates ersetzte, und daß man - hatte man sich entschlossen, sich von den religiösen Faschisten zum ‚Mädchen‘ machen zu lassen - das Lager verlassen konnte, ohne Konsequenzen für seine Angehörigen befürchten zu müssen. Offenbar reichte die Teilnahme an der Mädchenweihe aber nicht. Sie wollten noch etwas anderes.

Der Militärschneider zeigte mir eine Schwarzweiß- und eine
Farbfotografie, die beide den selben Mann zeigten. Auf dem Farbbild war er als Cowboy auf einem Pferd zu sehen. Auf dem Schwarzweißbild trug er einen Trilby-Hut, saß im Führerhaus eines LKW‘s, und hatte, wie beim Singen, den Mund offen.
Paskarani, schoß es aus mir, als handelte es sich um einen Quiz. Paskarani“, der Junge wandte sich wieder an mich, „Paskaran-e-i eigentlich - aber in der Umgangssprache lassen wir das e gerne weg -, war der beliebteste Schauspieler und Sänger unter dem Kaiser. Bekannt wurde er durch eine Reihe von populären Teherano-Western sowie als Sänger klassisch-teheranischer Lieder.

In den Filmen spielte er immer den brutalen Bösewicht, v.a. im Umgang mit Frauen. Das hat aber seiner Popularität bei den Frauen von Teheran keinen Abbruch getan, im Gegenteil wurde er, und wird er noch immer, von den Teheranerinnen verehrt wie ein Gott. In einem Interview für das Zweite Teheraner Fernsehen antwortete er auf die Frage, wie er es erkläre, daß ihn ausgerechnet die Frauen, die er in seinen Filmen auf das brutalste mißhandle, so liebten, mit den Worten: Oskar Kokoschka: Mörder, Hoffnung der Frauen, und verweigerte jede weitere Antwort. Seitdem nennt man ihn in Teheran Oskar, der Mörder.

Nach der Revolution der religiösen Faschisten ging Oskar, der Mörder in die Politik. Wie es hieß, mit der Begründung, daß er als brutaler Bösewicht besser in der Politik der klerikalen Republik Teheran aufgehoben sei als im Film, denn - im Unterschied zu den Filmen unter dem Kaiser - sind die Filme unter den religiösen Faschisten bekanntlich frei von Sex und Gewalt.

Gefällt er Dir?, fragte mich der Militärschneider.

wird fortgesetzt

Samstag, 12. November 2011

Wunderland 34





Alles wird von der Mode geregelt, sagte der Militärschneider










"Zehn Tage später hatte ich den ersten Teil meines Trainings beendet, und durfte das Lager, oder mußte es, verlassen. Ich marschierte mit anderen Kandidaten der Mädchenweihe zu jener Schleuse, die wir nach einem halben Tagesmarsch erreichten. Unsere Trainer – Visagisten, Kleidermacher, Psychoanalytiker, ein Masseur sowie die Professorin und Teheraner Feministin höchstpersönlich – hatten uns empfohlen, uns nach dem Betreten der Schleuse die Augen zu verbinden, was wir auch taten.

Der Abschied von der Professorin und Teheraner Feministin gestaltete sich ganz unzeremoniös, wie man in den Bergen gesagt haben würde, noch unzeremoniöser gestaltete sich der Abschied von dem Mädchen“, der Junge schaute, ganz angestrengt, in sein Bier, als könnte er im Bier seine Vergangenheit sehen, „als sich das Mädchen auf den Weg in das Lager machte, d.h. in das Zentrum des Lagers, hatten wir überhaupt nicht an Abschied gedacht, und schon gar nicht für immer.

Man brachte uns Kandidaten, mit verbundenen Augen, in die besagte Kaserne in Nord-Teheran, in dem das Pilotprojekt stattfinden, und welches das erste der Mädchenhäuser beherbergen sollte - dazu kam es aber nicht.
In der Kaserne ging es wie in einer Kaserne zu, mit Tagwachen, Stockbetten, Schlafsälen, und Spinden, die man regelmäßig inspizierte. Außer uns ‚Mädchen‘ gab es nur ‚Trainer‘, die Soldaten zu sein schienen, sie trugen jedenfalls Uniformen, auch wenn ihr Benehmen alles andere als soldatisch erschien. Mal feierten sie - teils für sich, teils mit uns – die Nacht, oder mehrere Nächte hindurch, tanzten, sangen, und sauften vor allem, und kifften auf Teufel komm raus. Es gab das Gerücht, daß sie, wenn sie für sich feierten, die besten Huren Teherans kommen ließen. Daß sie die Huren vor uns geheim hielten, war wohl ihrem Bemühen geschuldet, unsere keimende Identität als Mädchen nicht zu gefährden. Dann legten sie wieder die scheußlichste Kasernenpedanterie an den Tag, und drohten bei der geringsten Unordnung in unseren Spinden mit grausamen Strafen durchwegs körperlicher Natur, aber sie rührten uns niemals an, als wären wir schon Mädchen, die man mit Zartgefühl zu behandeln hat, und die man notfalls bedrohen, aber nicht anfassen darf.

Auch verfügten die ‚Trainer‘ in unserer Kaserne über keine der Kompetenzen der Trainer im Lager. Weder gab es Psychoanalytiker unter ihnen, noch Kleidermacher, noch Visagisten, oder doch einen Kleidermacher, den sie Militärschneider nannten, und der wie der schnauzbärtige Athletische aussah (der nun mein Kurs- und Schlafsaal-Kollege war) ohne aber athletisch zu sein. Der Militärschneider hatte den Auftrag Uniformen für uns zu entwerfen, welche zwar einerseits - weiß Gott warum - als Militäruniformen erkennbar sein sollten, sich andererseits aber von den Militäruniformen der ‚Trainer‘ unterscheiden sollten. Das alles wußten wir, weil uns der Militärschneider regelmäßig in Werkstattgesprächen, wie er sie nannte, Einblicke in seine Arbeit zu geben versuchte. Er saß in einer Art Klassenzimmer auf einem Tisch, neben sich einen Stapel Modezeitschriften aus Teheran und Paris. Wir hegten den Verdacht, daß er vom Schneidern und von der Mode keine Ahnung hatte, aber er redete viel, und schien belesen zu sein. Alles wird von der Mode geregelt war sein Lieblingszitat, das er einem Pariser Schriftsteller des 17. Jahrhunderts zuschrieb. Und am Ende eines jeden Werkstattgesprächs mußten wir ihm die folgenden Zeilen oder Verse nachsagen:

Es gibt keine Mode außer der Mode

Beständig in der Unbeständigkeit

Vollkommen in der Unvollkommenheit

Macht der Modische, was die Anderen machen, um anders zu sein als die Anderen


Diese Zeilen oder Verse nannten meine Mit-Kandidaten das Bekenntnis des Militärschneiders resp. das Mode-Gebet, und als einer der Kameraden sich über das Mode-Gebet einmal lustig machte, wurde uns tags darauf mitgeteilt, daß wir nach dem Aufstehen und vor dem zu Bett gehen das Mode-Gebet aufzusagen hatten, so wie wir im Lager nach dem Aufstehen und vor dem zu Bett sagen mußten, daß wir es liebten, Mädchen zu sein. Da dämmerte es uns, wie mächtig der Militärschneider war, den wir für einen Clown gehalten hatten".

wird fortgesetzt

Samstag, 29. Oktober 2011

Wunderland 33






Eurythmie für Mädchen



Du mußt nach Hause?, fragte die Professorin und Teheraner Feministin. Sie wußte also, daß ich, als ich aus der Telefonzelle gerannt war, Ich muß nach Hause gerufen hatte. Das Mädchen sah mich an, ernst und besorgt, wie die Professorin und Feministin, die ihre Frage wiederholte. Ich schüttelte den Kopf, als wollte ich Nein sagen, sagte aber: Ja.
Es gibt nur einen Weg, sagte die Professorin, das Lager zu verlassen, ohne dabei seine Angehörigen zu gefährden.
Die Mädchenweihe?, fragte ich. Ja, sagte die Professorin.
Ich dachte an den Athletischen und den Schmächtigen, und an den Schlager Weil ich ein Mä-he-dchen bin, und wie der Athletische in die Knie gegangen war, aus Verzweiflung, es nicht zu schaffen, ein Mädchen zu sein - der Athletische war ein sissy boy“, der Junge wandte sich an mich, „unsere Mutter hatte Amerikanistik studiert, und wir hatten zuhause lauter amerikanische Bücher. Ich glaube, ich kenne sissy boy aus den Büchern der Mutter; der Athletische war ein sissy-, resp. ein pussy boy – und ich sollte ebenfalls einer werden.

Übrigens beschäftigte mich die Frage, wie denn die Kooperation zwischen den Sexologen innerhalb und den reformierten Faschisten außerhalb des Lagers bei der Mädchenweihe funktionieren sollte. Ich habe es niemals erfahren. Auch nicht während meines, resp. nach meinem Training, das am selben Tag -“,
„Du hast es also gemacht?“, fragten der Grobe und der Feine unisono, das Gesicht des Groben war rot, das des Feinen blaß. Der Junge ignorierte sie.
„Ich begann mein Training noch am selben Tag, einen Crash-Kurs mit Einheiten wie


Welcher Mädchentyp bist Du?
Ayurveda- und Thai-Massage
Mein Körper und ich
Die Psychologie des Mädchens (ohne besondere Berücksichtigung der Moral)
Eurthythmie für Mädchen


- und praktische Übungen in Bekleidung, Kosmetik, Körperhaltung sowie im Tanzen, Flirten, Verführen und Sex.“ „Und Sex?“, fragten der Feine und der Grobe unisono. Der Junge ignorierte sie wieder. „Nach dem Aufstehen und vor dem zu Bett gehen mußte ich mir vor dem Spiegel sagen, daß ich ein Mädchen sei, oder, daß ich es liebte, ein Mädchen zu sein, ich weiß es nicht mehr.

Später sollte ich erfahren, daß es die Mädchenhäuser in Wirklichkeit gar nicht gab, weder damals noch später, d.h. es gab ein geheimes Pilotprojekt, in einem Militärgebäude im Norden von Teheran, darauf hatte die Professorin sich wohl bezogen, als sie meine Frage, ob es Mädchenhäuser schon gäbe, mit Ja beantwortet hatte. Aber die 'Mädchen' in diesem Pilotprojekt wurden – auch das sollte ich später erfahren – von den reformierten religiösen Faschisten, d.h. von der sogenannten Geheimdienst-Fraktion der reformierten religiösen Faschisten zweckentfremdet“.

wird fortgesetzt

Sonntag, 16. Oktober 2011

Wunderland 32

Julianne Moore als Egon Schieles Sitzende Frau mit hochgezogenem Knie (1917)






Der Vergleich der Kniekehle des Gottes der Religion Teherans mit der eines köstlichen Mädchens sowie die Tatsache, daß in einem Epos der Religion Teherans ein Mann einen anderen küßt, und riecht, und liebkost, und dieses Küssen, und Liebkosen, und Riechen eines Mannes - und noch dazu Gottes - sowie das Trinken seines Körperschweißes zum Sieg im Heiligen Krieg führen, das alles brachte uns, sagte die Professorin und Feministin, auf den Gedanken, daß es in der Religion Teherans möglich sein müßte, aus Männern Mädchen zu machen.

So entstand - in Kooperation mit den reformierten religiösen Faschisten – das Projekt Mädchenweihe: Männer, die den Glauben haben, oder den Wunsch verspüren, ein Mädchen zu sein, oder weder den Glauben haben noch den Wunsch verspüren, aber ein Zubrot verdienen wollen, können sich nach Absolvierung von psychologischen und physiologischen Tests einem Training unterziehen, und werden nach dessen erfolgreichem Abschluß in einer Zeremonie im Beisein von Klerikern, Theologen und Juristen der reformierten Faschisten zu Mädchen geweiht.

Die ‚Mädchen‘ stünden, so die Professorin, in eigens eingerichteten Mädchenhäusern zur - legalen - Ausübung der gleichgeschlechtlichen Liebe zur Verfügung, und für die Inanspruchnahme ihrer Liebesdienste entrichteten die Klienten eine Summe, deren größerer Teil an geistliche Einrichtungen der reformierten religiösen Faschisten ginge, der kleinere an das ‚Mädchen‘.

Ich fragte, ob es solche Mädchenhäuser schon gebe? Ja, sagte die Professorin, und daß es bei deren Auswahl unerheblich sei, ob die Männer feminine Merkmale aufwiesen, seien es körperliche oder seelische, oder nicht. Als sie das sagte, sah sie mich an, und wieder schien sie mir ernst, und besorgt - seit der Episode mit dem Athletischen, im Innenhof, und während sie uns die Mädchenweihe erklärte, war sie nämlich wieder heiter gewesen, wie immer.

wird fortgesetzt

Samstag, 8. Oktober 2011

Wunderland 31







... und offenbart sich einer Gruppe von Teheraner Feldherren in seinem göttlichen Glanz ...

Während uns die Professorin und Feministin über weitere Aspekte der Teheraner Tempel-Masturbation in Kenntnis setzte, nahm ich einen athletischen, hochgewachsenen Mann wahr, neben einem kleinen, schmächtigen. Wir standen auf der Wiese des schönen Gartens im Innenhof des Instituts. Die beiden schienen in ein Gespräch verwickelt, zugleich hatten sie die Professorin im Auge, als erwarteten sie ihre Aufmerksamkeit. Der Athletische, der auf einmal zu singen begann, zuerst leise, dann lauter, bis die Professorin und Teheraner Feministin verstummte, hatte einen für Süd-Teheran typischen Schnauzbart und sang einen Schlager aus Süd-Teheran, in dem die Vorteile eines Daseins als Mädchen beschrieben werden:

Komm doch mal rüber, Mann,
Und setz Dich
Zu mir hin

Weil ich ein Mä-he-dchen bin
Weil ich ein Mä-he-dchen bin

Keine Widerrede Mann,
Weil ich ja sowieso gewinn

Weil ich ein Mä-he-dchen bin
Weil ich ein Mä-he-dchen bin


[…]

Mitten im Schlager unterbrach sich der Athletische und sagte mit einer klaghaften, fast weinerlichen Stimme: Ich kann das nicht. Ich schaff das nicht. Ich kann das nicht.
Aber Du willst es, sagte oder fragte der Schmächtige, und legte ihm den Arm um die Schultern. Daraufhin ging der Athletische in die Knie und begann zu weinen.
Wann hat sie ihre Weihe?, fragte die Professorin und Feministin, ging zum Weinenden und flüsterte ihm, ohne auf eine Antwort zu warten, ins Ohr.
Ich schaute auf das Mädchen, das mir zu verstehen gab, daß die Professorin und Teheraner Feministin mir schon alles erklären würde – so deutete ich zumindest ihre Blicke und die ein wenig nervösen Bewegungen ihres Kopfes - sagte ich übrigens, daß sie hübsch war?

Später, beim Tee, auf der Dachterrasse des Instituts, erklärte uns die Professorin die seltsame Szene. Beim Studium von Phänomenen wie der Tempel-Masturbation war den Forschern des Instituts die Idee gekommen, daß auch andere sexuelle Probleme der Religion und Gesellschaft Teherans auf ähnliche Weise zu lösen sein müßten, wie es bei der Tempel-Masturbation der Fall war. Indem sich nämlich, sagte die Professorin und Teheraner Feministin, die Religion selbst austrickst. Die Wissenschaftler hatte dabei in erster Linie an das größte, wie die Professorin sagte, sexuelle, religiöse und gesellschaftliche Problem Teherans gedacht – die gleichgeschlechtliche Liebe zwischen Teheraner Männern.

Unsere Studien, sagte die Professorin und Feministin, brachten uns zu der Überzeugung, daß wenn das Masturbationsproblem in der Teheraner Religion durch die Einführung von Gutscheinen in den Griff zu bekommen war, es eine ähnliche Lösung auch für die Männerliebe geben müßte“, der Junge wandte sich an mich, „In Teheran droht Männern bei gleichgeschlechtlicher Liebe die Exekution, und nach der Exekution die Hölle der Teheraner Religion.

Bei der Lektüre der Filnameh“, der Junge wandte sich wieder an mich, „zu Deutsch Das Buch der Elefanten - eines Epos aus der Frühzeit der Teheraner Religion - war eine Mitarbeiterin der Professorin dann auf eine bemerkenswerte Passage gestoßen: Einmal als die Anhänger der Religion Teherans im Kampf gegen die Ungläubigen in Bedrängnis geraten, kommt der Gott der Teheraner Religion als Recke mit dem stärksten, schönsten und vollkommensten Körper auf die Welt, um dem Heer der Religion Teherans beizustehen. Eines nachts lüftet er das Geheimnis und offenbart sich einer Gruppe von Teheraner Feldherren in seinem göttlichen Glanz - woraufhin sich diese zu Boden werfen und ihm zunächst die Füße, dann die Unterschenkel, die Kniekehlen, die Oberschenkel, die Hüften, den Bauch, die Brust, die Schultern, den Hals und den Mund küssen, und indem sie den Duft seines Körpers riechen, resp. seinen Schweiß trinken, geraten sie in eine Trance. Der Schweiß und der Körpergeruch des Gottes der Religion Teherans wirken als militärische Droge, unter deren Einfluß am Morgen des folgenden Tages die besagten Feldherren das Heer der Religion Teherans zum Endsieg über den Feind führen.

Das Buch der Elefanten, so die Professorin, beschreibe den Geruch und die Form der Kniekehle des Gottes der Teheraner Religion als köstlicher als die Kniekehle des köstlichsten Mädchens.

wird fortgesetzt

Sonntag, 25. September 2011

Einmal sagte der rechte Abschaum
Daham statt Islam

Da sagten meine linken Freunde

Islam ist nicht unser Feind!

(Und auch

Und gerade

Die FeministInnen

Unter ihnen)

Vielmehr

Eigentlich

Unser Freund
!


Und im übrigen

Gibt es ihn nicht

DEN Islam
!


Ich wollte sagen

Und sagte es doch nicht

War da nicht einer

Der sagte etwas von


Kreatur

Und

Seufzer

Und

Opium

Und

Volk

Aber seine Bücher finde ich nicht

Im Internet nicht

Und nicht in der Stadt

Und die Erinnerung, Ach,

Betrügt mich seit Jahren

Vielleicht

War alles

Ganz anders


Ungewiss ist

Was wäre

Hätte der Abschaum

Erdäpfelsalat statt Patriarchat

Gesagt

Ob dann meine linken Freunde

(Und auch

Und gerade

Die FeministInnen

Unter ihnen)

Das Patriarchat ist nicht unser Feind!

Gesagt hätten

Und gesagt hätten

Im übrigen gibt es das gar nicht

DAS Patriarchat
?


Zumalia

Bin ich Rassist

Wenn ich sage

Ich hasse die Österreicher



Warum bricht ihm aber

Das Herz

Wenn er die Österreicher ohnehin hasst

Wenn im 13 A sich niemand neben ihn setzt



Zumal wenn er unrasiert ist

Zumal er eh Platzangst hat

Zumal er als Unrasierter nicht schlimmer ausschaut

Zumal vielleicht weniger schlimm



Zumal er Österreicher neben sich

Rein körperlich schon

Nicht aushalten würde


Zumal

Zumal

Er kommt aus Zumalia


Wenn ich aber

Ich hasse Österreich sage

Weniger rassistisch

Oder: Die Österreicher stinken aus dem Gesicht

Sag lieber nix



Aber eines muß man schon sagen

Je ausgedehnter der Hass

Desto weniger

Ist der Hassende Rassist

Ich hasse die Österreicher - Rassist

Ich hasse die Europäer – kein Rassist

Und schon gar nicht sind diejenigen Rassisten, die sagen

Ich hasse die Amerikaner

(Sondern Anti-Imperialisten)



Am besten: Alle Menschen san ma zwider, I mechts in die Goschn haun



Es gilt auch das Umgekehrte

Je weniger man hasst, desto weniger ist man Rassist

Beispielweise

Ich hasse alle Österreicher – Rassist

Ich hasse alle Wiener - kein Rassist

Ich hasse Dich

Und mich

Na eben



Epilog – oder Weitere Möglichkeiten, die da wären:


Alle Frauen

Alle Männer

Gott

Die Welt

A propos Gott

Wenn ich im 13A auf einmal aufstehe

Nach Absolvierung eines Kurses am liturgischen Institut
versteht sich

und den Hass gegen Österreich predige

Zum Abschluß sprechen wir

Oder singen

Gemeinsam und innig

Das Kollektengebet
http://de.wikipedia.org/wiki/Oration

Donnerstag, 22. September 2011

"I'm starting to think, that the Left might actually be right." (Charles Moore, The Daily Telegraph)


Einmal waren die Linken links

Und die Rechten rechts.

Später wurden die Linken immer rechter.

Da sagten die Rechten: "Die Linken haben recht!"

Wie recht sie hatten.


Samstag, 3. September 2011

Wunderland 30








Masturbations-Gutschein


„Das Gebäude, durch das die Professorin und Teheraner Feministin uns führte, beeindruckte mich. Ich beschloß Architekt zu werden. Seit meiner Einlieferung hatte ich nacheinander Musiker, Komponist - und unter dem Eindruck der Professorin und Teheraner Feministin – Feminist werden wollen“. Ich fragte mich, ob der Junge, wenn er Teheraner Feministin sagte, eine Feministin meinte, die zufällig aus Teheran stammt, oder ob sich der Teheraner Feminismus vom Feminismus der Deutschsprachigen Berge unterscheide.

„Während uns die Professorin und Teheraner Feministin durch das Gebäude führte, erzählte sie uns die Geschichte des Instituts. Schon vor der Revolution hatte sich ein Zirkel von Sexologen, Soziologen und Psychoanalytikern über einen Widerspruch in der Religion Teherans Gedanken gemacht. Auf der einen Seite, so die Professorin und Feministin, scheint die Religion Teherans den Sex zu verdammen, ja austrotten zu wollen“, der Junge wandte sich an mich, „seit der Revolution wurden Hunderttausende in Teheran wegen sexueller Delikte verhaftet, interniert, angeklagt, gefoltert, vergewaltigt, gehenkt. Und sei es wegen Verstößen gegen die Bekleidungsvorschriften. Auf der anderen Seite sei die Teheraner Religion von Sexualität durchtränkt wie keine andere, so die Professorin und Teheraner Feministin, deshalb müsse man den Begründer der Religion Teherans einen Triebtheoretiker nennen. Triebtäter, sagte das Mädchen. Bekannt seien, so die Professorin, ohne auf den Triebtäter des Mädchens überhaupt einzugehen, bekannt seien die Anleitungen für alle Arten des sexuellen Verkehrs in Teheraner theologischen Werken“. „Anleitungen für alle Arten des sexuellen Verkehrs“, sagte der Feine, „heißt im Übrigen das bekannteste Werk des bekanntesten Theologen Teherans, Ali Jalali“. Es war, seit der Junge vom Klo zurück war, das erste Mal, daß der Feine überhaupt etwas sagte. Der Junge sah ihn nicht an.

„Nach der Revolution, als die Faschisten sich nicht nur politischer Gruppen, sondern auch Künstlern und Wissenschaftlern aller Art zu entledigen begannen, hatten sich die Mitglieder jenes Zirkels im Lager wiedergefunden, und um dem besagten Widerspruch in der Religion Teherans nachzugehen, gründeten sie, unter der Federführung der Professorin und Feministin, das Teheraner Institut für Teheraner Religionssexologie.

Sagte ich schon, daß das Lager, resp. das Gelände des Lagers vor der Revolution jener Glaubensgemeinschaft gehörte, die seit der Revolution von den Faschisten verfolgt wird? Die Glaubensgemeinschaft hatte das Gelände und dessen Gebäude als eine Sommerschule für ihre jüngeren AnhängerInnen benützt. Nach und nach hätte die Sommerschule in eine Universität umgewandelt werden sollen. Auch das futuristische und weiße Gebäude, in dem das Teheraner Institut für Religionssexologie untergebracht war, hatten die“, der Junge wandte sich an mich, „in Teheran als progressiv und sehr gebildet geltenden AnhängerInnen jener Glaubensgemeinschaft errichtet.

Die Gründung des Teheraner Instituts für Teheraner Religionssexologie schien den WissenschaftlerInnen des Zirkels, die sich im Lager wiedergefunden hatten, umso dringlicher. Nach der Revolution herrschte ein sexuell repressives Regime über eine sexuell, so die Professorin, hyperaktive Gesellschaft, was nach Auffassung der Religionssexologen - wenn für das sexuelle Problem der Religion Teherans keine Lösung gefunden werden konnte - zu einer Katastrophen führen mußte.
Die ReligionssexologInnen hatten nun die These entwickelt, daß die Lösung des sexuellen Problems der Religion Teherans in der Religion Teherans selbst liege. Ausgehend von dem besagten Widerspruch zwischen den sexualfeindlichen und den sexualfreundlichen – oder, wie die Professorin sich ausdrückte, perversen - Elementen in der Teheraner Religion, war den Religionssexologen aufgefallen, daß unter bestimmten Umständen bestimmte Akte, die der Religion Teherans im allgemeinen als verboten und anstößig gelten, von der Religion Teherans selbst auf einmal als erlaubt, ja als heilig angesehen werden. Zum Beispiel die Tempel-Masturbation“. Der Junge wandte sich an mich. „Es gibt zwar in der Religion Teherans keine Tempel, nur Bethäuser, dennoch hat sich bei uns in den Deutschsprachigen Bergen der Ausdruck Tempel-Masturbation eingebürgert. Die Masturbation ist in der Teheraner Religion streng verboten, und Masturbierenden Teheranern, sofern sie AnhängerInnen der Religion Teherans sind, droht die Todesstrafe, resp. die Hölle. Jedoch können junge Teheraner Männer gegen Entrichtung einer Summe an Institutionen des Klerus Masturbations-Gutscheine erwerben. Deren Besitz berechtigt für einen – der Höhe der entrichteten Summe proportionalen – Zeitraum zur Masturbation, sofern diese vom Rezitieren bestimmter Passagen der heiligen Texte der Religion Teherans begleitet wird. Rezitation und begleitende Masturbation werden in der Regel in einem Bethaus und in Anwesenheit von Geistlichen absolviert, gerne aber auch zuhause.

wird fortgesetzt

Donnerstag, 25. August 2011




Die Düfte Gottes

Zeit seines Lebens wird Dimpfelmoser den Namen des Wachtmeisters in einem Kinderbuch tragen, das bei uns sehr beliebt, im Ausland aber auch nicht unbekannt ist.
Hinzu kommt:
- Betritt, eines Nachmittags, die Polizeiwachstube im Wohnbezirk.
- Gibt an, es sei ihm als er, am Vormittag bei strahlendem Wetter, im Strandkorb, im Städtischen Freibad, eingenickt sei, sein Glauben abhanden gekommen. Er glaube an ein Diebstahlsdelikt.


Mein gesamtes

BIO-PSYCHO-SOZIALES

ist im Autobus der Linie 13 A der Wiener Linien enthalten.

BIO: Slavoj Zizek, Slowene und schwitzender Philosoph, der Einzige, den heutzutage zu lesen sich lohnt:

PSYCHO: While watching PSYCHO* for the 20th time, I noticed the scene of Marion driving in the night on her escape from Phoenix … what we perceive here is a smile of a deeply PERVERSE SATISFACTION ... So, in a way, even before actually meeting him, MARION ALREADY BECOMES NORMAN … THIS IS CALLED TRUE LOVE IN THEORY. **

- SOZIALES: Glücklich sind wir nur, wenn wir glücklicher als die anderen, die anderen unglücklicher sind als wir. Und weil unser Glück sich über das Unglück der anderen definiert, kann Glück nicht allgemein sein - an Sozialismus ist nicht zu denken, sagt die Frau, Buchhändlerin, blond, Anfang Dreißig, Frisur und Bekleidung wie in den Fünfzigern, die den Bürger des besagten Landes, männlich, schwarzhaarig, asthenisch, erwürgt hat, bei der anschließenden Pressekonferenz.
Hinzu kommt:
Erstochen (mit dem Hirschfänger). (Mit der Kettensäge) zerlegt. Arme (2), Rumpf (1), Beine (2), Kopf (1), Nase (1). Im Ganzen sieben. Im Autobus. Am Vormittag. Bei strahlendem Wetter.


Im Gesetz des Casanova ist die Sieben die Zahl der Rache.
Will er eine bestrafen,
- schickt er sieben e-mails,
- versucht er unbedingt, mit sieben ihrer Freundinnen zu kopulieren.
- verabreicht sieben mal sieben Hiebe, mit dem Dreikant-Lineal.

Hat er sie verlassen, denn als Casanova muß er ständig verlassen, ist dennoch er verwundet. Um sie wiederzugewinnen, kontaktiert er sie sieben Mal. Dann nie wieder.

Die er verlassen hat, kommen nicht wieder. Von den sieben verfällt ihm kaum eine. Die sich weigern, machen sich wiederum schuldig, und gehören bestraft.


BIO: Wenn es im 13 A stinkt, glaube ich immer, ich sei die Quelle. Wegen des Migrationshintergrunds.


Seit Dimpfelmoser sein Glauben abhanden gekommen ist, wundert er sich. Oder ihn nichts mehr. Von seinem Nachbarn, dem Casanova, ist er überzeugt, er hätte, entgegen wiederholter Beteuerung, einen Glauben.
Mehr noch: Aus einer Gier heraus hätte er ihm, Dimpfelmoser, als er, Dimpfelmoser, im Liegestuhl, auf dem Balkon, eingenickt sei, seinen Glauben gestohlen (Casanova und Dimpfelmoser sind Balkonnachbarn) und das obwohl der Glaube Casanovas ungleich stärker sein müßte, glaubt Dimpfelmoser, als sein eigener, ihm abhanden gekommener. Denn Casanova kommt aus dem besagten Land.

Trotzdem er den Namen des Wachtmeisters des beliebten Kinderbuches trägt, hat Dimpfelmoser sich in Polizeisachen für untalentiert erklärt. Jetzt entdeckt er den Inspektor in sich. Er nimmt Casanovas Observierung auf. Eine Herausforderung, denn Casanova kennt Dimpfelmosers Gesicht.

In einem Café, dessen spärliche Beleuchtung Dimpfelmosers Absichten entgegenkommt (um unerkannt zu bleiben, trägt Dimpfelmoser Sonnenbrille, Detektiv-Kappe und Schnauzbart-Attrappe) sieht er den Casanova einen Papiersack übernehmen, und aus dem Papiersack etwas entnehmen - schwarze oder braune durch einen Faden miteinander verbundene Kugeln, soweit im spärlichen Licht des Cafés zu erkennen.

Dimpfelmoser ist überzeugt: Casanova ist jetzt im Besitz eines weiteren Glaubens - eines Glaubensartikels zumindest. Es reicht ihm. Die Phase der Observation ist vorüber. Als Casanova das Kaffeehaus verläßt, folgt ihm Dimpfelmoser.


Zumal im Autobus sei der Geruch des Glaubens des besagten Landes nicht zu ertragen, sagt die Frau, Anfang Dreißig, die den Bürger des besagten Landes, männlich - siehe oben, in der Pressekonferenz. Ungleich stärker als der Glaubensgeruch hierzulande. Seit Jahren habe sie eine therapieresistente Geruchsallergie, sagt die Frau, Renate Schöngeist, Buchhändlerin, Frisur und Bekleidung - siehe oben.


Dimpfelmoser folgt Casanova. In der Einkaufsstraße geraten sie in eine Demo - gegen die Tat der Buchhändlerin Schöngeist. Vor BuchhändlerInnen und Schöngeistigen haben die Menschen aus dem besagten Land jetzt Angst. Die Demo erklärt sich mit dem Glauben der Menschen des besagten Landes solidarisch. D.h.: mit dem Geruch jenes Glaubens. Denn erwürgt, und erstochen, und zerteilt, wurde der Mann aus Gründen der Geruchsallergie.

In der Zeitung hat Dimpfelmoser gelesen: Ein Parfumproduzent, ebenfalls solidarisch, hat ein Solidaritäts-Parfum produziert: Die Düfte Gottes - der Geruch des Gottes des Glaubens des besagten Landes. Entlang der Einkaufsstraße sind Kuben aufgestellt, um die Kuben herum Liegestühle. Die Kuben produzieren Die Düfte Gottes. Auf den Liegestühlen liegen Demonstranten mit Trockenhauben, nur daß die Trockenhauben den Kopf, wie bei Astronauten, ganz umschließen. Über Schläuche wird Die Düfte Gottes in die Astronautenhauben geleitet.


SOZIAL: Wegen des Migrationshintergrunds glaube ich immer, ich sei die Quelle, wenn es im 13 A stinkt.


Dimpfelmoser kann Casanova leicht folgen. Die Reihen der Demonstranten sind ja nicht dicht. Casanova wird von einer Gruppe Frauen umringt, später heißt es: Es waren sieben. Die Frauen kreischen, ob freudig oder aus Empörung ist unklar, und beginnen zu tanzen. Für den Tanz fehlen Dimpfelmoser die Worte.

Bei genauem Hinschauen haben die Frauen Auren. Orange, rote, grüne. Alle DemonstrantInnen haben jetzt Auren. Dimpfelmoser denkt: exotisch. Die Düfte Gottes versetzt sie in Trance. Manche singen, im Liegen, die Einkaufsstraße ist mit Heiligenscheinen gepflastert.


PSYCHO: Wegen des Migrationshintergrunds glaube ich immer, wenn es im 13 A stinkt.


Drei heften sich an den Casanova. Ob sie ihn festhalten oder sich zärtlich anschmiegen, ist nicht zu entscheiden. Zerren ihn zu einem der Kuben. Dem Gesichtsausdruck Casanovas ist nichts zu entnehmen. Legen ihn auf einen Liegestuhl.

Sieben Frauen umschreiten den Liegestuhl. Sagen: God, O God! Sind es Amerikanerinnen? Drei knien neben dem Casanova und halten ihn. An Armen und Beinen. Setzen ihm die Astronautenhaube auf. Die Düfte Gotte umströmt sein Gesicht als Wolke. Seinem Gesichtsausdruck ist nichts zu entnehmen. God, O God!


Die DemonstrantInnen singen:
Wir alle
glauben
an
Trat-ra

Ram-Dada


(Trat-ra steht stellvertretend für den Namen des Gottes des Glaubens der Mehrheit der Menschen des besagten Landes)


PSYCHO: Wegen des Migrationshintergrunds glaube ich immer, wenn es im 13 A stinkt.


Im Gesetz des Casanova existiert eine Rache, von der er nichts weiß.
Im besagten Land haben sie einen Vater erschlagen, der den Gott des besagten Landes verflucht. Eine Mutter gefoltert, die hatte ein Buch gelesen.*** Eine Schwester vergewaltigt. Einen Bruder.
Hinzu kommt: Zum Krüppel geschlagen.
Im besagten Land herrscht der Gott des besagten Landes.


Dimpfelmoser – seit er den Inspektor in sich entdeckt hat, ein guter Beobachter - beobachtet wie Casanova den Kopf zu schütteln beginnt. Nicht wie die Demonstranten in Trance, sondern irgendwas stimmt nicht.

Ohne Kaftanstrengung hat sich Casanova von den Frauen gelöst. Er steht. Eine Zeit lang. Dann geht er. Die Trockenhaube hat er noch auf, Röhre und Kubus schleift er hinter sich her. Die Röhre reißt. Aus dem lecken Kubus strömt Die Düfte Gottes. Eine Demonstranten-Traube umschwirrt den Kubus und inhaliert enthusiasmiert.

Die grüne Wolke um Casanovas Kopf wird braun. Erst hellbraun dann dunkel. Später heißt es, er hätte erbrochen. Man nimmt ihm die Haube ab. Er brüllt. Als wäre er Demonstrant. Casanova hat noch nie demonstriert. Nur gefickt.

Wegen den Frauen hat Casanova den Akzent des besagten Landes. Noch immer. Gott, brüllt er. Im Akzent des besagten Landes: Got. Oder besser: Kot. Casanova hebt seine Hände, und hält sie als würde eine jede eine Brust umfassen, und bewegt sie, als käme etwas wichtiges. Brüllt aber immer nur: Got. Oder besser: Kot. Und: Geruch. Oder Ruch.



Der Prediger des 13 A ist dem Akzent nach eindeutig. Ungarn. Auf einmal erhebt er sich. Man ist überrascht und schreckt sich.


Wird Casanova abgeführt?
Gelyncht?
In die Anstalt?
Vor Gericht?
Und Dimpfelmoser?
Wie fühlt er sich?
Besucht er ihn? Im Gefängnis?
In der Anstalt? Schreitet er endlich zur Tat? Für geistig Abnorme? Rechtsbrecher?
Wie wird die Anklage lauten?
Und: Was wird eigentlich aus den Gottes-Perlen? Die Kugeln, Sie wissen schon, die Casanova im spärlich beleuchteten Café -


Der Prediger des 13 A ist dem Akzent nach aus Ungarn. Auf einmal erhebt er sich. Man ist überrascht und schreckt sich womöglich. Er könnte ein Kontrolleur sein. Aber sein Gesicht ist sanft, wie der Mond, der scheint nur am Abend.
Beachten Sie die Bibel.
Brechen Sie nicht Ihre Ehe.
Beachten Sie nicht Ihres Nächsten Weib, Ochsen, Magd.


Das Mädchen, stehend, (wäre es denn sinnvoll, würde an dieser Stelle etwas über ihr Äußeres stehen) dreht sich halb zu mir um: Im Trat-ra, sie sagt den Namen des Buches des Gottes des Glaubens der Mehrheit der Menschen des besagten Landes, im Trat-ra steht das eh alles auch.

Weil natürlich überhaupt nichts davon im Trat-ra steht, dem Buch des Gottes des Glaubens der Mehrheit der Menschen des besagten Landes, will ich ihr widersprechen. Unhübsch ist sie ja nicht. Sie hat mich angesprochen, weil sie an meinen, und ihren, Migrationshintergrund glaubt.

Ansonsten ist zum Glauben zu sagen, was Adorno gesagt hat, daß Glauben nur das heißt, was angenommen wird, ohne daß es in Vernunft sich begründet. ****

Ich aber glaube: Ohne Bezugnahme auf Texte von Philosophen kommt ein literarischer heutzutage nicht aus.

Aber nicht daß Du glaubst, das verhieße was Gutes.

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* PSYCHO wie im Deutschen auszusprechen - wie bei Psychopath oder Psychotherapeut. Nicht wie im Englischen - um einer Verwechslung mit dem homophonen Namen einer Uhrenmanufaktur mit Firmensitz in Fernost (Umsatz 1,3 Mrd.€) vorzubeugen.

** Slavoj Zizek. IS THERE A PROPER WAY TO REMAKE A HITCHCOCK FILM?
http://www.lacan.com/hitch.html

*** Alexander Tisma. Die Schule der Gottlosigkeit

**** Theodor W. Adorno. Kants Kritik der reinen Vernunft, Frankfurt 1995

Mittwoch, 24. August 2011

Benjamins Thesen. Zu Band 19 der Kritischen Gesamtausgabe*

Der folgende – sehr erhellende – Artikel, den er mir nach der Lektüre meines Artikels „Emma und die Revolution im Iran“ (ebenfalls in diesem blog) zugeschickt hat, stammt aus der Feder von Prof. Dr. Helmut Dahmer, Soziologe, langjähriger leitender Redakteur der psychoanalytischen Monatszeitschrift Psyche und Spiritus rector des Zirkels Kritische Freunde der Freud’schen Psychoanalyse.
Helmut Dahmer lebt als freier Publizist in Wien. Veröffentlichungen u. a. "Libido und Gesellschaft" (1973, 1982), "Pseudonatur und Kritik" (1994), "Soziologie nach einem babarbarischen Jahrhundert"
(2001), "Divergenzen" (2009).



„Vergangenes historisch artikulieren heißt […], sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt“, schrieb der Mitte März 1933 aus Hitlerdeutschland nach Paris geflohene Philosoph und Literaturkritiker Walter Benjamin in der sechsten seiner achtzehn Thesen „Über den Begriff der Geschichte“. Nach dem Verlust der Publikationsmöglichkeiten bei deutschen Zeitungen und Verlagen in dürftigen Verhältnissen lebend, in steter Sorge um das Stipendium, das er von dem in die USA emigrierten (Frankfurter) „Institut für Sozialforschung“ erhielt, arbeitete Benjamin in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre vor allem an einer großen Studie über Baudelaire und (im Zusammenhang damit) an seinem unvollendet gebliebenen „Passagen-Werk“ . Der kampflose Sieg Hitlers über die deutsche Arbeiterbewegung und die Verleugnung dieser Niederlage durch die stalinisierte Komintern, der „Große Terror“ in der Sowjetunion mit den Moskauer Schauprozessen gegen die alten Bolschewiki, der Niedergang der „Volksfront“ in Frankreich und die Niederlage der Republikaner im spanischen Bürgerkrieg machten die Hoffnung des Emigranten auf eine europäische Arbeiterrevolution, die einen zweiten Weltkrieg verhindern könnte, zunichte. 1937/38 begann er, sich der „theoretischen Armatur“ zu vergewissern, die seinen historischen Arbeiten (über das deutsche Trauerspiel der Barockzeit und die Kunstkritik der deutschen Romantik) ebenso wie seinem ‚work in progress’ (der „Passagenarbeit“) zugrunde lag. In der Folge des Hitler-Stalin-Pakts vom 23. August 1939, der Hitler die Möglichkeit gab, halb Polen zu besetzen und sodann in rascher Folge auch Dänemark, Norwegen, die Niederlande und Belgien, geriet Benjamin – wie viele andere deutsche Flüchtlinge in Frankreich – in einen tödlichen Malstrom. Zunächst wurde er ins Olympia-Stadion von Colombes (bei Paris) beordert, das als Sammelplatz für „feindliche Ausländer“ diente, dort zehn Tage lang festgehalten und dann für drei Monate in einem anderen Auffanglager (in einem heruntergekommenen Schloß bei Nevers) interniert. Als er, gesundheitlich angeschlagen, Ende November endlich nach Paris zurückkehren konnte und seine Arbeit in der Nationalbibliothek wieder aufnahm, blieb ihm noch ein gutes halbes Jahr, ehe die deutschen Truppen (am 14. 6. 1940) Paris besetzten. Benjamin floh rechtzeitig mit Zehntausenden südwärts, über Lourdes nach Marseille. Max Horkheimer und anderen Freunden gelang es schließlich, ihn mit den erforderlichen Papieren auszustatten, die es ihm ermöglichen sollten, den Menschenfängern „Vichy“-Frankreichs und der Gestapo zu entkommen und über Franco-Spanien die Vereinigten Staaten zu erreichen. Doch der Alkalde von Port Bou, das Benjamin mit einer kleinen Gruppe von Flüchtlingen nach einem beschwerlichen Fußmarsch erreicht hatte, drohte, sie über die Grenze zurückzuschicken. Daraufhin endete Benjamin in der Nacht vom 26. auf den 27. September 1940 sein Leben mit Hilfe von Morphium-Tabletten.

In seine „Geschichtsphilosophischen Thesen“ nahm er Bruchstücke aus früher geschriebenen, veröffentlichten und unveröffentlicht gebliebenen Texten ebenso wie Zitate aus neueren Lektüren auf. Ihre definitive Gestalt erhielten sie erst in den Monaten, die auf den Schock des Hitler-Stalin-Paktes und der Internierung folgten, also zwischen Dezember 1939 und Mai 1940. Benjamin sorgte dafür, daß dies „Vermächtnis“ – das Legat einer „geschlagenen Gene-ration“ – in unterschiedlichen Versionen an einige wenige gute Freunde ging: Ein Exemplar erreichte über Hannah Arendt Theodor W. Adorno, ein anderes übermittelte seine Schwester Dora Benjamin mit Hilfe von Martin Domke eben-falls Adorno; der für Gershom Scholem bestimmte Text ging verloren, und das von Georges Bataille (mit anderen Manuskripten Benjamins) in der „Bibliothèque Nationale“ versteckte „Handexemplar“ der Thesen übergab dessen Witwe erst 1981 unter dem Siegel der Verschwiegenheit Giorgio Agamben...

Benjamin markierte drei Grundfehler „unserer linken Führer“: ihren Fort-schrittsoptimismus, das Vertrauen auf ihre „Massenbasis“ und „ihre servile Ei-nordnung in einen unkontrollierbaren Apparat“. Besonders dem „frömmelnden Optimismus“ galt (wie er Mitte Dezember 1939 an Horkheimer schrieb) sein „unerbittlicher Haß“. Einflußreiche Historiker des 19. Jahrhunderts wie Leopold von Ranke oder Fustel de Coulanges hatten die Geschichtsschreibung dem Modell der Naturwissenschaft anzunähern gesucht. „Geschichte“ imaginierten sie als eine Kette von Ereignissen, die in einer leeren, homogenen Zeit aufei-nander folgen und sich dann nacherzählen lassen. Benjamin schrieb, bei der Einfühlung dieser Historiker in vergangene Epochen handele es sich allemal um eine Identifikation mit den Siegern, und diese sei eine Folge von „Herzens-trägheit“ (acedia), nämlich der Weigerung, sich der namenlosen Fronsklaven, der Unterlegenen, der Opfer der Kultur zu erinnern und deren Perspektive ein-zunehmen. Unter dem Einfluß neukantianischer Philosophen (wie Paul Natorp und Karl Vorländer) zeichneten sozialdemokratische Ideologen (Benjamin nennt unter anderen Josef Dietzgen und Robert Schmidt) ein Bild der historischen Entwicklung, auf dem diese einer Rolltreppe glich, die die Menschheit langsam, aber unaufhaltsam ihrem „Ideal“, der Zukunftsgesellschaft, näherbrachte. Angesichts der Katastrophen seit 1914, der Greuel des Faschismus und des Umschlags der russischen Revolution in eine despotische Schreckensherrschaft plädierte Benjamin, der in den Thesen als der „historische Materialist“ (oder „Dialektiker“) auftritt, für einen radikalen Bruch mit der Vorstellung von Geschichte und Geschichtsschreibung, wie sie dem Historismus ebenso wie dem Vulgärmarxismus der Sozialdemokraten zugrunde lag.

„Die Gegenstände, die die Klosterregel den Brüdern zur Meditation anwies“, schrieb er, „hatten die Aufgabe, sie der Welt und ihrem Treiben abhold zu ma-chen. Der Gedankengang, den wir hier verfolgen, ist aus einer ähnlichen Be-stimmung hervorgegangen. Er beabsichtigt in einem Augenblick, da die Politi-ker, die solange das große Wort geführt haben, am Boden liegen und ihre Niederlage mit dem Verrat an der eigenen Sache bekräftigen, das politische Weltkind aus den Netzen zu lösen, mit denen sie es umgarnt hatten.“ (X. These)

Seinen „Brüdern“ im Geiste und in der Politik riet Benjamin, radikal mit liebge-wordenen Denkgewohnheiten zu brechen und ein neuartiges Geschichtsverständnis – das Faschismus wie Stalinismus Rechnung trägt – demjenigen ent-gegenzusetzen, an dem die (von ihm nicht genannten) Partei-Führer und -Ideologen festhielten, die aus ihren Niederlagen nichts gelernt hatten. In seinen Thesen umriß er die ihm vorschwebende gründliche Revision des vulgarisierten, konformistisch gewordenen historischen Materialismus. Weder Max Horkheimer, noch Gretel Adorno mochte er sie in ihrer provisorischen Fassung vorlegen, schon gar nicht wollte er sie veröffentlicht sehen. Er fürchtete das „enthusiastische Mißverständnis“ und hatte bei der Redaktion mindestens einer der überlieferten sechs Varianten auch die (französische) Zensur im Sinn. So ließ er fort, was er bei den wenigen guten Freunden, die seinen Text lesen sollten, glaubte voraussetzen zu können. Dieser elliptische („knappe“, „redu-zierte“) und darum enigmatische Charakter seiner Thesen hat, seit sie (1942 beziehungsweise 1950) veröffentlicht wurden, nicht wenig zu Fehldeutungen beigetragen. Günther Stern-Anders hielt sie (laut Brecht) für „dunkel und ver-worren“, Brecht selbst aber (1941) für „klar und entwirrend“; Adorno und Hork-heimer sahen, daß Benjamins „letzte Konzeption“ ihren eigenen Intentionen nahekam, bemängelten aber „eine gewisse Naivität in den Partien, in denen von Marxismus und Politik die Rede ist“, beziehungsweise die allzu „unverhüllte“ Terminologie. Hannah Arendt und Heinrich Blücher wiederum hielten die Thesen für eine Art Abrechnung mit der Philosophie Horkheimers und Adornos, und Arendt fürchtete gar, diese „Schweinebande“ werde den Text „einfach un-terschlagen“: „Die werden sich rächen, wie sich Benji im Grunde durch Schrei-ben dieser Sache gerächt hat.“ Jüngst noch meinte ein Rezensent, vor vier, fünf Jahrzehnten habe Benjamins „rätselhafte Orakelrede“ als eine Art „heiliger Text“ gegolten, nun aber – in der neuen Edition – erwiesen sich seine Thesen als ein weit überschätzter, widersprüchlicher und „diffuser Komplex von Papieren“.
Die früheste (H. Arendt übergebene) wie die späteste Fassung der Thesen (in Benjamins „Handexemplar“) nimmt im Druck nur 12 oder 13 Seiten ein. In dem von Gérard Raulet herausgegebenen Band 19 der Kritischen Gesamt-ausgabe der Werke und des Nachlasses von Benjamin umfassen die sechs verschiedenen, chronologisch angeordneten Versionen der Thesen (samt Faksimiles) etwa 100 Druckseiten. Sie werden ergänzt durch 50 Seiten Ben-jaminscher Entwürfe, und darauf folgt erst der Kommentar, der (31 Briefe aus den Jahren 1940-1967 eingeschlossen) 200 Seiten umfaßt. Vor dem Hintergrund all’ dieser Materialien wird deutlich, warum Benjamins Reflexionen schon bei den ersten Lesern so unterschiedliche Reaktionen hervorriefen. Der Versuch, den gesamten Thesen-Komplex, wie ihn die neue Edition präsentiert, aus den Fragmenten, die Benjamin seinen Freunden übermittelt hatte, zu erschließen, mußte scheitern. Denn Benjamin hatte gerade diejenigen Notate, in denen er das „Programm“ der Thesen formulierte , zurückbehalten (oder schon im Entwurf gestrichen), so als folge er der Maxime „Das Beste, was du wissen kannst, darfst du den Buben doch nicht sagen.“

Erst die Reunion der verstreuten Versionen und Entwürfe zeigt, daß es sich bei den Thesen um die Disposition zu einem theologisch-politischen Traktat handelt. Dessen Thema ist die ausstehende Revolution, eine, die dem ruinösen „Fortschritt“, wie er im Rahmen von Ausbeutungsverhältnissen gedeiht, „Trümmer auf Trümmer häuft“ und Massaker auf Massaker, ein Ende setzt. Der Leser meint, einem Gespräch der unterschiedlichen Personen beizuwohnen, die Walter Benjamin in sich vereinigte, oder hört aus diesem Symposion die einander widerstreitenden Stimmen seiner Freunde Bertolt Brecht und Gershom Scholem heraus. Auch andere seiner literarischen Favoriten kommen zu Wort: Marcel Proust bringt die Lehre von der unwillkürlichen Erinnerung einer verlorenen Zeit als einer „Jetztzeit“ ein, Schlegel und Novalis mahnen, „wir sind auf der Erde erwartet worden“, und Franz Kafka gibt zu bedenken: „Die frohe Botschaft, die der Historiker der Vergangenheit mit fliegenden Pulsen bringt, kommt aus einem Munde, der vielleicht schon im Augenblick, da er sich auftut, ins Leere spricht“…

„Das Subjekt historischer Erkenntnis ist die kämpfende, unterdrückte Klasse selbst“, heißt es (im Anschluß an Georg Lukács) in der XII. These. Der revolutionäre Historiker ist deren Mandatar. Im Unheil der Gegenwart manifes-tiert sich ihm die Quintessenz (oder „Abbreviatur“) der gesamten Klassenge-schichte. Wo andere dem technischen Fortschritt huldigen, erblickt er dessen Nachtseite, den gesellschaftlichen Rückschritt. Wo andere die Kulturgüter feiern, erinnert er sich mit Grausen der Generationen von Fronarbeitern, die ver-nutzt wurden, um sie zu schaffen.

Mit Rosa Luxemburg (im Text ist von „Spartacus“ die Rede) erkennt Benjamin in der Katastrophe die wahre „Daseinsform“ des Kapitalismus , in der vermeintlichen Ausnahme die Regel. Weder die Führer, Ideologen und Anhänger der sozialdemokratisch-reformistischen noch die der stalinisierten kommunistischen Parteien haben dem sich gewachsen gezeigt; ihr Fort-schrittsoptimismus schlug sie mit Blindheit. 1914 wie 1933 und 1939 wurden sie von den „Ereignissen“ überrascht.

Benjamin war – wie Sigmund Freud – vor allem am „Problem der Erin-nerung (und des Vergessens)“ interessiert, und wie dieser überzeugt, daß stets das Beste vergessen wird, das nämlich, was, zur Erinnerung gebracht, aus dem Irrgarten des Seelen- und Soziallebens herausführen kann. In scheinbar aussichtslosen Situationen erschließt oft nur der Rückweg einen Ausweg. So drängen sich Individuen wie Kollektiven in Augenblicken äußerster Gefährdung unwillkürlich Erinnerungsbilder (Szenen) aus ihrer Geschichte auf. Ein verborgener – ebenso bedrückender wie befreiender – Zusammenhang zwischen einer bestimmten historischen Situation und der aktuellen wird plötzlich kenntlich und eröffnet dem Mann der Feder wie dem Mann der Tat eine „revolutionäre Chance im Kampfe für die unterdrückte Vergangenheit“ und gegen eine Zukunft, die ihr gleicht. Vergangenheit und Gegenwart finden zu einer flüchtigen, höchst bedeutsamen Konstellation zusammen. So war, schreibt Benjamin, für Robespierre und die Seinen das antike Rom „eine mit >Jetztzeit< geladene Vergangenheit“, und so verstanden sich (fügen wir hinzu) die Bolschewiki als neue Jakobiner (und fürchteten einen russischen „Thermidor“). Benjamin, der historische Materialist, holte sich bei Fortschritts-Skeptikern (wie Baudelaire), utopischen Sozialisten (wie Fourier) und intransigenten Revolutionären (wie Blanqui) Rat, vor allem aber bei Marx selbst, dessen kritische Begriffe von Arbeit, Natur und klassenloser Gesellschaft er sich zu eigen machte. Im Hintergrund der modernen Konzeptionen der Weltgeschichte steht noch immer die Heilsgeschichte. „Marx hat in der Vorstellung der klassenlosen Gesellschaft die Vorstellung der messianischen Zeit säkularisiert“, schrieb Benjamin im Handexemplar seiner Thesen. Eben dies haben die Marx-Epigonen verdrängt. Die „messianische“ Zeit beginnt, wenn der Krieg aller gegen alle entbehrlich wird und die „freie Assoziation der Produzenten“ aufhört, ihre Naturbasis zu verwüsten. Der „Messias“ aber wird erst kommen, wenn wir ihn nicht mehr brauchen. Die klassenlose Gesellschaft wird von leidenden und denkenden Menschen herbeigeführt; sie löst die blutige Ära der Klassengesellschaften ab. Daran muß das Denken und Handeln der Revolutionäre sich messen lassen. Denn daß alles so weitergeht wie jetzt und immer schon, ist die eigentliche Katastrophe. War die Geschichte der Klassenkämpfe eine endlose Folge von Massakern, so kommt alles darauf an, diese verhängnisvolle „Kontinuität“ aufzusprengen, also einen „wirklichen Ausnahmezustand“ (Benjamin) herbeizu-führen. „Die klassenlose Gesellschaft ist nicht das Endziel des Fortschritts in der Geschichte sondern dessen so oft mißglückte, endlich bewerkstelligte Unterbrechung.“ Hatte Marx im Rahmen der Eisenbahn-Metaphorik des 19. Jahrhunderts in den Revolutionen noch „Lokomotiven“ gesehen, die den langsamen Zug der gesellschaftlichen Entwicklung beschleunigen können, so hatte Benjamin, ein halbes Jahrhundert später, eine ganz andere Funktion der Revolutionen im Sinn: „Vielleicht sind [sie] der Griff des in diesem Zug reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.“

Benjamins Thesen haben der Lektüre von Trotzkis Revolutionsgeschich-te vielleicht ebensoviel zu verdanken wie der Kabbala. Diese seine „Quellen“ aber teilen inzwischen das Schicksal der Schriften Auguste Blanquis, von dem Benjamin sagte, es sei der „Sozialdemokratie“ gelungen, seinen Namen, „des-sen Erzklang das [19.] Jahrhundert erschüttert hat“, „fast auszulöschen“. In tiefer Vergessenheit harren sie einer Generation, die sie wieder herbeizitiert, weil sie verzweifelt nach einem Ausweg sucht. Denn auch nach dem Untergang Hitlers und Stalins hinterläßt uns der „Fortschritt“ allenthalben verbrannte Erde, Ruinen und Massengräber.

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* Benjamin, Walter (2010): Über den Begriff der Geschichte. Werke und Nachlaß, Kritische Gesamtausgabe, Bd. 19. Herausgegeben von Gérard Raulet. Berlin (Suhrkamp), 380 Seiten, 34.80 Euro.
1) Benjamin (1974): Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus. In: Benjamin, Gesam-melte Schriften, Bd. I. 2, Frankfurt, S. 509-690.
2) Benjamin (1982): Das Passagen-Werk. Ges. Schr., Bd. V. 1 und 2, Frankfurt.

3) Matz, Wolfgang (2010): „Der Engel der Philologie muß so aussehen.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. 8. 2010, S. 32.

4) Es handelt sich dabei vor allem um das Konvolut IV mit dem Entwurf einer These XVII a (messianische Zeit und klassenlose Gesellschaft, S. 152 f.) und um die (nur im Handexemplar enthaltene) These XVIII (über Neu-kantianismus und Sozialdemokratie, S. 42 f.).

5) „Der Imperialismus führt […] die Katastrophe als Daseinsform aus der Peripherie der kapitalistischen Entwick-lung nach ihrem Ausgangspunkt zurück. Nachdem die Expansion des Kapitals vier Jahrhunderte lang die Exis-tenz und die Kultur aller nichtkapitalistischen Völker in Asien, Afrika, Amerika und Australien unaufhörlichen Konvulsionen und dem massenhaften Untergang preisgegeben hatte, stürzt sie jetzt die Kulturvölker Europas selbst in eine Serie von Katastrophen, deren Schlußergebnis nur der Untergang der Kultur oder der Übergang zur sozialistischen Produktionsweise sein kann.“ Luxemburg, Rosa ([1915] 1919): Die Akkumulation des Kapitals oder Was die Epigonen aus der Marxschen Theorie gemacht haben. Eine Antikritik. In: Luxemburg (1975): Gesammelte Werke, Bd. 5, Berlin, S. 521.

6) „Aber das Vergessen betrifft immer das Beste, denn es betrifft die Möglichkeit der Erlösung.“ Benjamin ([1934] 1955): „Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages.“ In: Benjamin (1977): Ges. Schr., Bd. II.2, Frankfurt, S. 434.

7) Die Folge dieser Säkularisierung veranschaulichte er in der I. seiner Thesen mit Hilfe einer Parabel: Im 18. Jahrhundert trat der Baron von Kempelen mit einem unschlagbaren Schachspiel-Automaten auf. Es handelte sich dabei um „eine Puppe in türkischer Tracht“, die – wie eine Marionette – von einem „buckligen Zwerg“ mit Hilfe von verborgenen Schnüren gelenkt wurde, der sich im Inneren des Schachtischs verbarg und ein wirklicher Großmeister war. Benjamin schreibt, zum Verhältnis von Puppe und Zwerg finde sich eine Art „Gegenstück in der Philosophie“: Die Puppe „historischer Materialismus“ könne es „ohne weiteres mit jedem aufnehmen, wenn sie die Theologie in ihren Dienst nimmt, die heute bekanntlich klein und häßlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen.“

8) Vgl. Kafka, Franz (1953): Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß. Ge-sammelte Werke, hg. von Max Brod. („Das dritte Oktavheft“, Eintrag vom 4. 12. 1917.) Frankfurt, S. 90.

9) „Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privat-eigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert.“ Marx, Karl (1867): Das Kapital. Kritik der politi-schen Ökonomie. Marx-Engels-Werke, Bd. 23, Berlin 1962, Kap. 24, S. 791.

10) „Im übrigen war ich vierzehn Tage ganz im Russischen versunken: ich habe erst die Geschichte der Februar-revolution von Trotzki gelesen und bin jetzt im Begriff, seine Autobiographie zu beendigen. Seit Jahren glaube ich nichts mit so atemloser Spannung in mich aufgenommen zu haben.“ Benjamin an Gretel Karplus, Mitte Mai 1932. In: Benjamin (1998): Gesammelte Briefe, Bd. IV (1931-1934), Frankfurt, S. 97.