Dienstag, 28. April 2020

"Exekution ist keine Kunst!" (6)


Adolph Reed: There is no American Left, but after Bernie, there is ...
Adolph L. Reed
Magisch und magisch 

Das Glückskonzept, das wir der Rezeptionstheorie Adornos und der Sennettschen Kultur der öffentlichen Darstellung zuschreiben, ist – als antinarzisstisches Prinzip – negativ bestimmt. Zwar würden Versuche, die rituellen Formen des affektiven Austauschs, die Sennett bei der Beschreibung des „Menschen als Schauspieler“ im Blick hat, für die Gegenwart konkreter zu bestimmen, gar der Versuch, aristokratisch geprägte, im 18. Jahrhundert gepflegte Formen der öffentlichen Darstellung wiederzubeleben, Gefahr laufen, lächerlich zu wirken. Es lohnt aber, bei der von Adorno empfohlenen Rezeptionshaltung zu Kunstwerken und bei der diesseitigen, schauspielerischen Kunst der öffentlichen Darstellung im Sennettschen Sinn den Mechanismus jener „Glücksproduktion“ genauer anzusehen.

Wir gehen ja, Adorno folgend, davon aus, dass der Verzicht auf narzisstische und „grobsinnliche“ Kunstbeute die Voraussetzung für Kunstglück bildet. Was aber, wenn überhaupt etwas, unterscheidet das Glück, das diesem Verzicht folgen soll, von jenem, das etwa aus der Hingabe an Wissenschaft oder Philosophie resultieren mag – falls wir Philosophie und Wissenschaft überhaupt das Potential zuschreiben wollen, uns so etwas wie Glück zu bescheren?

Mit Adorno hatten wir oben die Kunst als eine „aus der Sphäre des bloßen empirischen Daseins herausgegliedert[e]“ bestimmt. In der folgenden Vorlesungssitzung nennt er den Bereich der Kunst einen „säkularisiert magischen Bereich, das [sic]44 mit der empirischen Realität zwar durch seine Elemente zusammenhängt und auf sie auch schließlich [...], kritisch oder utopisch, sich bezieht, das aber nicht unmittelbar, soweit es ein ästhetisches ist [...] selbst als ein Stück der leibhaftigen Wirklichkeit erfahren wird [Hervorhebung von mir].“45 

Die Charakterisierung der Sphäre der Kunst als eine

(säkularisiert-)magische impliziert das Tabu, sich dem Kunstwerk gegenüber so zu verhalten „wie wir uns einer guten Speise – oder lassen Sie mich sagen: einem sehr guten Wein – gegenüber verhalten.“46 Magisch ist hier ein Äquivalent von sakral. Angesichts des historischen Ursprungs der Kunst im Bereich des Sakralen und des Magischen, und der Verknüpfung des Heiligen mit dem Unantastbaren, wie sie im Begriff Tabu begegnet, geht es Adorno um die, diesem „Ursprung im Heiligen“ geschuldete, Distanz und Ehrfurcht gebietende, mitunter gefährliche47 Kraft, die von Kunst als einem magischen – mittlerweile aber säkularisiert-magischen – Bezirk noch heute ausgeht. Dieser Tabu-Aspekt der Kunst, auf den der Begriff magisch hier verweist, entspricht der erwähnten negativen Bestimmung von Adornos antinarzisstischem Kunstglück-Konzept.

Bei der Suche nach dem Mechanismus der „Produktion“ von Kunstglück bei Adorno scheint es aber aufschlussreicher, sich an der alltagssprachlichen Bedeutung von magisch zu halten und an Assoziationen aus der Welt der Kindheit und der Märchen – unter der Überschrift Zauberei. Scheint uns doch die Unterscheidung zwischen magisch und magisch – dem Magischen, das die Grenze zwischen der Sphäre der Kunst und der des Empirischen anzeigt, und jenem Magischen andererseits, das uns am Kunstwerk zu verzaubern und zu beglücken vermag – der Antwort auf die Frage, was das für ein Glück sein soll, das die Kunst uns beschert, und wie sie es uns beschert, näher zu bringen. Auch indem sie auf die oben entwickelte erste Paradoxie des Kunstglücks (erst der Verzicht auf narzisstische und „grobsinnliche“ Kunstbeute ermöglicht Kunstglück) ein neues Licht wirft: Nur wer jene magische Grenze (magisch im ersteren Sinn), die den Bereich der Kunst von dem empirischen trennt, anzuerkennen bereit ist, kann am magischen Glück teilhaben (magisch im zweiten Sinn), das Kunst zu schenken vermag. Und es ist der seit Jahrzehnten um sich greifende Verlust der Fähigkeit – und der Bereitschaft – zu dieser ästhetischen Distanz, der jene konkretistische „Kunstauffassung“ gebiert, die uns in Zusammenhang mit den Debatten um Scaffold und den Forderungen nach Trigger Warnings begegnet. Und die ihre Träger die Kategorie des „Kunstschrecklichen“ verfehlen und Kunstwerke wie Scaffold als etwas real Schreckliches wahrnehmen lässt. 

Die Kunstfremdheit Hegels 

Bevor wir den gesellschaftspolitischen Kontext dieser – die Kultur der Gegenwart prägenden – „Kunstauffassung“ näher in den Blick nehmen, ein Wort noch zu der eben entwickelten, zweiten Bedeutung von magisch als einem für das Kunstglück wesentlichen Begriff. Ich sagte, dass uns die Unterscheidung dieser zweiten Bedeutung des Magischen von der ersten der Frage, was das für ein Glück sein soll, das die Kunst uns beschert, näher zu bringen scheint – mit Betonung auf scheint: Jeder Versuch dies Magische im zweiten, „naiven“ Sinn über die mehr oder weniger diffusen Assoziationen, die das Wort in jedem von uns auslösen mag, hinaus, näher zu bestimmen, stößt auf jene Grenze des „je ne sais quoi“ („ich weiß nicht, was“), die Marivaux schon 1734 zog, um Versuche, das Kunstschöne zu objektifizieren, in die Schranken zu weisen. Auch sein Zeitgenosse, Johann Mattheson, der große Musiktheoretiker des Barock, schlägt in eine ähnliche Kerbe, wenn er in seinem Standardwerk „Der vollkommene Capellmeister“ zu Beginn des Kapitels „Von der melodischen Erfindung“ schreibt: „Das ist ein herrlicher Titel, wird mancher dencken [sic]: da muß es lauter schöne Einfälle regnen!“,48 um dann die Frage der Lehrbarkeit der „Erfindung und Verfertigung solcher singbarer Sätze“49, also von Melodien, grundsätzlich zu verneinen – auch wenn er seinem Grundsatz in weiterer Folge dann untreu wird. 

Hatte dies „je ne sais quoi“ bei der Bestimmung des Kunstschönen schon im 18. Jahrhundert Geltung beansprucht, gilt es seit der radikalen Abkehr der Kunst des 20. Jahrhunderts von konventionellen Formen umso mehr.

„Nun ist es aber bei der Kunst ganz sicher so, oder bei der Frage nach dem Schönen überhaupt, daß sie gerade an diesem Moment des [...] nicht ganz zu Greifenden, des nicht dingfest zu machenden ihr Lebenselement hat.“50 

sagt Adorno in der dritten Sitzung jener 1958/59 abgehaltenen Vorlesungen zur Ästhetik, um in Folge auf die Begriffe „Kultwert“ und „Aura“ bei Walter Benjamin zu verweisen. Und der ästhetischen Theorie Hegels, dem er wesentliche Anregungen für seine eigene verdankt, vorzuwerfen, sie würde, eben weil sie dieses Moment des Unbestimmten nicht würdige, die Dimension der Erfahrung des Kunstwerks zu verfehlen:

„Und es ist vielleicht doch gut, wenn ich schon jetzt sage, daß – so groß auch der Fortschritt ist, den Hegel in der Ästhetik durch die Subjekt-Objekt-Dialektik und das Hineinnehmen inhaltlicher Bestimmungen über den ästhetischen Formalismus des 18. Jahrhunderts gemacht hat –, daß doch dieser Fortschritt [...] bezahlt wird durch einen Moment [...] des Kunstfremden, mit einem Überschuß von Stofflichkeit, der manchmal dazu führt, daß man den Verdacht hegt, bei aller ihrer Großartigkeit ist diese Kunstphilosophie eigentlich der Erfahrung des Kunstwerks selber, die nun gerade in diesem Ephemeren besteht, gar nicht so ganz mächtig.“51 

Während aber die tatsächliche oder vermeintliche Kunstfremdheit Hegels auf dem tatsächlichen oder vermeintlichen Verfehlen jenes magisch-ephemeren Moments am Kunstwerk gründet, also des magischen Moments im zweiten Sinn, fehlt Trägern der heute verbreiteten konkretistischen „Kunstauffassung“ die Fähigkeit, jenes Moment des Magischen am Kunstwerk zu erkennen, das die Grenze zwischen Kunst und dem Bereich des Empirischen anzeigt. So gehen sie der Teilhabe am magischen Moment der Kunst auch noch im zweiten Sinne verlustig. 

Narzissmus und Identitätspolitik 

Proteste wie jene gegen Scaffold oder gegen Dana Schutz’ Gemälde Open Cascet,52 aber auch ein großer Teil der Forderungen nach Trigger Warnings erfolgen aus identitätspolitischen Positionen heraus. Um Missverständnisse rund um einen, oft diffus verwendeten Begriff zu vermeiden: Identitätspolitik ist kein anderer Name für den Kampf gegen die Unterdrückung von marginalisierten gesellschaftlichen Gruppen und für deren Rechte. Vertretern von Identitätspolitik ist es, im Gegenteil, um den – narzisstischen – Gewinn zu tun, den die Unterdrückung „ihres“ jeweiligen Kollektivs abwirft. So gründet die afroamerikanische Autorin Debra Dickersen Identität, Stolz und Selbstachtung „ihres“ Kollektivs auf dessen Abstammung (sic!) von westafrikanischen Sklaven. Weshalb sie Barack Obama, dem Sohn eines Kenianers und einer weissen US-Amerikanerin, das „Schwarzsein“ abspricht.53 Und die – schwarze – britische Künstlerin Hannah Black forderte, Open Cascet, ein Bild der – weissen – Künstlerin Dana Schutz, inspiriert von der Fotografie der Leiche des 15-jährigen 1955 von Weissen gelynchten schwarzen Jungen, Emett Till, nicht nur zu entfernen, sondern auch zu zerstören. Denn: „[T]he subject matter“, schreibt Black, „is not Schutz’“.54 Auch hier geht es nicht um die Beseitigung von Ungerechtigkeit und Unterdrückung. Sondern um den Gewinn, der sich aus der bloßen Thematisierung der Unterdrückung eines Kollektivs ergibt, ein Thema, das IdentitätspolitikerInnen vom Schlage Blacks eifersüchtig hüten wie einen Schatz. Die triviale Frage, woher Vertreter der Identitätspolitik (in diesem Fall die zum Zeitpunkt der Kontroverse in Berlin lebende Britin Hannah Black) die Legitimation beziehen, für die Angehörigen „ihres“ Kollektivs (in diesem Fall für Millionen von AfroamerikanerInnen in den USA) zu sprechen, wird meines Wissens kaum je gestellt.

Zu Ende gedacht, läuft Identitätspolitik auf die Festschreibung von Diskriminierung hinaus. In der Theorie – oft auch in der sozioökonomischen Praxis, wie der afroamerikanische politische Theoretiker Adolph L. Reed, eindrücklich gezeigt hat. Reed schreibt seit Jahrzehnten gegen den „race reductionism“ und jene Identitätspolitik an, die Schwarze unter Ausblendung der Klassenfrage als homogene Masse darstellt, und deren Nutznießer, wie er schon 1979 für den Zeitraum zwischen den (späten) 1960ern und dem Ende der 1970er Jahre nachweisen konnte, schwarze Eliten waren – und heute noch sind. Während sich die soziale und ökonomische Lage unterprivilegierter Afroamerikaner (Reed zieht die Parameter Beschäftigung, Kaufkraft, Wohnqualität und Lebenserwartung heran) im selben Zeitraum weiter verschlechterte.55 

Der Narzissmus der Vertreter der Identitätspolitik, der sie die Kategorie Politik verfehlen lässt – politische Politik, die reale Verhältnisse im Blick hat, nicht bloß imaginäre Identitätskonstruktionen –, derselbe Narzissmus macht es denselben IdentitätspolitikerInnen – qua konkretistischer Kunstauffassung – unmöglich, Kunstwerke als Kunstwerke wahrzunehmen.

Um es in der Sprache der Psychoanalyse, genauer der zweiten Freudschen Triebtheorie, zu sagen: Identitätspolitik beschert ihren Vertretern einen Zugewinn an narzisstischer Libido, also an Stolz und Selbstachtung, auf Kosten von Objektlibido, also des Interesses an real existierenden Objekten und Strukturen – auf genau diesen Zusammenhang scheint ja Reeds Befund zu verweisen. Auch in ihrer Begegnung mit Kunst bleiben AnhängerInnen der Identitätspolitik, sofern das Dargestellte bestimmte in Zusammenhang mit „ihrem“ Kollektiv stehende Emotionen zu triggern scheint, an ihrem Ich fixiert (Stichwort narzisstische Libido), das seinerseits mit einem – imaginären – Kollektiv identifiziert ist, ohne bereit oder in der Lage zu sein, die Grenzen dieses ihres „identitären“ Ichs zu überschreiten. Und den objektiven (Stichwort Objektlibido) Sinnzusammenhang des Kunstwerks wahrzunehmen. Von einer Hingabe an das Kunstwerk, im Sinne Adornos ganz zu schweigen. So verfehlen sie das magische Moment in der Kunst, wie gezeigt, im doppelten Sinn. 

wird fortgesetzt 

44 Laut Duden sind sowohl der als auch das Bereich richtig, im heutigen Sprachgebrauch überwiegt jedoch der Gebrauch des Maskulinums. 

45 Theodor W. Adorno, Ästhetik (Vorlesungen 1958/59), Frankfurt am Main 2017, S. 187 

46 Adorno, Ästhetik (Vorlesungen 1958/59), S. 178 

47 Vgl. Sama Maani, Warum wir über den Islam nicht reden können. In ders., Warum wir fremde Kulturen nicht respektieren sollten. Und die eigene auch nicht, Klagenfurt 2015, S. 14 

48 Ebd.Johann Mattheson, Der vollkommene Capellmeister, Kassel 1995, S. 121

49 Ebd., S. 133 

50 Adorno, Ästhetik (Vorlesungen 1958/59), S. 43 

51 Ebd., S. 133 



53 Vgl. Sama Maani, „Obama ist nicht schwarz“ – oder die Krux mit der Identitätspolitik. In ders., Warum wir Linke über den Islam nicht reden können, Klagenfurt 2019, S. 58 


Donnerstag, 16. April 2020

"Exekution ist keine Kunst!" (5)

Johann Peter Eckermann – Wikipedia
Johann Peter Eckermann
Üppiges Leben 

In scharfem Kontrast zu jenem Selbstverzicht, den Adorno als Voraussetzung des Kunstglücks im Blick hat, steht auch die Rezeptionshaltung der Vertreter der gegenwärtigen „Kultur des Narzissmus“, die Richard Schuberth in seinem aufschlussreichen Buch Narzissmus und Konformität aufs Korn nimmt. Diese empfinden schon den Gedanken, auf ein Kunstwerk zuzugehen, als Zumutung, erwarten vielmehr vom Kunstwerk, dass es auf sie zukomme, um sie genau dort abzuholen, wo sie sich zufällig gerade befinden. Bilder, Filme, Texte oder Musik, die sie nicht „verstehen“, erleben sie als narzisstische Kränkung. 

„Eine Frage der Zeit nur“, so Schuberth, „bis die seelische Kränkung, die durch das Unverständnis eines Textes erfahren wird und eben nichts anderes als eine narzisstische ist, klagbar wird und sprachliche Brillanz als sozial schädliches Verhalten gerichtliche Verfolgung oder Zwangstherapie nach sich zieht.“37 

Auch der von Verlagslektoren, Zeitungsredakteuren, Radio- und Fernsehjournalisten regelmäßig an die Adresse von Autoren gerichtete Appell, „dass man sich bitte so ausdrücken sollte, dass es einfache Menschen auch verstünden“, fällt in die Kategorie „gekränkter Narzissmus“, lässt er doch „reale Halbbildung eine fiktive Unbildung missbrauchen, um fiktive Eliten zu düpieren. Am schlimmsten gebärden sich jene selbsternannten Volkstribunen, welche die imaginäre Demarkationslinie zwischen dem, was alle verstehen, und dem, was sie gerade nicht mehr verstehen, gegen vermeintliche Bildungsarroganz verteidigen und ihren eigenen permanent gekränkten Narzissmus als Volonté générale behaupten. Der einfache Mann von der Straße, dem sie sich als Mediatoren zwischen bodenständig und abgehoben ja doch überlegen wähnen, dient ihnen als Ausrede, um ihre eigene Denk- und Sprachfaulheit zu monopolisieren gegen die geistige Filiale eines numinosen Die da oben.“ 38 

*

Die Rede war von Adornos Plädoyer, auf den Anspruch, vom Kunstwerk „etwas haben zu wollen“, zu verzichten – Askese als Bedingung der Möglichkeit einer geglückten Kunstrezeption. „Askese“ sollten wir hier aber nicht undialektisch und ergo allzu wörtlich auffassen. Stellt doch die asketische Rezeptionshaltung, die Adorno hier im Blick hat, die Voraussetzung für jenes – letztlich „anasketische“ – Glück dar, für jenen Genuss, den das Kunstwerk dem Subjekt immer dann zu schenken vermag, wenn dieses bereit ist, sich seinerseits dem Kunstwerk zu schenken.

Dass es falsch wäre, diese Askese im Dienste des Kunstglücks mit einer asketischen Haltung im „Diesseits des Leben“ zu verwechseln, zeigt Adornos bereits zitiertes Plädoyer für das üppige Leben („Umgekehrt wäre es besser“), das er jenen entgegenschleudert, die sich „die Kunst üppig und das Leben asketisch“ wünschen.

Üppiges Leben. Das schöne Wort wirft uns unversehens auf den von Freud – und Goethe – geäußerten Verdacht von dessen (Beinahe-)Unmöglichkeit zurück. Auf die Befürchtung, dass „unsere Glücksmöglichkeiten schon durch unsere Konstitution beschränkt“ sind. Und auf die Hypothese, dass, so gesehen, der „Kultur“, insbesondere auch der Kunst, die Rolle einer Glückspädagogin zukommt. So schließt sich der Kreis, und wir können von hier aus die Beziehung zwischen dem Glück in der Kunst und jenem im Alltag noch einmal in den Blick nehmen und uns fragen: Lassen sich unsere Überlegungen zum Kunstglück auch mit der Sphäre diesseits der Kunst in Beziehung setzten? Genauer: Kann uns – über das Glück, das uns Kunst als Kunst zuteil werden lassen kann hinaus – das Verständnis der beschriebenen Voraussetzungen des Kunstglücks helfen, auch im Alltag glücklich(er) zu sein? 

Der Mensch als Schauspieler 

In Montesquieus Briefroman Persische Briefe, einem Schlüsseltext der Aufklärung, halten zwei fiktive Bewohner der persischen Stadt Isphahan, die nach Frankreich reisen, ihren französischen Zeitgenossen einen fremden, satirisch-kulturkritischen Spiegel vor. Im 18. Kapitel des Romans

„findet sich eine wunderbare Schilderung, wie der Held des Buches [eigentlich einer der beiden Helden, Anm. von mir] eines Abends in die Comédie Francaise spaziert und nicht unterscheiden kann, wer eigentlich auf der Bühne steht, und wer zuschaut. Alles stolziert herum, posiert, läßt es sich wohl sein. Unterhaltung, spöttische Toleranz und Vergnügen an der Gesellschaft der Freude – diese Stimmungslage war in der Alltagsvorstellung vom Menschen als Schauspieler enthalten.“39 

„Der Mensch als Schauspieler“ ist ein Begriff mit dem Richard Sennett in seinem 1974 publizierten Klassiker Verfall und Ende des öffentlichen Lebens die Öffentlichkeit des Ancien Régimes zu charakterisieren versucht. The Fall of Public Man, so der Originaltitel, beklagt das Absterben der theatralischen Dimension der Öffentlichkeit, die in den urbanen Gesellschaften Europas um 1750 ihren Höhepunkt erreichte, und die – seit dem  bürgerlichen 19. Jahrhundert – zunehmend um sich greifende „Tyrannei der Intimität“.

„Der Schauspieler in der Öffentlichkeit“, schreibt Sennett, „ist derjenige, der Emotionen darstellt. Tatsächlich ist Ausdruck als Darstellung von Emotion ein sehr grundlegendes Prinzip [...] Nehmen wir an, jemand erzählt einem anderen von den Tagen, da sein Vater im Krankhaus gestorben ist. Heute würde die bloße Nacherzählung aller Einzelheiten ausreichen, um beim anderen Mitleid zu wecken. Starke Eindrücke, genau beschrieben, sind für uns identisch mit Ausdruck. Aber man stelle sich eine Situation oder eine Gesellschaft vor, in der die bloße Wiedergabe der Einzelheiten des Leidens für den anderen nichts bedeutet. Der, der diese Augenblicke nacherzählt, müßte sie nicht nur vergegenwärtigen, er müßte sie auch formen, müßte einiges hervorheben, anderes zurückdrängen, müßte seinen Bericht womöglich sogar verfälschen, um ihn in eine Form zu bringen, [...] [die] der Zuhörer mit dem Sterben verbindet. Unter diesen Bedingungen will der Sprecher seinem Zuhörer den Tod in seinen Einzelheiten so darstellen, daß sich das Bild eines mitleiderregenden Ereignisses ergibt. In diesem Sinn ist die Reaktion ‚Mitleid’ losgelöst von dem besonderen Todesfall, um den es geht. Mitleid existiert als unabhängige Emotion, die sich keineswegs mit der Lage, in der man sich befindet, wandelt [Hervorhebungen von mir].“40 

In der öffentlichen Sphäre urbaner europäischer Gesellschaften um 1750 ging es den Menschen Sennett zufolge nicht um den unmittelbaren Ausdruck je eigener „authentischer“ Gefühle. Sondern um die Darstellung allgemein anerkannter Formen. In seiner schockierenden Fremdheit – auch bei der Mitteilung einer derart „existentiellen“ Erfahrung wie die des Todes seines Vater ist es dem Mitteilenden um die richtige Darstellung einer allgemeinen, konventionellen Form zu tun, nicht um den unmittelbaren Ausdruck des eigenen Leids – ist Sennetts Beispiel geeignet, unsere gewohnten, von den Imperativen der „Authentizität“ geprägten, Vorstellungen von Kommunikation radikal zu dekonstruieren.

Mit der Klage über den Verfall dieser Kultur der öffentlichen Darstellung will Sennett freilich nicht der Restauration der gesellschaftlichen und politischen Zustände vor der Französischen Revolution das Wort reden. Er weist vielmehr mit einer beeindruckenden Fülle von Material nach, dass das Ende jener – für das aristokratisch geprägte 18. Jahrhundert – spezifischen Form von Öffentlichkeit mit dem Verfall der öffentlichen Sphäre als solcher einherging. Und der zunehmenden Dominanz des Privaten über das Öffentliche. Eben mit der „Tyrannei der Intimität“, die sich heute, in der Digitalmoderne, massiv verstärkt hat. Zwar sind die Sorgen um den Schutz unserer Privatsphäre angesichts des Umgangs von Facebook, Google, Twitter und Co. mit den Daten ihrer Nutzer berechtigt. Weniger Beachtung schenken wir aber dem – umgekehrt scheinenden – Prozess der Privatisierung von Öffentlichkeit, ihrem zunehmenden Zerfall in private Mikro-Öffentlichkeiten in den sozialen Medien und anderen Internetdiensten, deren Nutzern tendenziell jene Informationen angezeigt werden, die ihren je eigenen, privaten Vorlieben, Interessen, Bedürfnissen und Ansichten entsprechen. Fakten und Positionen, die ihrem „Weltbild“ widersprechen, werden hingegen ausgeblendet. In diesen Filterblasen des Internets – wo die ohnehin schon privatisierte „öffentliche“ Sphäre weiter zurechtgestutzt und der Gesichtskreis von deren Nutzern immer enger wird, werden die an den Mikro-Öffentlichkeiten teilnehmenden Subjekte ihrerseits gleichsam „privatisiert“. 

„Der Iran ist mir wurscht!“ 

Um zu verstehen, was Sennetts Analysen mit der Frage zu tun haben, ob uns das Verständnis jener Strategien des Kunstglücks helfen mag, auch im Alltag glücklicher zu sein, wollen wir uns vor Augen halten, was jene von Adorno zum Erlangen von Kunstglück empfohlene Haltung mit Sennetts Konzept des „Menschen als Schauspieler“ verbindet. In beiden Fällen handelt es sich um dasselbe antinarzisstische Prinzip, das bei Adorno das Subjekt, die Grenzen seines Selbst zu transzendieren auffordert. Während sie den Sennettschen „Menschen als Schauspieler“ verbietet, ihre je eigenen „authentischen“ Gefühle auszudrücken – und ihnen gebietet, sich an gesellschaftsweit gültigen, quasi-objektiven Formen zu orientieren. An rituellen Formen des affektiven Austauschs, denen als Bedingung der Möglichkeit von Gesellschaft eine ähnlich grundlegende Bedeutung zukommen dürfte wie Sprache: Die (fiktive) Ansammlung von Subjekten mit je eigener Privatsprache ergäbe noch keine Gesellschaft.41 

Dass die Kultur der öffentlichen Darstellung nicht notwendigerweise soziale Kälte produziert – wie das Beispiel Sennetts suggerieren mag –, dass, umgekehrt, gerade das heute dominierende narzisstische Gebot der „authentischen“ Kommunikation regelmäßig zu seelischen Verletzungen führt, soll die folgende persönliche Erfahrung demonstrieren.

Vor einigen Jahren diskutierte ich mit einem Sozialwissenschaftler aus meinem linken Bekanntenkreis über Begriffe wie „Islamophobie“ und „antimuslimischer Rassismus“, in denen sich, aus meiner Sicht, die Kategorien Rassismus, religiöser Hass und Religionskritik in falscher und fataler Weise vermischen. Ich wies darauf hin, dass der Diskurs der islamischen Herrscher im Iran diese Begriffe verwendet, um KritikerInnen zu diskreditieren und erwähnte dabei unter anderem auch den Kopftuchzwang. Mein Gesprächspartner reagierte mit dem Satz: „Der Iran ist mir wurscht!“

Diese – ohne Zweifel einem authentischen Impuls geschuldete – Aussage machte mich, auch wenn ich es mir nicht anmerken ließ, sehr betroffen (ich stamme aus dem Iran, habe als Nervenarzt über die Jahre etliche schwer traumatisierte Opfer der islamischen Regimes in Teheran behandelt, habe iranische Freunde, deren Angehörige von den islamischen Machthabern inhaftiert, gefoltert, ermordet wurden usw.) und erstickte die Freundschaft, die sich aus der Begegnung mit einem sympathischen und gebildeten Menschen entwickeln hätte können, im Keim.

In jenen „linken Kreisen“, in denen der Sozialwissenschaftler verkehrt, und in denen auch ich oft verkehre, kräht, aus Gründen, denen wir hier nicht nachgehen werden, seit Jahren kein Hahn mehr nach dem Iran. Davon, dass die Reaktionen in diesem Milieu, wann immer etwa von der katastrophalen Menschenrechtssituation in Saudi-Arabien die Rede ist, ganz andere sind, einmal abgesehen, scheint die Kategorie „Internationale Solidarität“ als solche – einst Grundprinzip von Linken jeder Couleur – heute, in Zeiten des allgemeinen Narzissmus, aus der Mode gekommen zu sein.

Gut möglich, dass auch damals, in den Hochzeiten jener „Zärtlichkeit der Völker“, wie Che Guevara sie nannte, die Solidaritätsbekundungen vieler Linker für unterdrückte Menschen in fernen Ländern hohle Phrasen, ihre Demonstrationen mitunter leere Gesten waren. Aber Phrasen sind niemals ganz hohl, Gesten niemals ganz leer. Einer Unterschrift unter eine Petition kommt nicht weniger Gewicht und reale Wirkkraft zu, wenn die Unterzeichnende im Augenblick des Unterzeichnens jene „Zärtlichkeit“ nicht „wirklich spürt“ und nur deshalb unterschreibt, weil auch ihre Freunde es tun. Das Gleiche gilt – mutatis mutandis – für eine Demonstration. Ein Teilnehmer mehr ist ein Teilnehmer mehr, unabhängig von der Frage, ob er – sollte es sich etwa um eine Demonstration gegen den Kopftuchzwang im Iran handeln – aus „authentischer Begeisterung“ für das Anliegen der Demonstration mitmarschiert oder weil er die hübsche iranische Kommilitonin beeindrucken will.

Jener Sozialwissenschaftler ist offenbar einem momentanen, „authentischen“ Impuls gefolgt. Hätte er eine Sekunde lang innegehalten, hätte er sich – im Sinne der antinarzisstischen Maxime der Kultur der öffentlichen Darstellung – sagen können: „Es gehört sich nicht, einem politisch engagierten Iraner zu sagen: ‚Der Iran ist mir wurscht!’, auch wenn mir das gerade genau so einfällt, und es aufrichtig wäre, es so zu sagen, will ich lieber – dem Prinzip der Internationalen Solidarität gemäß – Anteilnahme bekunden. Auch wenn es nicht meiner momentanen Empfindung entspricht. Wenn ich mich später näher mit dem Iran befasst habe, könnten sich meine Position und auch meine Emotionen in Bezug auf dieses Land ja ändern. Und ich wäre dann froh, dass ich nicht einer momentanen Laune nachgegeben und gesagt habe: ‚Der Iran ist mir wurscht!’“ 

Antinarzissmus 

Das antinarzisstische Moment, das ich in jener Begegnung vermisste, charakterisiert Sennetts Kultur der öffentlichen Darstellung und die von Adorno empfohlene subjektive Haltung der Kunst gegenüber gleichermaßen. Während aber Adorno dem Rezipienten empfiehlt, auf seine narzisstischen Ansprüche dem Kunstwerk gegenüber zu verzichten, um sich ganz dem objektiven Sinnzusammenhang des Kunstwerks zu überlassen, verzichten die Träger von Sennetts Kultur der öffentlichen Darstellung auf den – mit dem unmittelbaren Ausdruck „authentischer“ Gefühle verbundenen – narzisstischen Gewinn, um Emotionen so darzustellen, dass man sie „in der Gesellschaft“ versteht – sie verzichten, anders gesagt, auf „Authentizität“ zugunsten von Geselligkeit.

Allerdings haben wir es auch bei der Kultur der öffentlichen Darstellung, so wie in der Kunst, mit (quasi-)objektiven – schauspielerischen – Formen zu tun. Und auf der anderen Seite ist Kunst, jedenfalls im Verständnis Adornos, eine durch und durch gesellschaftliche Kategorie.

„Man kann vielleicht sagen, daß der Geist, der aus dem Kunstwerk spricht, wenn er sich wahrhaft objektiviert hat, immer der Geist der Gesellschaft und zugleich der Geist der Kritik an der Gesellschaft ist, aber daß die Dignität des Kunstwerks geradezu daran haftet, wie weit diese sedimentierte Gesellschaft, die im Kunstwerk steckt, nun hinausgeht über die Kontingenz des bloß darin sich mitteilenden Einzelnen.“42 

Der Verzicht auf Narzissmus in der Begegnung mit Kunst (Adorno) und jener auf den – narzisstisch motivierten – Ausdruck „authentischer“ Gefühle (Sennett) gehen beide sowohl mit einem Gewinn an Objektivität einher (mit der Möglichkeit des Nachvollzugs des objektiven Sinnzusammenhangs des Kunstwerks bei Adorno, der Möglichkeit der Kommunikation über gesellschaftsweit anerkannte, quasi-objektive Darstellungsformen bei Sennett) – als auch mit einem Gewinn an „Gesellschaft“.

Bei Adorno ist der Verzicht auf Narzissmus Voraussetzung für das Kunstglück. Und weil sich das antinarzisstische Prinzip bei Sennetts „Menschen als Schauspieler“ ähnlich auswirkt wie beim idealen Kunst rezipierenden Subjekt in der Theorie Adornos, drängt sich die Frage auf, ob der Gewinn an „Gesellschaft“ und Objektivität qua Verzicht auf Narzissmus auch Sennetts „Menschen als Schauspieler“ glücklich(er) zu machen vermag. Und wenn ja, ob sich dieses Glückskonzept auch auf andere Bereiche des Alltags – und  der Gesellschaft – übertragen lässt. 

„Ihre Naturtendenz ist freilich nicht geselliger Art“ 

Im Beispiel Sennetts mögen uns die Anforderungen, welche die Kultur der öffentlichen Darstellung an den vom Sterben des Vaters Berichtenden stellt, als Bürde erscheinen.

„Der, der diese Augenblicke nacherzählt, müßte sie nicht nur vergegenwärtigen, er müßte sie auch formen, müßte einiges hervorheben, anderes zurückdrängen, müßte seinen Bericht womöglich sogar verfälschen, um ihn in eine Form zu bringen, [...] [die] der Zuhörer mit dem Sterben verbindet. 

Stellen wir uns aber eine Situation vor, in der jemand in einem – im weitesten Sinne – öffentlichen Rahmen (bei einer Geburtstagsfeier, nach einer künstlerischen Darbietung, einem wissenschaftlichen Vortrag etc.) überschwänglich gelobt wird. Würde sie oder er in Reaktion auf dieses Lob, den Geboten der narzisstisch geprägten Gegenwartskultur folgend, seine Gefühle aufrichtig ausdrücken, könnten peinliche Situationen entstehen. Er könnte das Lob triumphierend bestätigen und selbstverliebt ausrufen: „Ich wusste schon immer dass ich der Beste bin!“ Andererseits: Wenn das Publikum überschwänglich applaudiert, die Solistin aber das Gefühl hat, sie hätte ausgesprochen schlecht gespielt, müsste sie, den besagten Authentizitätsvorgaben gemäß, die Begeisterung im Saal mit dem Geständnis belohnen, sie hätte seit Langem nicht so schlecht gespielt, und dem Publikum zu verstehen geben, wie dumm und banausisch es sei.

Auch wenn Sennetts „Menschen als Schauspieler“ dem 18. Jahrhundert angehören, stehen uns auch heute gesellschaftsweit anerkannte Rollen und Formen zur Verfügung – Rollen und Formen der Höflichkeit etwa, die, sofern wir gelernt haben, ihnen zu entsprechen, uns helfen, Situationen dieser Art glücklich zu meistern. In unserem Fall, indem wir uns den Lobenden gegenüber dankbar zeigen ohne selbstverliebt oder größenwahnsinnig zu erscheinen. Als Ressourcen des Glücks erweisen sich diese Formen und Rollen, sofern sie es dem Einzelnen ermöglichen, auch noch etwas anderes zu sein als immer nur „ich“. Und ihm gestatten – nicht bloß weil es sich situationsbedingt dazu verpflichtet fühlt, sondern auch mal „aus Jux und Tollerei“ – in alle möglichen fremden Rollen zu schlüpfen. Das befreit ihn aus dem Gefängnis der vollen Identifizierung mit seinem – imaginären – „Ich“. Und macht ihn gesellschaftsfähig.

Ein Analysand von mir, ein belesener, „kunstsinniger“ Jurist, bildete sich zu Beginn der Analyse viel darauf ein, dass seine sozialen Kontakte außerhalb der Familie sich auf zwei Freunde beschränkten, die „ganz genauso ticken wie ich“. Seine Frau, eine Kunstmanagerin, würde ihn aber ständig auf „langweilige Gesellschaften schleppen“ wollen, wo er gezwungen wäre, „mit irgendwelchen Idioten Smalltalk“ zu treiben. Diese Haltung hat er mittlerweile zwar nicht aufgegeben, aber ein gutes Stück weit relativiert, nicht zuletzt aufgrund der Lektüre von Richard Sennett, Richard Schuberth – und Goethe.

„[Als] Johann Peter Eckermann gegenüber Goethe bekannte: ‚[...] Ich suche eine Persönlichkeit, die meiner eigenen Natur gemäß sei; dieser möchte ich mich ganz hingeben und mit den anderen nichts zu tun haben.’ [...], erteilte ihm der alte Goethe, der noch einer anderen Zeit angehörte, folgenden Rüffel: ‚Diese Ihre Naturtendenz ist freilich nicht geselliger Art; allein was wäre alle Bildung, wenn wir unsere natürlichen Richtungen nicht wollten zu überwinden suchen. Es ist eine große Torheit zu verlangen, daß die Menschen zu uns harmonieren sollen, ich habe es nie getan. Dadurch habe ich es dahin gebracht, mit jedem Menschen umgehen zu können, und dadurch allein entsteht die Kenntnis menschlicher Charaktere, sowie die nötige Gewandtheit im Leben. Denn gerade bei widerstrebenden Naturen muß man sich zusammennehmen, um mit ihnen durchzukommen. So sollten sie es auch machen. Da hilft nun einmal nichts, Sie müssen in die große Welt hinein. Sie mögen sich stellen, wie Sie wollen.’“43 

„Vom Kopf her“, meinte mein Analysand neulich, habe er inzwischen eingesehen, dass Smalltalk eine unentbehrliche „soziale Kulturtechnik“ sei. Weshalb er sich mittlerweile mehrmals – widerwillig, aber doch – von seiner Frau auf irgendwelche Gesellschaften habe „mitschleppen lassen“, wo er immerhin einige wenige, überraschend positive Erfahrungen gemacht habe. Gelegentlich würde er sich – wie er, auf seine Sorge vor Smalltalk „mit irgendwelchen Idioten“ anspielend, sagte – nun fragen, ob nicht „ich selbst der Idiot bin“. Idiotes (ἰδιώτης), fügte er hinzu, nannte man im alten Griechenland Personen, die sich nicht am gesellschaftlichen und politischen Leben beteiligten, sich bloß um ihre eigenen privaten Angelegenheiten kümmerten. 

wird fortgesetzt 

37 Richard Schuberth, Narzissmus und Konformität. Selbstliebe als Illusion  und Befreiung, Berlin 2018, S.150 

38 Ebd., S. 150 f 

39 Richard Sennett, Verfall und Ende des öffentliche Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Berlin 2013, S. 201 

40 Ebd., S.196 f 

41 Mehr noch als für die Signifikanten der Sprache gilt für diese Formen des affektiven Austauschs, dass sie natürlich nicht bloß der Übermittlung von Information dienen und viele andere (soziale, spielerische, künstlerische etc.) Funktionen haben. 

42 Theodor W. Adorno, Ästhetik (Vorlesungen 1958/59), Frankfurt am Main 2017, S. 338 

43 Schuberth, Narzissmus und Konformität, S. 20