Mittwoch, 30. Juni 2010

Wunderland 2. Teil

Das hier ist ein Gericht. Oder hatte er Gerücht sagen wollen? ...


„Fangen wir an“, sagte der Grobe.
„Fangen wir an“, sagte der Feine.
Der Junge seufzte. Was Djubs seien, fragte ich. „Djubs, das sind die Wasserläufe in Teheran“, sagte der Feine „ähnlich den Wasserläufen in F.“, der Feine nannte den Namen einer wegen ihrer Schönheit bekannten, Provinzstadt, in den Deutschsprachigen Bergen, „ähnlich den Wasserläufen in F., jedoch tiefer und schmutziger.“

„Fangen wir an“, sagte der Grobe.
„Fangen wir an“, sagte der Feine, und während seine Blicke zwischen unseren Biergläsern hin und her pendelten: „Ich gestehe - ich war bei den Blauen“. „Wissen wir doch“, sagt der Junge, „weil Du reiten wolltest“. Und zu mir: „Wie gerne ich reiten können würde, wie Kambis, mein Bruder, , aber in Teheran darf man nicht reiten, und in den Deutschsprachigen Bergen sagen sie, das Reiten sei etwas für die ganz jungen Mädchen“.
„Für die … ganz jungen?“, die Augen des Groben schienen auf einmal zu leuchten, ohne jedoch daß das Leuchten das Grimmige in seinem Gesicht verdrängt hätte. „Ich meine Kinder“, sagte der Junge, ohne den Groben anzusehen, „neun-, zehnjährige“, und zu mir: „Die Blauen nennt man in Teheran die berittene Sittenmiliz, die dunkelblaue Jeanshemden tragen. Sie sind für das Kontrollieren der Bekleidung von Frauen zuständig, und für das Verprügeln bei Demonstrationen und in den Gefängnissen für das Foltern und … die Verhöre“. Ich war mir nicht sicher, aber ich hatte den Eindruck, daß der Junge, nachdem er „für das Foltern“ gesagt hatte, noch ein anderes Wort sagen wollte, das er dann aber doch nicht gesagt hatte, resp. er hatte, statt jenes Wort, „Verhöre“ gesagt.
„Mein Bruder ist zu den Blauen ja nur, weil in Teheran das Reiten als kaiserlich diffamiert und verpönt ist. In Teheran haben Sie überhaupt nicht die Möglichkeit zu reiten, außer Sie sind bei der Sittenmiliz, oder sehr reich.“ Und zum Feinen: „Du bist zu den Blauen, nicht wahr, um das Reiten zu lernen, aber ohne im Endeffekt ... “
„Laß ihn doch selbst reden“, sagte der Grobe dem Jungen, wobei er seinen Kopf schüttelte, auf eine Art, wie ich es nur von Teheranern kenne, knapp bevor sie, bei einer Diskussion zum Beispiel, in Rage geraten, „Du willst doch nicht sagen – “, sagte der Junge, „Nichts will ich“, sagte der Grobe, in einer Lautstärke, die mir schon peinlich war, der Feine erhob seine Hände, als wollte er sich ergeben, und mit diesem Erheben der Hände schien er den anderen beiden, denen er die erhobenen Handinnenflächen zugewandt hatte, Einhalt gebieten zu wollen, was ihm gelang. Das Gesicht des Jungen schien jetzt weniger gereizt, das des Groben weniger grimmig, der Feine wandte sich an mich. „Das hier ist ein Gericht“. Ich verstand wieder nichts, und dachte an „Gericht“, zuerst im Sinne einer Verhandlung, im Gerichtssaal, dann im Sinne von Speise. Beides ergab keinen Sinn. Auch sprach der Feine ein perfektes, wenn auch nicht akzentfreies Deutsch, weshalb es ausgeschlossen erschien, daß er mit „Gericht“ das Bier gemeint haben könnte. Oder hatte er „Gerücht“ sagen wollen?

In Teheran sei eine Revolution im Gange, so der Feine, die das herrschende Regime hinwegfegen würde, bei genauer Betrachtung sei es aber nicht sicher, ob die Revolution das Regime hinwegfegen würde, denn in Teheran herrsche ein rücksichtsloses Mörderregime, ähnlich jenem rücksichtslosen Mörderregime, das vor Jahren hier in den Bergen geherrscht hätte - in einer Hinsicht habe aber die Revolution schon gesiegt. Ein Rat, bestehend aus Vertretern aller Berufsstände und Regionen von Teheran, habe sich des moralischen Aspekts der Revolution angenommen, indem er den Aspekt der Moral in die Revolution eingeführt, resp. die in der Revolution bereits vorhandenen moralischen Ansätze weiterfgeführt hätte.
„In der alten Zeit“, sagte der Feine, „vor der Machtergreifung des Klerus, hätten sich die Teheraner an die Gebote der Moral aus eigenem Antrieb gehalten, der Klerus jedoch hätte diverse Institutionen der Moral installiert, etwa die Sittenmilizen und die Sittenpatrouillen oder die Sitten-Staats- und -Geheimpolizei oder die diversen Sondergerichte für
Kinder
und Frauen
und Männer
und Alleinerziehende
und Jugendliche
und Alkoholiker
und Suchtkranke
und Journalisten
und Künstler
und Geistliche
und Homosexuelle
und Behinderte
und Geschiedene
und Andersgläubige
und Wiederverheiratete
und psychiatrische Fälle
um nur einige wenige Beispiele zu nennen.
Durch diese Institutionen würden die Teheraner seit Jahrzehnten andauernd kontrolliert, so daß sie mit der Zeit die Fähigkeit zur Eigenkontrolle sowie der Eigenbewertung ihres Verhaltens verloren hätten, und Teheran daher in Sachen Korruption
und Prostitution
und dem Handel mit Drogen
und Körperorganen
und Vergewaltigungen
und Mord
und durch Alkohol ausgelöste Verkehrsunfälle,
um nur einige wenige Beispiele zu nennen,
mittleweile international führend sei.

Der Rat habe nun, genauer "Der Revolutionäre Rat zur Wiederherstellung und Förderung der Eigenmoral" habe nun teheranweit zur Wiederherstellung und Förderung der Eigenmoral eine Kampagne gestartet, und man fände infolge dieser Kampagne bei einem Großteil der Bevölkerung Teherans jetzt bereits wieder Ansätze einer Eigenmoral, welche für den Aufbau einer neuen Gesellschaft nach dem allfälligen Sieg der Revolution die wichtigste Grundlage sei.
Wann jedoch dieses klerikale Regime - und ob überhaupt -, von der Revolution hinweggefegt werden würde, sei, so der Feine, nicht sicher, weshalb der Rat in seinem jüngsten Kommuniqué die Bevölkerung aufgerufen hätte, schon jetzt die Tatsache ihrer wiedergewonnenen Eigenmoral zu benützen. Jede Teheranerin, resp. jeder Teheraner, so der Rat – ob in Teheran oder im Ausland -, sollte sich einer Einvernahme durch die Mitglieder ihrer, resp. seiner Familie unterziehen, und sollte der oder die Betroffene eines Verbrechens im Dienste des klerikalen Regimes für schuldig befunden werden, muß das Familiengericht den Delinquenten aburteilen und im Sinne der Eigenmoral ihrer, oder seiner Strafe zuführen.
Es sei ja nicht etwa so, so der Feine, daß die Verbrechen dieses Regimes bloß von einer schmalen Kaste klerikaler Politiker verübt worden wären, vielmehr hätte sich seinerzeit ein nicht unbeträchtlicher Teil der Bevölkerung mit Leib und Seele jener Revolution, welche die Kleriker an die Macht gespült hätte, verschrieben – und ein nicht unbeträchtlicher Teil dieses Teils wiederum habe als verlängerter Arm des Regimes, die schlimmsten Verbrechen begangen.
Die vom Rat angeordneten Familiengerichte müßten jetzt abgehalten werden, wiederholte der Feine, jetzt oder nie, ansonsten könnte ein allfälliges Wiedererstarken das klerikale Regime in die Lage versetzen, mithilfe der o.g. Instititutionen die wiederauferstandene Eigenmoral zu untergraben, resp. in weiterer Folge überhaupt auszulöschen.

„Fangen wir an“, sagte der Grobe.
„Fangen wir an“, sagte der Feine.
Der Junge seufzte.
„Ich will nicht, daß der Eindruck entsteht“, sagte der Grobe, „daß irgendetwas zwischen uns“, seine Zeigefinger pendelten mehrmals zwischen dem Gesicht des Feinen, und seinem eigenen hin und her, „daß irgendetwas zwischen uns auf das Urteil einen Einfluß gehabt haben könnte, weshalb ich hiermit dafür plädiere, daß jemand Außenstehener und Neutraler unserer Verhandlung beiwohnen soll, und ich möchte“, er wandte sich an mich, „Sie darum bitten, Sie, als unseren Landsmann aus Teheran, auch, wenn Sie angeben, die Sprache nicht zu verstehen, diesen Prozeß, so aufmerksam wie nur möglich zu verfolgen - und ich bitte Sie, melden Sie sich beim geringsten Verdacht auf Voreingenommenheit meinerseits.“
Ohne mir die Gelegenheit zu geben, seiner Aufforderung zuzustimmen oder sie abzulehnen, fuhr der Grobe fort, sekundiert von seinem Bruder, dem Feinen - der Junge schwieg -, mir mitzuteilen, daß die Einvernahme aller drei Brüder im Sinne des Kommuniquès des Revolutionären Rates bereits stattgefunden, und es sich herausgestellt hätte, daß der Feine - was aber ohnehin schon bekannt gewesen wäre, nun sei es aber sozusagen amtlich - daß der Feine bei den "Blauen" gewesen sei. Der Junge schien die Rede des Groben mehrmals unterbrechen zu wollen, und jedesmal hatte der Grobe aber grimmig zu ihm hinübergeschaut, so daß der Junge an sich gehalten und letztlich nichts gesagt hatte. Heute, so der Grobe, müsse geklärt werden, ob sich der Feine - und wenn ja welcher - Verbrechen im Dienste der Blauen schuldig gemacht hätte, und sollte er für schuldig befunden werden, müsse Art und Ausmaß der Strafe im Sinne der neuen revolutionären Eigenmoral festgesetzt und ausgeführt werden.

wird fortgesetzt

Sonntag, 27. Juni 2010

Literarische Solidarität mit der Protestbewegung im Iran - Vorankündigung einer Veranstaltung im Oktober




















Im Herbst 2009 diskutierte ich mit Vladimir Vertlib



http://de.wikipedia.org/wiki/Vladimir_Vertlib

über Unterschiede und Gemeinsamkeiten der iranischen Protestbewegung und den 1989er Revolutionen in Osteuropa, die sich ja 2009 zum zwanzigsten Mal gejährt haben – und über die Frage, wie es einem geht, wenn man die Revolution in seiner Heimat aus der Perspektive des Exils erlebt. Aus diesem Gespräch wurde die Idee einer Lesung zur Solidarität mit der Demokratiebewegung im Iran geboren.


Bald war auch Julya Rabinowich



http://julyarabinowich.com/

und etwas später Renate Welsh



http://de.wikipedia.org/wiki/Renate_Welsh

mit von der Partie. Es dauerte aber noch bis wir einen Veranstalter (Werner Korn) und einen Veranstaltungsort (echoraum wien, link siehe unten) gefunden hatten und – viel länger – bis wir uns auf einen Termin einigen konnten. Jetzt endlich sind wir soweit, eine erste Ankündigung unserer Solidaritäts-Lesung ausschicken zu können.



Revolution im Iran: Literarische Solidarität



Iranische und nicht-iranische Autorinnen und Autoren lesen und diskutieren.



Ort: echoraum wien, Sechshauser Straße 66, 1150 Wien




Zeit: Freitag, 22. Oktober 2010, 19:30



AutorInnen: Renate Welsh, Julya Rabinowich, Vladimir Vertlib, Sama Maani



Eintritt: 10.-/5.-

Der Erlös der Veranstaltung fließt an „Ärzte für Menschenrechte im Iran - Wien“ http://www.iran-scientists.net/



Wie erlebt man die Revolution in der Heimat aus der Perspektive des Exils?



Für jene Iraner, die schon im Exil waren, als 1979 im Iran eine Revolution ausbrach, berühren die Ereignisse nach den iranischen Präsidentschaftswahlen im Juni 2009 in mehrfacher Weise das Thema Rückkehr: Rückkehr der Erinnerungen an jene Zeit, in der sich, angesichts der durch die 1979er Revolution ausgelösten Hoffnungen, viele von ihnen für die Rückkehr in die Heimat entschieden - um kurz darauf wieder die Rückkehr ins Exil antreten zu müssen.



Die Rückkehr der Vergangenheit findet aber nicht nur in der Erinnerung der Exilierten statt. Die aktuelle iranische Protesbewegung als solche wird häufig als eine Reinszenierung der 1979er Revolution wahrgenommen – und es erhebt sich die Frage wie dieser Rückbezug zu bewerten ist: Muss sich die Geschichte immer nur als Farce wiederholen? Oder kann eine revolutionäre Bewegung gerade durch die Reinszenierung ihrer Vorgänger-Revolution diese rückwirkend von ihren Traumen befreien?



Solche und ähnliche Fragen - u.a. auch die Frage nach Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen der „Grünen Bewegung“ im Iran und den Revolutionen 1989 in Osteuropa – bilden den thematischen Horizont einer Lesung, mit der ein iranischer Autor und drei nicht-iranische AutorInnen ein Zeichen der Solidarität mit der iranischen Protestbewegung setzen möchten. Im Anschluss an die Lesung ist eine Publikumsdiskussion geplant.

Samstag, 26. Juni 2010

Wunderland 1.Teil

... eines jener Gesichter, die etwas sagen wollen und Du willst es nicht hören, und niemand hat es jemals gehört.


Ich weiß zwar von meinen Eltern, die mich seinerzeit in dieses Land gebracht haben, um dann bei einem Verkehrsunfall zu versterben, ich weiß zwar von meinen Eltern, daß sie aus Teheran stammten, und also auch ich, aber ich habe keine Erinnerung an Teheran, obwohl mich jedesmal, wenn ich die Sprache Teherans höre, eine Empfindung durchströmt, ein Empfindungsstrom ergießt sich - auch wenn ich kein Wort der Sprache zu verstehen vermag - von meiner Kopfhaut hinunter in meine Körperorgane.

Das Land, in das mich meine Eltern gebracht haben, als ich zwölf war, ist ein deutschsprachiges, und ich bewohne eine Kleinstadt in den Deutschsprachigen Bergen, die in Wahrheit ein Dorf ist.

Neulich mußte ich, um Besorgungen zu machen, in die Hauptstadt einer der Landesprovinzen, eine charmante Provinzstadt, von der sie sagen, sie habe etwas Mediterranes. Ich war mit dem Zug angereist, nahm, um in die Altstadt zu kommen, die Tram, und vertiefte mich, sobald ich mich hingesetzt hatte, in ein Buch über Churchill. Eine Station vor dem Hauptplatz schreckte ich auf. Eine laute Musik war zu hören, eine Marschmusik, die einen kriegerisch stimmte, wie Marschmusiken es an sich haben, aber zugleich melancholisch. Ich sah aus dem Fenster. Hunderte, größtenteils schwarz und auffallend gut gekleidete Frauen und Männer bewegten sich hinter einem Kleinbus, in Richtung Hauptplatz, auf dem Dach des Kleinbusses war ein Lautsprecher, aus der die Marschmusik kam - jetzt war die sonore Stimme eines Mannes zu hören, weniger kriegerisch, aber melancholisch, und wieder begann mich jene Empfindung zu durchströmen, die mich jedesmal durchströmt, wenn ich die Sprache Teherans höre, auch wenn ich kein Wort der Sprache zu verstehen vermag, und die sich von meiner Kopfhaut in das Innere meines Körpers ergießt. Die Fahrgäste begannen, sich über die Fahrbehinderung zu echauffieren, bis sich die Tramtüren öffneten, ich war aufgestanden, um auszusteigen, und hatte das Buch über Churchill in den Rucksack gepackt, da hörte ich von hinten die Stimme einer alten Frau.
"Was … sind denn das?", im Dialekt der charmanten Provinzstadt.
"Das?", sagte die Stimme eines älteren Mannes im selben Dialekt, "Das? Teheraner."
"Teheraner?"
"Ja. Zuhause trauen sie sich nix. Oba bei uns do – machen’s Krawall."
Ich war dabei, während ich aus der Straßenbahn ausstieg, die Schnallen meines Rucksacks zu schließen, auf einmal rannte ich nach hinten. Sie saßen nebeneinander. Er hatte das rote und runde Gesicht der Bewohner jener charmanten Provinz, sie aber nicht. Ich stellte mich hin.
"Wos is?", fragte der Alte, noch immer im Dialekt der Provinzstadt, der mich, zum ersten Mal, seit mich die Eltern in dieses Land gebracht hatten, an das Grunzen der Schweine erinnerte. Ich begann, den Alten zu würgen, und würgte bis meine Hände zu krampfen begannen bzw. als wäre ich der Kandidat in einer TV-Show, bei der die Kandidaten die Aufgabe haben, einander zu Tode zu würgen. Ich kam zu mir. Der Alte war gelb und blau angelaufen, rot war er ja schon, und hustete, die Alte, vermutlich die Ehefrau, starrte mich an, auf einmal kippte ihr Kopf nach hinten, sie war dabei, in Ohnmacht zu fallen. Jetzt begann der Alte auch noch Blut zu husten. Ich stieg aus.

Draußen tauchte ich in die Menge der größtenteils schwarz und auffallend gut gekleideten Frauen und Männer, die der Alte in der Straßenbahn Teheraner genannt hatte, es war warm. Nicht, daß es in der Straßenbahn nicht auch warm gewesen wäre, und überhaupt in der Stadt, aber dieses warm an der Grenze zu heiß umhüllte die Haut meines Körpers, mein Kopf kippte, wie der Kopf jener Alten, nach hinten, die Augen fielen mir zu, ich sah ein Licht, und wußte sofort, daß es eine Erinnerung an Teheran war. Ich hatte an Teheran keine Erinnerung mehr, wie gesagt, in der Erinnerung an Teheran, die ich jetzt auf einmal doch hatte, sitze ich auf dem Rücksitz eines Autos und sehe ein gleißendes Licht, und spüre das Licht auf der Haut meines Hinterns - wie die Hitze im Strom dieser größtenteils schwarz und auffallend gut gekleideten Frauen und Männer die Haut meines Körpers umhüllte.

Ich hatte die Augen jetzt wieder offen, sah aber noch immer dieses gleißende Licht, ich schien mich sowohl in der Erinnerung an Teheran als auch in der Provinzstadt im Strom der Teheraner zu befinden, auf einmal war eine zweite Erinnerung: Ich liege auf einem Teppich, in Teheran, auf dem Bauch, und schaue in ein Comics. Das Comics ist in das selbe gleißende Licht getaucht, in das in der ersten Erinnerung die Haut meines Hinterns getaucht ist, resp. das Auto, auf einmal rempelt man mich von der Seite her an, resp. jemand ist auf mich gestürzt, der seinerseits angerempelt worden ist, wir gehen beide zu Boden, es ist, als hätte jemand über mich, resp. uns, eine Decke gebreitet, durch die jetzt ein anderes, rötliches Licht hindurchschimmert. Ich habe Angst und will aus der Decke heraus, da sehe ich zwei Augen in einem Frauengesicht, die mich mit einer Begeisterung anschauen, die mir unheimlich ist. "Du?", sagt das junge und ausnehmend hübsche Frauengesicht, und ich krieche, so schnell es nur geht, aus der Decke und gelange, indem ich mich durch den Strom der Teheraner hindurchkämpfe, zu der Mauer des Landhauses der Provinzstadt, eines Reneissancebaus, gegen die ich mich lehne.

Ich versuchte zu kapieren, was passiert war. Eine Menschenreihe - innerhalb des Stroms der in der Straßenbahn Teheraner Genannten - hatte eine Fahne in Form eines hohen und unendlich langen Transparents hochgehalten, das jetzt am Boden lag - wie man mir später erklärte, hatte es sich um die rot-weiß-grüne Fahne Teherans gehandelt -, eine zweite Menschenreihe hatte dann die Fahnenträger auf einmal gerempelt, Rempler, Fahnenträger und Unbeteiligte, so wie ich, waren zu Boden gegangen, und etliche Fahnenträger, aber auch Unbeteiligte, so wie ich, waren unter der Fahne zu liegen gekommen. Ich hatte die Fahne übrigens, bevor ich aus ihr herausgekrochen war, gar nicht bemerkt, aus Fahnen mache ich mir nichts.

"Wie - hast denn Du’s mit den - Teheranern?"
Ich erschrack und schaute nicht hin. Es war die Stimme der Frau von unter der Fahne. Als ich dann aber hinschaute, sah ich das Gesicht - einer anderen Frau, den Kopf an die Mauer gelehnt, zwar ebenfalls hübsch, aber eines jener Gesichter, die etwas sagen wollen, schon immer, und - wie soll ich es sagen - Du willst es nicht hören, und niemand hat es jemals gehört.

"Bist Du denn für …", die Frau nannte einen Eigennamen, vermutlich den eines Politiker Teherans, ich hatte es immer vermieden, mich mit den Politikern Teherans zu befassen, und überhaupt war mir Teheran fremd, ich wußte, daß meine Eltern aus Teheran stammten, und also auch ich, mehr wollte ich nicht. Das Frauengesicht, den Kopf an die Mauer gelehnt, und den Strom der Teheraner betrachtend, fing an über die Politiker Teherans zu sprechen.

Aber - hätte es nicht sein können, daß ich, sobald ich aus der Fahne heraus war, statt jenem Frauengesicht drei Männern begegnet wäre, einem jüngeren Hochgewachsenen, und zwei älteren, die mich gefragt hätten - ich war ja gestürzt -: "Ist alles in Ordnung?"

Sie hatten die Sprache Teherans gesprochen, d.h. daß sie mich für einen Teheraner hielten, was ich ja auch bin, aber es wunderte mich, weil mich weder die Bewohner der Deutschsprachigen Berge noch Teheraner in der Regel für einen Teheraner halten, ich habe eine für Teheraner untypische Nase und in der Provinztstadt nennt man meine Haarfarbe semmelblond.
Alle drei hatten also die Sprache Teherans gesprochen, die ich nicht verstehe, dennoch verstand ich ihr Anliegen, bedankte mich und entschuldigte mich, daß ich, obwohl ich, aus Teheran stamme, die Sprache nicht spreche. "Sie meinen", sagte einer von ihnen, der sich, wie es sich später herausstellte, Kameran nannte - auf Deutsch -, "Sie meinen, Sie stammen aus Teheran, und verstehen die Sprache nicht mal?"

Ich hatte mir, sobald ich sie gesehen hatte, gedacht, die drei seien Brüder, und sie waren es auch - obwohl sie äußerlich miteinader keine Ähnlichkeit hatten. Einer hatte ein feines Gesicht, einen Bart nach der Art von Intellektuellen und eine hellbraune Glatze, der zweite war hochgewachsen und jung. Der dritte, der sich, wie es sich herausstellte, Kameran nannte, hatte einen Bauch.

"Das macht doch nichts", sagte der junge Hochgewachsene, der sich Giw nannte, wie es sich später herausstellen sollte, und aussah wie ein Wirtschaftsstudent. Giw ist übrigens, wie man mir später erklärte, ein in Teheran seltener Name eines Helden der Teheraner Mythologie.

Die Selbstverständlichkeit, mit der die Brüder mich angesprochen hatten, und ihre Freundlichkeit, die sich angenehm von der Art unterschied, wie sie einem in den Deutschsprachigen Bergen begegnen, überraschte mich, ich fand die Brüder - den mit dem Bauch vielleicht ausgenommen, der mir vorgehalten hatte, daß ich die Sprache Teherans nicht spreche, und den ich für mich den Groben nannte - sympathisch, und kam mit ihnen, obwohl grundsätzlich scheu, sofort ins Gespräch.
Sie fragten mich, wie es käme, daß ich in den Deutschsprachigen Bergen lebte, ob meine Eltern noch in Teheran lebten usf., und als der Strom der Teheraner zu versiegen begann, kehrten wir in einer Seitengasse jener Fußgängerzone in "Die Deutschsprachige Gemütlichkeit" ein, ein Gasthaus, das mir vom Hörensagen bekannt war. Die Deutschsprachige Gemütlichkeit war nahezu rauchfrei, und nahezu leer, der Schiffsboden knirschte und ich hatte das Gefühl, daß er schwankt, als befänden wir uns buchstäblich auf einem Schiffsboden, auf hoher See.
Sobald die Brüder sich hingesetzt hatten, veränderte sich der Ausdruck ihrer Gesichter. Das des Feinen schien mir jetzt nachdenklich, der junge Hochgewachsene wurde blaß, der mit dem Bauch, der schon die ganze Zeit grimmig geschaut hatte, schaute jetzt noch grimmiger. Alle vier, nachdem wir uns an einen Tisch aus dunklem Holz gesetzt hatten, bestellten wir ein Bier. Ich war verwundert, daß die Gebrüder - wie ich die Brüder im Stillen nannte – alle ein Bier bestellt hatten, genauso wie ich, ich hatte gedacht, daß Teheraner kein Bier trinken würden, obwohl ja auch ich aus Teheran stamme, und Bier trinke. Das sei ein Gerücht, sagte der mit der Glatze und dem feinen Gesicht, der sich, wie es sich später herausstellte, Kambis nannte, Selbstverständlich wird in Teheran Bier konsumiert, genauso wie bei uns, und in weiterer Folge sagte er bei uns, sowohl dann, wenn er von den Deutschsprachigen Bergen, als auch dann, wenn er von Teheran sprach.
Ich war froh, den Gebrüdern begegnet zu sein, wie gesagt, ich hatte eine Frage über Teheran, die mich seit Jahren beschäftigt. Daß ich an Teheran keine Erinnerung hätte, stimmt also nicht, es gibt Phasen, da habe ich Erinnerungen an Teheran, die aber später verschwinden, und in den Phasen, in denen ich keine Erinnerungen an Teheran habe, erinnere ich mich nicht, daß ich in den Phasen zuvor sehr wohl Erinnerungen an Teheran hatte. Ich war also froh, den Gebrüdern begegnet zu sein, obwohl ich auch Angst hatte, ihnen meine Frage über Teheran zu stellen, nicht wegen des Inhalts der Frage, vielmehr bin ich ein Einzelgänger und scheu, und lebe davon, für andere ihre Briefe zu schreiben, geschäftliche wie private, die Briefe erhalte ich, d.h. die Entwürfe, per e-mail, gelegentlich auch noch per Post, ich schreibe sie um, und retourniere sie mit einem Erlagschein, und vermeide es, mit den Menschen in Berührung zu kommen.

Das Bier war angenehm kühl und die Kellnerin - drall und blond - erinnerte mich an eine Isabella von früher.
"Nicht wahr", fragte der Junge den Feinen, "Du hast mir das Radfahren beigebracht, in dem Keller mit der Katze unter der Couch."
"In dem Keller ...? Doch … in der Eisenhowerstraße."
"In Teheran", der Feine wandte sich jetzt an mich, "in Teheran hatten die Straßen - ich meine früher hatten viele der Straßen in Teheran amerikanische Namen." Es war mir peinlich, daß sich der Feine gezwungen sah, mir Teheran zu erklären, und ich verfluchte die Eltern, daß sie mich in das deutschsprachige Land gebracht hatten, um bei einem Unfall zu sterben. Der Feine wandte sich jetzt an den Jungen:
"Ja … Du warst fünf oder sechs, und ich studierte an der Schöngeistigen Fakultät dieser Universität ... "
"Und Du hast mir das erste Fahrrad gekauft - mit den Stützrädern."
"Die Stützräder haben wir aber gleich abmontiert."
"Und Du hast mich auch immer auf Deinem Fahrrad mitfahren lassen, vorne auf der Stange, und Du bist immer ganz nah an den Djubs entlang, da hab ich immer geschrien."
"Der mit den Djubs", sagte der Grobe, "war ich".
Ich hörte dem Gespräch der Gebrüder mehr oder weniger aufmerksam zu, gleichzeitig war ich mit meiner Frage über Teheran beschäftigt, die ich ihnen später stellen wollte, jetzt wandte sich der Junge an mich: "Könnten Sie sich bitte", er wirkte verlegen "an einen anderen Tisch setzen?" Sie hätten, er zögerte, sie, die Brüder, hätten etwas privates zu besprechen. Ich war aufgeschnellt und, wollte sofort, ohne an das Zahlen zu denken, aus dem Gasthaus hinaus, da spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. "Bleiben Sie", sagte der Grobe. Und zum Jungen: "Im Gegenteil." Im Gegenteil? Ich verstand nichts. Und setzte mich.

wird fortgesetzt

Samstag, 19. Juni 2010

Voltaires Candide (2) oder "Wo bleibt das Positive, Herr Kästner?"


The Stranglers

Ab jener Stelle, in der Candide ausruft: „Wenn das hier die beste aller Welten ist, wie muß es erst auf den anderen zugehen?“ – hatte Heinrich zu summen begonnen, und das, was er summte, kam mir bekannt vor. Ich fragte: „Was summst Du?“, woraufhin er, erst leise und dann immer lauter, zu singen begann:

Always look on the braaaaaaight side of life,
dadumm - dadumm, dadumm, dadumm,
Always look on the …

Seinerzeit, im Gymnasium, hatte Heinrich Schlagzeug und Baß-Gitarre gespielt, und in seiner Band, die sich Jupiter nannte, wenn ich mich richtig erinnere, auch gesungen. Ich glaube, er hatte ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, Rockmusiker zu werden.

Always look on the braaaaaaight side of life
dadumm …

Heute ist Heinrich Jurist, und die meiste Zeit arbeitslos, und ich weiß nicht, warum ich, obwohl ich weder singe noch ein Instrument spielen kann, in sein

Always look on the braaaaaaight side of life


miteinstimmte, zuerst leise, dann immer lauter, und Candide, ich meine das Taschenbuch, wie einen Dirigierstab hin und her zu schwingen begann. Die Buchhandlungskunden, jene nämlich, die vorhin in ihren – von oder über deutsche Philosophen verfaßten - Büchern geblättert, und mich argwöhnisch angeschaut hatten, diese Buchhandlungskunden saßen jetzt alle um uns herum, und schauten noch immer auf mich, oder schon wieder, ihren Gesichtern fehlte aber der Ausdruck von Argwohn, sie wirkten interessiert, wenn auch ratlos.

Ich versuchte sie zu ignorieren und mich auf Heinrich zu konzentrieren. „Monty Python“ sagte ich. Heinrich hörte auf zu singen. „Ja“, sagte er, „Das Leben des Brian“, und nachdenklich, als wäre ihm über das, was er gerade gesagt hatte, ein Zweifel gekommen, schaute er durch das Fenster auf die größte aller Einkaufsstraßen der Stadt. „Allerdings“, sagte er, „scheinen die Pythons mit diesem Lied doch etwas anderes sagen zu wollen, als dieser … dein … Pangloß. Der sagt nämlich: Alles ist gut, resp. alles ist bestens. Und Punkt. Hingegen sagen die drei Typen am Kreuz, im Leben des Brian - d.h. daß sie eigentlich singen:

Always look on the braaaaight side of life …

Das heißt: die Welt mag gut sein oder schlecht, das Wetter trüb oder sonnig - es liegt an dir, das Wetter resp. die Welt als gut und als schön zu empfinden. Always look on the bright side – und das Leben ist schön! Always look on the bright side und wenn Du es schaffst, immer nur die Sonnenseite zu sehen, dann fühlst du dich wohl, und fühlst du dich wohl, dann hast Du Erfolg, und hast Du Erfolg, dann ist alles gut. Das heißt aber auch: Bist du arbeitslos, unglücklich, arm, dann bist du selbst schuld - oder du hast ein Problem, oder eine Persönlichkeitsstörung …“

Heinrich, mein Freund, war schon im Gymnasium alles andere als ein normaler Rockmusiker, und Jupiter alles andere als eine normale Band. Jupiter und Heinrich machten spontanes Rockmusik-Kabarett, d.h. sie versuchten mit ihrem Publikum irgendwie ins Gespräch zu kommen, befragten es über Alltäglichkeiten etc., irgendetwas, was irgendwer im Publikum sagte, gab ihnen dann den Anstoß für das jeweilige Programm, bestehend aus Rockmusik und direkt auf der Bühne kreierten Texten, für die Heinrich zuständig war.
Nachdem Heinrich seine Ambitionen, Rockmusiker zu werden, aufgegeben hatte, verlegte er seine kabarettistisch-rockmusikalische Improvisations-Aktivitäten in den Alltag hinein, und seither versucht er aus irgendwelchen mehr oder weniger alltäglichen Situationen eine Szene zu machen, wie er es nennt, und aus irgendwelchen Fremden ein Publikum - was er aber eigentlich auch schon im Gymnasium gemacht – und, wenn ich mich richtig erinnere, Situationismus genannt hat.

Always look on the braaaaaaight side of life


Heinrich war aufgestanden und sang jetzt mit seiner sonoren, das ganze Café der größten Buchhandlung erfüllenden Stimme das Abschlußlied des Leben des Brian. Mir war das unendlich peinlich, wie mir Heinrich schon immer unendlich peinlich gewesen ist, und auch schon im Gymnasium, wie er aus irgendeiner Situation eine Szene machen konnte und aus irgendwelchen Fremden ein Publikum, ich habe Heinrich seit Jahren gemieden, eben weil er so peinlich werden kann, und nur weil er heute plötzlich vor meiner Türe gestanden war, und gesagt hatte, er käme von einer Motorradtour, quer durch die Alpen, und ich gesagt hatte, ich müßte zur größten Einkaufsstraße, einen Kühlschrank kaufen, nur deshalb kam es heute dazu, daß er mich in die größte aller Einkaufsstraßen begleiten hat dürfen, wo wir auf einmal über Voltaire zu diskutieren begannen.

Heinrich war aufgestanden, und sang, mit seiner das ganze Café, und womöglich das ganze Stockwerk, erfüllenden Stimme, mir war das peinlich, und ich versuchte wegzuschauen, überall aber die Blicke der Buchhandlungskunden, mit ihren – von oder über deutsche Philosophen verfaßten – Büchern, eine von ihnen, eine Mittelgroße mittleren Alters, stand auf, mit brünetten, mittellangen Haaren, und einem mittelstrengen Gesicht. Sie kam auf uns zu, d.h. auf mich, was mein ohnehin unendlich großes Peinlichkeitsgefühl weiter steigerte, ich rückte mit meinem Sessel nach hinten, vor mir stehend erschien mir die Dame keineswegs mittelgroß, sondern hochgewachsen und ihre von einer blauen Anzughose bedeckten Beine unendlich lang. „Sie tun den deutschen Philosophen Unrecht", sagte sie, "wenn Sie behaupten, sie alle hätten die Welt nur beschönigt.“
Hätten jene unendlich große Peinlichkeit sowie die ohrenbetäubend laute Stimme von Heinrich mich nicht gänzlich erfüllt, und meine Willens- und Denkkraft nicht lahmgelegt - ich hätte aufstehen und der Hochgewachsenen entgegentreten und sagen wollen: „Ich habe das niemals behauptet!“, und daß meine Kenntnisse der deutschen Philosophen im übrigen mehr als lückenhaft wären, und ich mich generelle Behauptungen dieser Art aufzustellen ohnehin niemals anmaßen würde … Die Hochgewachsene hielt ein Taschenbuch in ihrer Rechten, mit dem Titel „Nietzsche für Dummköpfe - Also sprach Zarathustra“, ein Buch, das ich kenne, und wegen seiner Verständlichkeit übrigens schätze, aber mit den Büchern von - oder wie in diesem Fall über - deutsche Philosophen ist es so eine Sache. Glaubt man, sie endlich verstanden zu haben, ist man auch nicht zufrieden, oder erst recht nicht, wie bei einer Unerreichbaren, die man begehrt und lange zu erobern versucht hat, und hat man sie endlich …

Von der mich zur Gänze erfüllenden Peinlichkeit und der mittlerweile ohrenbetäubend lauten Stimme Heinrichs abgesehen, hielt mich noch etwas davon ab, aufzustehen und mit der Dame Klartext zu reden - irgendetwas stimmte nicht an ihrer Stimme, oder an der Art, wie sie sprach, und dieses Etwas wurde deutlicher sobald sie aus „Nietzsche für Dummköpfe - Also sprach Zarathustra“ vorzutragen begann. Im übrigen fiel mir, trotz meiner lückenhaften Kenntnisse über deutsche Philosophen, sofort auf, daß die Stelle, die sie vortrug, nicht aus „Also sprach Zarathustra“ stammt - sondern aus „Die Fröhliche Wissenschaft“:

"Wie, wenn dir eines Nachts, ein Dämon in deine Einsamkeit nachschliche und dir sagte: ‚Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du
noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und jeder Schmerz und jede Lust deines Lebens muß dir wiederkommen und ebenso dieses Mondlicht zwischen den Bäumen, und ebenso dieser Augenblick und ich selber … Würdest du dich nicht niederwerfen und mit den Zähnen knirschen und den Dämon verfluchen, der so redete? …
… Oder wie würdest du dir selber und dem Leben gut werden, um nach Nichts mehr zu verlangen, als nach dieser letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung?"

„Sie sehen“, sagte, mit einem Anflug von Empörung, die Dame, „Sie sehen hier wahrscheinlich Ihre Behauptung bestätigt, die deutschen Philosophen hätten nichts anderes getan, als die Welt zu beschönigen.“ Ich hätte sagen, resp. fragen wollen, wie Sie auf die Idee käme, ich hätte derartiges jemals behauptet - und daß ich angsichts der mittlerweile ohrenbetäubenden Stimme von Heinrich, und meines mich gänzlich erfüllenden Gefühls von Peinlichkeit das Nietzsche-Zitat zwar akustisch verstanden, aber seinen Sinn nicht zu erfassen vermochte - brachte aber nicht mehr heraus als ein Ja in Form eines Stöhnens. Warum gerade ein Ja und nicht zum Beispiel ein Nein, kann ich nicht sagen, Nein zu sagen hätte womöglich - weil Nein ja das längere Wort ist - mehr Kraft gekostet.

Wie gesagt - irgendetwas stimmte nicht an ihrer Stimme, oder an der Art, wie sie sprach, und dieses Etwas wurde, als sie aus „Nietzsche für Dummköpfe“ vorzulesen begann, immer deutlicher - sie sprach, resp. las nämlich gar nicht - sie schien vielmehr zu singen, ein Singen war es aber auch wieder nicht, sondern, wie soll ich sagen, ein Sprechgesang.

„Allerdings“, sagte die Dame - obwohl ich meinen Sessel weiter und weiter nach hinten gerückt hatte, schien sie mir immer näher und näher zu kommen -, „allerdings befinden Sie sich mit Ihrer Behauptung, die Philosophen in Deutschland hätten die Welt nur beschönigt, in bester Gesellschaft, zumindest was Nietzsche betrifft. Theodor Adorno“, die Hochgewachsene hielt jetzt ein anderes Buch, Theodor W. Adornos „Vorlesung über Negative Dialektik“, in der Hand, das ich natürlich kenne – ungeachtet meiner lückenhaften Kenntnisse der deutschen Philosophen –, und schätze, und da es mir für das Werk eines deutschen Philosophen ungewöhnlich verständlich erscheint, möchte ich es auf das Wärmste empfehlen. Woher die Hochgewachsene auf einmal die „Vorlesung über Negative Dialektik“ her hatte, war mir nicht klar, und wohin „Nietzsche für Dummköpfe“ auf einmal verschwunden war, auch nicht – als hätte die mittelgroße, mittlerweile hochgewachsene Dame das eine weg- und das andere hergezaubert.
„Theodor Adorno“, die Hochgewachsene tippte ein paar Mal mit dem Finger, wie man sich auf die Stirn tippt, um seinem Gegenüber zu bedeuten, er sei ein Dummkopf, auf die „Negative Dialektik“, „Theodor Adorno hat Nietzsche aber mißverstanden. Nietzsche sagt nämlich gar nicht, daß die Welt gut sei, sondern es geht aus der Stelle, die ich gelesen habe, hervor: Du sollst Ja zur Welt sagen, egal, ob sie gut oder schlecht ist.“
Ich weiß nicht warum, aber ich hatte das Gefühl, daß die Hochgewachsene mich meinte, als sie „Du sollst Ja zur Welt sagen“ sagte, und wieder hätte ich aufstehen und der Hochgewachsenen entgegentreten, und sagen wollen: „Warum sagen Sie das mir?“ Und daß im übrigen nicht Adorno Nietzsche, sondern sie, die Mittelgroße bzw. Hochgewachsene, Adorno mißverstanden hätte – und ich hätte in diesem Moment der Dame die „Negative Dialektik“ aus den Händen gerissen, um darin fieberhaft nach jener Stelle zu suchen, in der Adorno auf dieses Ja zum Leben von Nietzsche Bezug nimmt:

„Es muß eben gefragt werden, was bejaht wird, was zu bejahen sei, und was nicht zu bejahen sei, anstatt daß das Ja als solches schon zum Wert erhoben wird, wie es leider schon bei Nietzsche, in dem ganzen Pathos des Jasagens zum Leben angelegt ist …“

„Aber wie immer das sei, mit Adorno und Nietzsche“, während ich mich im Geiste aufstehen und der Hochgewachsenen mit Entschiedenheit entgegenwerfen sah, hatte sie wieder - mit erhobenem Zeigefinger und Daumen, als wollte sie mit ihren Fingern eine Pistole simulieren - zu reden begonnen, „Wie immer das sei, Adorno selbst ist immerhin auch ein deutscher, oder zumindest deutschsprachiger Philosoph, und bevor Sie wieder behaupten, die deutschen Philosophen hätten die Welt nur beschönigt, schauen Sie, resp. hören Sie sich bitte an, was er sagt:

„Bei den Nazis, da war es noch die Rasse, an die unterdessen nun schon wirklich der Dümmste nicht mehr glaubt. Ich würde denken, daß in der nächsten Stufe der regressiven Ideologie es dann einfach das Positive sein wird, an das die Menschen glauben sollen etwa in dem Sinn, wie man in Heiratsannoncen die Formulierung ‚positive Lebenseinstellung‘ als etwas ganz besonders Empfohlenes empfindet … Heute, in einem Zustand, den die Menschen einerseits … alle als tief fragwürdig empfinden und der auf der anderen Seite, so stark ist, daß sie glauben, nichts dagegen zu vermögen … herrscht nun … so etwas wie das Ideal der abstrakten Positivität vor, in jenem Sinn, der Ihnen allen … von Kästner geläufig ist, der da in einem Gedicht schrieb: ‚Wo bleibt das Positive, Herr Kästner?‘“

Im Café der größten aller Buchhandlungen ist es jetzt still und Heinrich singt immer leiser, bis man ihn nicht mehr hört. Die Hochgewachsene schaut, an mir vorbei, in die größte aller Einkaufsstraßen. Es hat zu regnen begonnen. „Wo bleibt das Positive“, sie wiederholt sich, „Herr Kästner?“, und wieder: „Wo bleibt das Positive ...?“. Es ist kein Sprechgesang mehr, sondern ein reines, immer lauter und eindringlicher werdendes Singen: „Wo bleibt das Positive ...?“ Ich kenne die Melodie. Von früher, aus den Achtzigern, oder Siebzigern: The Stranglers, „No more heroes“, erste Liedzeile:

http://www.youtube.com/watch?v=Pg2np37JNEg&feature=related

Whatever happened to - the heroes? /Wo bleibt das Positive - Herr Kästner? …

Whatever happened toooo - the heroes/ Wo bleibt das Po-si-tiveeee - Herr Kästner …

Whatever happened tooooo -/
Wo bleibt das Po-si-tiveeeee -

- the heroes …/
- Herr Kästner …

Statt auf mich schauen die Buchhandlungskunden jetzt in ihre Bücher, und als würden sie der Hochgewachsenen zustimmen wollen, nicken sie, wie synchronisierte Puppen, im Rhythmus des immer lauter und eindringlicher werdenden Singens.
"Wo bleibt das Positive - Herr Kästner?"

Ende - bzw. der Anfang eines Romans?
***
P.S.: Hier noch Auszüge aus dem Gedicht von Kästner, auf das Adorno Bezug nimmt:

Und immer wieder schickt Ihr mir Briefe,
in denen Ihr, dick unterstrichen, schreibt:
»Herr Kästner, wo bleibt das Positive?«
Ja, weiß der Teufel, wo das bleibt.

[…]

Ihr braucht schon wieder mal Vaseline,
mit der Ihr das trockene Brot beschmiert.
Ihr sagt schon wieder, mit gläubiger Miene:
»Der siebente Himmel wird frisch tapeziert!«

Ihr streut euch Zucker über die Schmerzen
und denkt, unter Zucker verschwänden sie.
Ihr baut schon wieder Balkons vor die Herzen
und nehmt die strampelnde Seele aufs Knie.

Die Spezies Mensch ging aus dem Leime
und mit ihr Haus und Staat und Welt.
Ihr wünscht, daß ich's hübsch zusammenreime,
und denkt, daß es dann zusammenhält?

Ich will nicht schwindeln. Ich werde nicht schwindeln.
Die Zeit ist schwarz, ich mach euch nichts weis.
Es gibt genug Lieferanten von Windeln.
Und manche liefern zum Selbstkostenpreis.

Habt Sonne in sämtlichen Körperteilen
und wickelt die Sorgen in Seidenpapier!
Doch tut es rasch. Ihr müßt euch beeilen.
Sonst werden die Sorgen größer als Ihr.
[…]

Sonntag, 13. Juni 2010

Emma und die Revolution im Iran - das Freudianische und das Benjaminische der iranischen Freiheitsbewegung






Als anläßlich des zehnten Jahrestages der Oktoberrevolution die „Kommission für die Jubiläumsfeierlichkeiten des Zentralexekutivkommitees“ Sergej Eisenstein mit der Produktion eines Jubiläumsfilms beauftragte, drehte Eisenstein an Originalschauplätzen und mit Revolutionären von 1917 eine Art docufiction, "Oktober", die zum Filmklassiker avancierte. Zehn Jahre nach der Oktoberrevolution spielten tausende an ihr Beteiligte in einer gigantischen Nachstellung der Revolution - sich selbst.

An den Protesten nach den gefälschten iranischen Präsidentschaftswahlen vom Juni 2009 nahmen und nehmen viele teil, die auch schon an der Revolution 1979 teilgenommen hatten, zum Teil die selben Parolen skandierend, die sie auch schon damals skandiert hatten. Der Weltöffentlichkeit wurden vor allem die nächtlichen Allaho-akbar-Rufe von den Dächern Teherans bekannt.

Daß als „historisch“ empfundene Ereignisse, wie der Anschlag vom 11. September oder die jüngste Weltwirtschaftskrise, mit (vermeintlichen) historischen Vorläufern verglichen, oder zu Wiederholungen dieser ihrer Vorläufer-Ereignisse deklariert werden, ist nicht neu. Historisierungen dieser Art sind häufig Domestizierungsversuche. In einen geschichtlichen, daher vertrauten Sinnzusammenhang gestellt, wird dem Neuen sein Neuigkeitscharakter und damit sein Beunruhigendes genommen.

Der Rekurs der iranischen Protestbewegung auf die Revolution von 1979 scheint aber einem anderen Muster zu folgen. Sie sendet jedenfalls keine Signale der Beruhigung aus. Zwar sind den Beteuerungen ihrer „Führer“, sie strebten alles andere an, als eine Wiederholung der 1979er Revolution, Glauben zu schenken. Nichtsdestotrotz inszeniert sich die Protestbewegung selbst als Beschwörung ebendieser Revolution. Sollte diesem Widerspruch so etwas wie eine Botschaft zugrundeliegen kann diese nur in einer Warnung an die Adresse der Herrschenden bestehen: "Ja, wir haben von Revolutionen genug, wenn Ihr uns aber keine Wahl läßt, ist es bald wieder so weit."

Die Warnung ist angekommen. Im August nannte der Führer der Islamischen Republik, Ali Khamenei, die Protestbewegung eine Karikatur der Revolution von 1979, womit er seine Angst vor seinen aufbegehrenden Untertanen - gerade indem er sie zu verneinen versuchte - umso sichtbarer machte, und dabei an die Worte eines Analysanden Sigmund Freuds erinnerte: „Sie fragen, wer diese Person im Traum sein kann. Die Mutter ist es nicht.“ Freud berichtigt: „Also ist es die Mutter“.

Dennoch verweist Khameneis Rede von der Freiheitsbewegung als Karikatur auf eine real existierende Gefahr. Die Proteste nach den Präsidentschaftswahlen werden vielfach als eine Nachstellung der Revolution von 1979 empfunden, und unweigerlich denkt man an die Oktober-Revolutionäre, die in Eisensteins Massenszenen sich selbst spielen durften. Heißt aber eine Revolution zu reinszenieren nicht zwangsläufig Revolution zu spielen statt sie zu machen?

So genuin die politischen Forderungen der iranischen Freiheitsbewegung auch sind - historische Reinszenierungen laufen immer Gefahr, komisch zu wirken. Marx‘ berühmte Behauptung, Geschichte ereigne sich einmal als „große Tragödie“, im Wiederholungsfall aber als „lumpige Farce“, scheint genau in diese Richtung zu weisen. Nicht auszuschließen, daß Khamenei, der in den 70ern des letzten Jahrhunderts den intellektuellen Mullah gab, sich bei seiner Diffamierung der Demokratiebewegung von diesem Zitat leiten hat lassen, so daß man versucht wäre, Khameineis Stellungnahme ihrerseits zur Karikatur eines Marx-Zitats zu deklarieren.

Was hat es aber mit der Marx'schen Gegenüberstellung Farce versus Tragödie auf sich?

"Hegel bemerkte irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Thatsachen und Personen sich zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als große Tragödie, das andere Mal als lumpige Farce". (Karl Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. Frankfurt am Main, 2007, S. 24)

In diesem Anfangssatz des "Achtzehnten Brumaire des Louis Napoléon" spielt Marx auf den Staatsstreich des späteren Napoléons III. 1851 sowie auf jene Periode der französischen Geschichte an, die mit der Februarrevolution von 1848 begann und mit diesem Staatstreich endete. Diese Ereignisse stellt Marx - als "lumpige Farce" - der "großen Tragödie" der Französischen Revolution 1789 und der Machtergreifung Napoléons I. 1799 gegenüber.
Wagt man sich über den vielzitierten Einleitungssatz hinaus, findet man den Hinweis, daß nicht bloß die „kleinere“ Französische Revolution von 1848 die größere von 1789 imitiert hätte – die „größere“ Revolution hätte sich ihrerseits schon als Wiederholung inszeniert:

"Die Revolution von 1789 - 1814 drapierte sich abwechselnd als römische Republik und als römisches Kaisertum". (Ebd.)

Und diese, skurill anmutende Verkleidung der französischen Revolutionäre als Römer scheint kein einmaliges geschichtliches Kuriosum gewesen zu sein, vielmehr ein in der Geschichte von (politischen und religiösen) Revolutionen wiederkehrendes Muster. Marx erwähnt namentlich Luther, der sich "als Apostel Paulus […] maskiert" und "Cromwell und das englische Volk, die dem Alten Testament Sprache, Leidenschaften und Illusionen für ihre bürgerliche Revolution entlehnt" hätten.

"Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden. Und wenn sie eben damit beschäftigt scheinen, sich und die Dinge umzuwälzen […], gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit […] herauf". (Ebd.)

Revolutionen sind - folgt man dieser Passage - ohne Reinszenierung von vergangenen Revolutionen nicht zu haben. Und konfrontiert mit dieser zweiten Behauptung, bedarf jene erste, Geschichte ereigne sich einmal als Tragödie, das andere Mal als lumpige Farce, einer Revision. Schon jenes ursprünglichere Ereignis scheint seinerseits die Karikatur eines anderen, weiter zurückliegenden Ereignises zu sein und so fort. Erscheint uns 1848 als Karikatur von 1789 und Louis Napoléon als Karikatur seines Onkels, dann müssen wir die erste französische Republik ihrerseits zur Karikatur der römischen und den ersten Napoléon zur Karikatur Caesars erklären.

Daß die genauere Betrachtung seiner Eingangsthese Farce versus Tragödie diese sofort zu unterlaufen droht, dessen ist sich Marx offensichtlich bewußt. Weshalb er ein Unterscheidungskriterium einzuführt, um zu erklären, warum zwar alle Revolutionen eine Farce sind, manche aber trotzdem große Tragödien:

"… die Parteien und die Masse der alten französischen Revolution vollbrachten in dem römischen Kostüme […] die Aufgaben ihrer Zeit, die […] Herstellung der modernen bürgerlichen Gesellschaft". (Ebd.)

Ob eine Revolution von der Sorte Tragödie oder Farce ist, wäre also nicht eine bloße Frage der historischen Abfolge - was im Fall der iranischen Demokratiebewegung bedeuten würde, daß ihr, bloß weil sie sich 30 Jahre nach der Revolution von 1979 ereignet, automatisch die Ettikette Farce zukommen würde. Vielmehr müßte geklärt werden, ob und wieweit sie imstande ist, die "Aufgaben ihrer Zeit" zu erfüllen. Eine Frage, die aber natürlich erst nachträglich, also (Jahre) nach einem allfälligen Sieg der Demokratiebewegung zu beantworten wäre, so daß wir, was die Frage der Bewertung der iranischen Freiheitsbewegung betrifft, mit leeren Händen dastünden - würde uns nicht gerade der Begriff der "Nachträglichkeit" einen möglichen Ausweg weisen.

Im "Entwurf einer Psychologie" beschreibt Freud den Fall einer jungen Frau, Emma, die "unter dem Zwange steht, daß sie nicht allein in einen Kaufladen gehen kann". Emma selbst bringt ihr Symptom mit einer Erinnerung in Zusammenhang, in der sie als Zwölfjährige, in einen Laden etwas einkaufen ging, die beiden Kommis [kaufmännische Angestellte, Anm. des Autors] miteinander lachen sah und in irgendwelchem Schreckaffekt davonlief". "Weiteres Forschen", schreibt Freud, "deckt nun eine zweite Erinnerung auf […]. Als Kind von acht Jahren ging sie in den Laden eines Greißlers, allein, um Näschereien einzukaufen. Der Edle kniff sie durch die Kleider in die Genitalien" - und lächelte dabei (Sigmund Freud: Entwurf einer Psychologie. In ders.: Gesammelte Werke, Nachtragsband, Frankfurt am Main 1999, S. 445). Aus diesen und anderen Angaben folgert Freud, daß das Lachen der beiden Kommis im Kaufladen die zwölfjährige Emma - unbewußt - an das Grinsen des Greißlers und somit an den sexuellen Übergriff „erinnerte“, den sie mit acht erdulden mußte. Erst in diesem Moment sei bei dem, laut Freud mittlerweile sexuell gereiften Mädchen der Übergriff des Greißlers - wiederum unbewußt - zum „nachträglichen Trauma“ geworden. Und dieses hätte sich wiederum in das Symptom verwandelt, nicht allein in einen Laden gehen zu können.

Freud zieht aus dieser, für sein Konzept der Nachträglichkeit exemplarischen Fallgeschichte den Schluß, "daß eine Erinnerung einen Affekt erwecken könne, den sie als Erlebnis nicht erweckt hatte, weil unterdes die Veränderung der Pubertät ein anderes Verständnis des Erinnerten ermöglicht hat." (Ebd.)
Nachträglichkeit in diesem Sinne heißt nicht bloß, daß die „wahre Bedeutung“ eines Ereignisses erst nachträglich verstanden werden könne, sondern daß ein wesentlicher Aspekt des Ereignisses erst nachträglich wirksam wird, ja nachträglich sich überhaupt erst ereignet, da dem Subjekt zu einem späteren Zeitpunkt ein neues Deutungs-Instrumentarium zur Verfügung steht. In Emmas Fall dasjenige eines sexuell gereiften Subjekts.

Daß gerade Freud eine Achtjährige als asexuelles Wesen zu betrachten scheint – gilt er nicht als Entdecker der infantilen Sexualität? -, überrascht natürlich, ebenso wie die Auffassung, daß die Szene beim Greißler für Emma nicht schon im Moment des Erlebens traumatisch gewesen sein soll. Aber ungeachtet aller Irritationen, die Emmas Fallgeschichte auslösen mag - das Freudsche Konzept der Nachträglichkeit könnte auf die Theorie der Revolutionen ein unerwartetes Licht werfen: Nicht die Revolutionen der Vergangenheit sind es, die jene der Gegenwart determinieren, vielmehr hat die Gegenwart das Potential, das in der Vergangenheit angelegte, aber nicht eingelöste überhaupt erst Wirklichkeit werden zu lassen.
In dieser Sicht wäre die Reinszenierung der iranischen Revolution von 1979 durch die aktuelle Demokratiebewegung ein Akt der Erinnerung, durch den die „Wahrheit der Revolution von 1979“ überhaupt erst die Möglichkeit hätte, Wirklichkeit zu werden.

Beim Versuch das psychoanalytische Konzept der Nachträglichkeit auf die Theorie revolutionärer Reinszenierungen zu übertragen ist natürlich Vorsicht geboten. Allerdings existiert zwischen der Geschichte politischer Revolutionen und dem nachträglichen Wirksamwerden von Traumata in Fallgeschichten der Psychoanalyse eine vielversprechende Parallele – sozusagen ein „nachträglich Traumatisches“ von Revolutionen.
Gemeint ist nicht die Tatsache, daß Revolutionen im Gedächtnis von Gesellschatften nun einmal als traumatische Zäsur verzeichnet sind, also nicht jene, mit Revolutionen scheinbar gesetzmäßig verbundenen Exzesse der Gewalt, Säuberungen, Hinrichtungen, Enteignungen. Das nachträglich Traumatische von Revolutionen bleibt im Unterschied zu diesem ihren „offensichtlich Traumatischen“ zunächst unerhört, ist sie doch nicht an dem festzumachen, was eine Revolution war, sondern an dem, was sie hätte sein können und nicht war. An dem was verheißen - und gebrochen wurde. Es geht aber, um einem Mißverständnis vorzubeugen, auch nicht um die Kluft zwischen revolutionärem Anspruch und postrevolutionärer Wirklichkeit. Nicht darum, daß „die Ideale der Revolution verraten worden wären“. Der Hund liegt in den Idealen selbst. Die iranische Revolution von 1979 war nicht – wie es ein Gerücht haben will – eine ursprünglich säkulare/bürgerliche/linke Bewegung, die erst später pervertiert worden wäre. Sie war von Anfang pervers. In den säkularen Rufen nach Demokratie und sozialer Gerechtigkeit hatten sich von Anfang an andere Stimmen gemischt.

Wie Emma den obszönen Übergriff – und das Lächeln - des Greißlers im Moment, als sie es erlebte, nicht zu „decodieren“ vermochte, so fehlten der iranischen Gesellschaft von 1979 die „Decodierungs-Instrumente“, um zu erkennen, daß die zentrale Parole der 1979er Revolution

Freiheit
Unabhängigkeit
Islamische Republik

von der traumatischen „Rückkehr der opferfordernden, obszönen Über-Ich-Gottheit“ (Slavoj Zizek: Auf verlorenem Posten. Frankfurt am Main 2008, S. 97) kündete.

Das Islamische an der herbeiskandierten Republik wurde vielmehr als eine Art Sicherheitsventil zur Verhinderung mißliebiger Aspekte der Moderne verstanden - jener Moderne, deren „gute“ Seiten (Menschenrechte, bürgerliche Freiheiten, Rechtsstaatlichkeit) die Iraner keineswegs missen wollten. Genau dafür waren sie ja auf die Straße gegangen und hatten ihren Kaiser verjagt. Islamisch als anachronistisches Beiwort zur Republik wurde mit der heilen Welt - und dem Lächeln - eines altersweisen Dorfgeistlichen assoziiert. Islamisch stand, ins Christlich-Abendländische gewendet für den Kräuterpfarrer und die Idylle im Kloster, nicht aber für Savonarola und schon gar nicht für Inquisition.

Was das Islamische an der nach der Revolution von 1979 gegründeten Republik tatsächlich bedeutete, kann im vollen Umfang erst jetzt „realisiert“ weren, in einem Moment, in dem die Abschaffung der Islamischen Republik zum ersten Mal seit ihrer Gründung ernsthaft zur Debatte steht.

Die am meisten und kontroversiellten diskutierte Parole der iranischen Protestbewegung ist der zentralen Parole der 1979er Revolution nachempfunden:

Freiheit
Unabhängigkeit
Iranische Republik

Die Rede von der Iranischen Republik muß den mit dem Iran Unvetrauten irritieren. Was soll damit gemeint sein? Eine dem iranischen Nationalismus verpflichtete Republik? Eine für den Iran maßgeschneiderte, noch zu entwickelnde Staatsform? Die Vorwürfe, die diese Fragen enthalten – die Parole würde dem illusionären Wunsch nach einer „iranischen Sonderform der Demokratie“ das Wort reden, resp. einem iranischen Nationalismus – werden häufig auch in iranischen Medien erhoben. Von Leuten also, die Entstehungshintergrund und Kontext der Parole kennen müßten. Ihnen sei unterstellt, das Offensichtliche, aus welchen Motiven auch immer, nicht sehen zu wollen.

Seit Monaten kursieren im Iran Geldscheine, auf denen in der Staatsbezeichnung Islamische Republik Iran das Beiwort Islamisch durchgestrichen ist. Übrig bleibt Republik Iran. Die Parole von der Iranischen Republik ist das Ergebnis genau dieses Subtraktionsverfahrens. Das Iranische der Iranischen Republik kann keinen wie immer gearteten materialen Inhalt (Nationalismus, ein iranisches Sonder-Staatsmodell etc.) beanspruchen. Iranisch ist nichts als die Leerstelle für das durchgestrichene Islamisch.

Indem aber die Parole

Freiheit
Unabhängigkeit
Iranische Republik

an die zentrale Parole der ‘79er Revolution

Freiheit
Unabhängigkeit
Islamische Republik

anknüpft, verweist sie auf jenes Traumatische der ‘79er Revolution, das sich - im Sinne der Freudschen Nachträglichkeit - erst jetzt realisieren kann. Und das die Rede von der Iranischen Republik - indem sie es wagt, den Finger auf genau jene traumatische Wunde zu legen und Islamisch durch die Leerstelle Iranisch zu ersetzen – zugleich außer Kraft setzt.

Walter Benjamin hat, vermutlich ohne Kenntnis des Freudschen Konzepts der Nachträglichkeit, eine Art historische Theorie der Nachträglichkeit entwickelt. So wie bei Freud bestimmte Ereignisse der Gegenwart bestimmte Ereignisse der Vergangenheit nachträglich zu dem werden lassen, was sie eigentlich waren, kann auch für Benjamin die Gegenwart die Vergangenheit rückwirkend verändern. Es geht aber bei Benjamin nicht um die nachträgliche Realisierung eines Traumas. Er schreibt der Gegenwart im Gegenteil „eine schwache messianische Kraft“ zu. Die Gegenwart, so ließe sich Benjamin lesen, kann die Vergangenheit erlösen.

"Ist dem so, dann besteht eine geheime Verabredung zwischen den gewesenen Geschlechtern und unserem. Dann sind wir auf der Erde erwartet worden. Dann ist uns wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mitgegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat. Billig ist dieser Anspruch nicht abzufertigen." (Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: ders., Gesammelte Schriften, Beiden. I.2. Frankfurt am Main. 1980, S. 691)

Mit der Reinszenierung ihrer Vorgänger-Revolution setzt die iranische Freiheitsbewegung einen Akt der Erinnerung und nachträglichen „Realisierung“ von deren - traumatischer - Wahrheit. Diese Realisierung geschieht auf Seiten der Freiheitsbewegung auf der symbolischen Ebene. Zugleich ereignet sich diese nachträgliche Realisierung aber auch real: Angesichts der Massenproteste sieht sich das aus jener Revolution hervorgegangene Regime gezwungen, deutlicher als je zuvor, seine wahre Fratze zu zeigen - vom brutalen Vorgehen gegen friedliche Demonstranten bis hin zu Schauprozessen, Tötungen, Vergewaltigungen, Folterungen. All das könnte man als das Freudianische der iranischen Freiheitsbewegung bezeichnen.

Wie ich anhand der Parole von der Iranischen Republik zu zeigen versuchte - eine Parole, in der sich die Anliegen der Avantgarde der iranischen Demokratiebewegung verdichten - geht das reinszenierende Erinnern der Islamischen Revolution mit ihrer symbolischen Außer-Kraft-Setzung einher (Ersetzen von Islamisch durch Iranisch). In der Beschwörung der Revolution von 1979 geht die Freiheitsbewegung daran, jene Revolution nachträglich vom traumatischen Kern ihrer selbst zu erlösen. In diesem Sinne ist die iranische Demokratiebewegung Benjaminisch.

Samstag, 12. Juni 2010

وانقلاب ایران Emma






جنبه های فرویدی وبنیامینی* جنبش سبز

از: سما معانی
ترجمه: کیمیاگر
:ویراستارمتن فارسی
ایرج هاشمی زاده

:مقاله‌ای را که میخوانید در شماره اخیر کیهان لندن منتشر شده است

http://www.kayhanpublishing.uk.com/Pages/archive/khandaniha/article/Sale89_10/Dr_Maani.htm

Für die deutschsprachigen Leser: Mein Essay "Emma und die Revolution im Iran - das Freudianische und das Benjaminische an der iranischen Freiheitsbewegung" versucht ausgehend vom Rekurs der aktuellen iranischen Protestbewegung auf die Revolution von 1979 eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen revolutionärer Reinszenierungen.

Die hier veröffentlichte persische Übersetzung meines auf Deutsch verfaßten Essays erschien gestern im Londoner Keyhan - der größten iranischen Oppositionszeitung. Herzlichen Dank übrigens an "Kimiagar" für die exzellente Übersetzung und an Iradj Hashemizadeh für das - genauso exzellente - Lektorieren der Übersetzung!

وقتی «کمسیون بزرگداشت کمیته مرکزی» حزب کمونیست شوروی از«سرگی ایزن اشتاین»1 خواست تا به مناسبت دهمین سالگرد انقلاب اکتبر فیلمی تهیه کند، «ایزن اشتاین» درمیادین حقیقی وبا انقلابیون سال 1917
فیلم مستندی به نام «اکتبر» ساخت- فیلمی که بعد ها درجایگاه فیلم های کلاسیک جای خوش کرد. ده سال پس ازگذشت انقلاب اکتبر هزاران نفرازانقلابیون آنزمان درفیلم غول پیکرایزن اشتاین، دگرباردرنقش انقلابیون بروی صحنه سینما آمدند.

درتظاهرات عظیم تهران پس ازاعلام نتیجه انتخابات ریاست جمهوری وسرقت آرای مردم وتقلب آشکار سیل تظاهرکنندگان راهی خیابان ها شدند. درمیان توده تظاهرکنندگان بسیاری از انقلابیون بهمن ماه 1357 نیز دیده می شدند و دقیقا همان شعارهایی را برزبان آوردند که 30 سال پیش نیز برعلیه رژیم شاه درفضای تهران آنزمان بگوش می رسید، مانند فریاد «الله اکبر» که باردیگر پس از 30 سال ازپشت بام های تهران ودگرشهرهای ایران آرامش شب را برهم ریخت.

اینکه وقایع تاریخی چون11سپتامبرویا بحران اخیراقتصادی با رویدادهای تاریخی مشابه مقایسه می گردد ویاحتی تکرارهمان رخدادهاتلقی می شود، نکته تازه ای نیست. این نوع تصرف رخدادهای تاریخی معمولا کوششی است برای اهلی کردن آنها بدین معنا که وقتی رویدادی به تاریخ می پیوندند یا پیوند داده می شود، ارتباط آشنا وشناخته شده ای با تاریخ بدست می آورد و جنبه های تازه ونگران کننده اش را ازدست می دهد.

پیوند جنبش سبزباانقلاب 1357 اما نه تنها خالی ازبار«آرامش بخش» بود بلکه برعکس ترس هراسناکی درصفوف حاکمین جمهوری اسلامی بوجود آورد. باوجود آنکه سران جنبش سبزمکررا تاکید وحتی اصرارکردند که خیال تکرارانقلاب 1357را درسرندارند، نحوه تصویراین جنبش امادقیقا حال وهوای انقلاب 30 سال گذشته را داشت - واگرپیامی دراین تضاد نهفته باشد تنها می تواند انگشت اخطار بسوی حاکمین وقت باشد که «مادرسرخیال انقلاب نداریم، اما اگر حق انتخاب برای مان نگذارید، آنوقت باردیگرتحولی بنیادی درپیش است»

حاکمین جمهوری اسلامی پیام را دریافت کردند. درماه اوت 2009 علی خامنه ای، رهبرجمهوری اسلامی، جنبش سبزرا «کاریکاتور انقلاب 57» نامید وبااین سخن ــ ودقیقا باهمین کوشش درکتمان آن ــ ترس ووحشت خویش را از«زیردستان» به پابرخاسته فاش کرد. سخنان خامنه ای انسان را به یاد سخن یکی ازبیماران «فروید» می اندازد که خطاب به «فروید» گفت: «لابد می پرسید این شخص دررویای من چه کسی است؟ درهرصورت مادرم نمی تواندباشد» وفروید درپاسخ به بیمارگفت« پس دقیقا مادرتان است» !

اماشاید براستی دراین سخن خامنه ای حقیقتی نهفته باشد. بسیاری ازمفسران تظاهرات پس ازپایان انتخابات را بازسازی صحنه های انقلاب بهمن 1357 می خوانند واین بی درنگ خاطره انقلابیون اکتبر 1918 روسیه را به خاطره ما بازمی گرداند، که 10 سال بعدازانقلاب اکتبر درفیلم «ایزن اشتاین» درنقش سابق خود برصحنه ظاهرشدند . اما آیا تکرار صحنه های یک انقلاب در جنبش یاانقلابی دیگر به این معنا نیست که جنبش یا انقلاب دوم فقط جنبه بازی ونمایش رادارد؟

این گفته مارکس نیزکه «تاریخ نخست بصورت یک تراژدی جلوه می کند ودرصورت تکراربه صورت کمدی» اشاره ای است به این سوی وبعید نیست که خامنه ای نیز برای تحقیرجنبش سبزازکارل مارکس کمک گرفته باشد، که دراینصورت زیاد هم ناروا نیست اگرسخن خامنه ای را کاریکاتوری ازگفته مارکس بدانیم.

بدنیست به این سخن مارکس نگاه دقیقتری بیندازیم:

"هگل تاکید می کند که همه رویدادهاوشخصیت های بزرگ تاریخ جهان دوباربه صحنه می آیند. اواما فراموش کرد اضافه کند که نخست بصورت تراژدی و باردوم به صورت کمدی" 2.

درکتاب«هجدهمین بروماری لویز بناپارت» مارکس به کودتای«لویز بناپارت» ــ که بعدها به ناپلئون سوم موسوم شد ــ دردسامبر1851و به دوره کوتاهی ازتاریخ فرانسه اشاره دارد که باانقلاب فوریه 1848 آغازشد وبا کودتای ناپلئون سوم خاتمه یافت . مارکس این هردورویداد وجزئیات پیشتاز آنرا درمقایسه با بقول او تراژدی انقلاب1789 وبه قدرت رسیدن ناپلئون اول درسال 1799 یک «کمدی» می خواند.

جالب اینجااست که درادامه سخن، مارکس براین باور است که نه تنها انقلاب «صغیر» 1848 درفرانسه تقلیدی ازانقلاب ــ به قول او ـ کبیر 1789
بوده است بلکه آن انقلاب کبیرنیز به نوبه خود پدیده ای تکراری بوده است.

«انقلاب 1789 ــ 1814 به تناوب یک بار لباس جمهوری روم ودگربار جامه امپراتوری روم را برتن کرد» 3

واین صحنه سازی انقلابیون فرانسه درنقش رومی ها درتاریخ انقلابهای سیاسی ومذهبی ازنظرمارکس پدیده بیسابقه ای نیست. اودراین ارتباط ازمارتین لوتر که خودرا درنقش « پولوس» 4 مقدس می دید وهمیچنین از«الیورکرمول»5 ومردم انگلیس نام می برد که به گفته او ازکلام تورات برای یک انقلاب بورژوا الگو گرفته بودند: «سنت تمام دوده های مرده مانند کابوسی برمغززندگان سنگینی می کند وهنگامی که به نظر می رسد می خواهندخود واوضاع را دگرگون سازند؛ درست درهمین دوران بحران انقلابی است که ارواح گذشتگان را فرا می خوانند» 6



انقلاب ازاین نگاه بدون بازسازی صحنه های انقلاب های پیشین یا به قول مارکس بدون «فراخواندن ارواح گذشتگان» میسر نیست، و بابرخورد به این ادعای دوم باید درادعای نخست تجدیدنظرکرد ونتیجه گرفت که چنانچه رویداد 1848 چون کاریکاتوری ازانقلاب 1789 ولویز ناپلئون ـ به حق ـ کاریکاتوری ازعمویش جلوه گر می شود، پس باید جمهوری اول فرانسه را نیز به نوبه خود کاریکاتور جمهوری روم و ناپلئون اول را کاریکاتور سزار بشماربیاوریم.

البته مارکس برتضاد بین گفته اول خود ــ مبنی براین که انقلاب ها ابتدا به صورت تراژدی و دگربار به صورت کمدی جلوه می کنند- وگفته دوم خود -مبنی براینکه همه انقلاب ها تکراری و بهمین جهت کمدی هستند - واقف است وبرای حل این تضاد نظریه سومی را مطرح می کند براین مبنا که هرچند درواقع همه انقلابها کمدی هستند بااین حال برخی ازکمدی ها را می توان تراژدی های بزرگی نیز قلمداد کرد:

«توده ها واحزاب انقلاب پیشین فرانسه درجامه رومی وظایف عصرخودرا مبنی بر ایجاد جامعه مدرن بورژوازی به انجام رساندند» 7

اینکه آیا انقلاب ازنوع تراژدی ویا کمدی است؛ ازاین نگاه ــ وبرخلاف آنچه جمله نخست بروماری بدان اشاره دارد - نمی تواند صرفا به ترتیب تاریخی وقوع آن بستگی داشته باشد وصرف اینکه جنبش سبز 30 سال پس ازانقلاب 1357 اتفاق افتاده نمی توان به آن برچسب کمدی زد. پرسش اساسی این است که هرجنبش یا انقلابی تا کجا وتاچه حد توانانی حل «وظایف عصر» خودرا دارد.



اما «وظایف عصرما» کدامند؟ و توانائی جنبش سبز درحل این وظایف را باکدامین معیار می توان سنجید؟ بنظرمی رسد دراینجا ما به یک ماشین تخیلی محتاج ایم تا سواربرآن به آینده سفرکنیم و سالها پس ازپیروزی احتمالی جنبش سبز بانوعی «درک مابعدی» به این دوسوال پاسخ دهیم. بافقدان چنین ماشین تخیلی «زمان نوردی» ما ازپاسخ به این دوسوال حیاتی معذوریم. مگرآنکه همین واژه «درک مابعدی» بتواند راهگشای معمای ما گردد.

فروید در«طرح روانشناسی»8 از زن جوانی به نام «اما» سخن می گوید که قادرنیست به تنهایی درون مغازه ای برود. «اما» مشگل خودرا درارتباط با خاطره ای اززمان کودکی ــ دوازده سالگی ــ می بیند. درآن خاطره «اما» ــ که به نظرفروید در آن زمان تازه به سن بلوغ رسیده ــ دوفروشنده مرد را درمغازه ای درحال خندیدن می بیند ووحشتزده از آن مغازه می گریزد.
فروید باکنجکاوی خاص خود خاطره دیگری را ازدختر بیرون می کشد؛ دراین خاطره دوم «اما» درسن هشت سالگی به تنهایی برای خرید شکلات وشیرینی به یک بقالی می رود.وبقال ــ بانیشخندی برچهره ــ به دختردست درازی می کند9.
فروید ازاین دواتفاق برای «اما» نتیجه می گیرد که خنده های آن دوفروشنده درمغازه «اما» ی 12 ساله را ناخودآگاه به یاد نیشخند بقال ودست اندازی او می اندازد .
ازنگاه فروید خنده های آن دوفروشنده باعث نوعی «درک مابعدی» ــ والبته ناخودآگاه ــ ازآن آسیب روحی درسن هشت سالگی است ونشانه بروز آن آسیب ترس «اما» از ورود به هردکان ومغازه ای است.

فروید ازاین مورد خاص که آنرا به عنوان نمونه برای تئوری «درک ما بعدی» اش مطرح می کند نتیجه می گیرد که یادآوری یک خاطره می تواند منجربه آشفتگیی گردد که به هنگام وقوع آن حادثه رخ نداده، اما تحولات ناشی از بلوغ جنسی درک دیگری ازآن رویداد راممکن می سازد.
«درک مابعدی» برای فروید فقط به این معنا نیست که مفهوم واقعی رویدادی پس ازگذشت زمان معینی روشن می شود؛ اوبدین باوراست که جنبه اساسی یا به بیانی دیگر حقیقت آن رویداد درآینده وبا گذشت زمان به وقوع می پیوندد، زیراانسان پس از گذشت زمان معینی قادربه مواجه شدن باجنبه های اساسی وحقیقت آن رویداد است . در مورد «اما» بعدازرسیدن به بلوغ جنسی.

ما اگرچه درداستان «اما» بابرخی مجهولات مواجه هستیم، اما تئوری «درک مابعدی» فروید می تواند به نحو غیرمنتظره ای بعضی ازگره های «تئوری انقلاب ها» را بگشاید. این تنها انقلاب های گذشته نیستند که سرنوشت انقلابهای زمان مارا تعیین می کنند، زمان ما نیزتوان آنرا دارد که گره های بسته دیروزرا بازکند.

درانتقال تئوری«درک مابعدی» ازچهارچوب روانکاوی فروید به تئوری «بازسازی» انقلابها البته باید احتیاط گزید. ازطرف دیگر بین تاریخ انقلابها و آنچه فروید ازآن به عنوان «درک مابعدی» آسیب های روحی یاد می کند مشابهات پراهمیتی وجود دارد. نوعی درک مابعدی آسیب هایی که درانقلابها نهفته است. منظورما اینجا این نیست که انقلابها درخاطره جوامع به هرحال همچون آسیب های روحی به ثبت می رسند. منظور پدیده هایی چون انفجارخشونت، اعدام ها، پاکسازی ها نیستند. درک مابعدی آسیب هایی که انقلابها مسبب آن هستند اشاره به پدیده ای دارد که درابتدا محسوس نیست، اشاره به آنچه که بود ندارد، اشاره به آنچه می توانست باشد ونبود دارد. بازمنظورشکاف بین شعارهای انقلاب وواقعیت های پس ازانقلاب نیست. منظور خیانت به ایده آلهای انقلاب نیست- مشگل درخود ایده آل ها است. انقلاب 57 برخلاف آنچه شایع است ازآغاز نه یک جنبش دموکراتیک ونه یک چنبش چپ بود که بعدها منحرف شد. انقلاب 57 ازابتدا منحرف بود. ازآغاز فریاد خواستارهای دموکراتیک ویا عدالت اجتماعی بانداهای دیگر توام بود. همانطورکه «اما» به هنگام وقوع آن قادربه درک معنای دست اندازی بقال ــ ونیشخند اوــ نبود. جامعه ایران سال
1357
نیزقادربه درک آن نبود که شعارمحوری انقلاب : استقلال، آزادی، جمهوری اسلامی به قول «اسلاوی ژیژک»10 بازگشت خداوندی قربانی طلب را بشارت می داد.11
درآن زمان پسوند اسلامی واژه جمهوری همچون سوپاپ اطمینان برای جلوگپری ازجوانب ناخوشایند مدرنیته درنظر گرفته شد. همان مدرنیته ای که جوانب «خوب» آنرا ــ آزادیهای فردی، حقوق بشر، قانون مداری ــ جامعه آن روز ایران خواستار شان بود. درآنزمان پسوند ــ نابجای ــ اسلامی به «جهان پاک» ولبخند یک روحانی فرزانه پیوند داده می شد واگرآنرابه فرهنگ غربی ــ مسیحی انتقال دهیم صومعه شاعرانه را تداعی می کرد ونه پدیده ای چون نفنیش عقاید یا شخصیتی چون «ساوناراولا» 12.

درک معنای واقعی پسوند اسلامی جمهوری که درپی انقلاب 57 درفرهنگ سیاسی ماوارد شد ، تازه روزدر«مابعد» ممکن گردید ، درزمانی که درپی تقلب گسترده انتخابات ریاست جمهوری سال گذشته براندازی این جمهوری رابرای نخستین بار بطور جدی ــ ونه به صورت یک آرزوی آرمان شهری ــ مطرح ساخت.

بحث انگیزترین شعارجنبش اعتراضی اخیر به همان شعارمحوری انقلاب
57
اشاره دارد: استقلال ، آزادی ، جمهوری ایرانی. سخن از«جمهوری ایرانی» ممکن است برای کسانی که آشنایی چندانی با مسائل ایران ندارند مظنون به نظرآید. منظوراین شعار چیست؟ جمهوری ناسیونالیستی یا نوعی جمهوری خاص برای ایران که ضرورت به طراحی دارد؟ نکوهش وانتقادی که دراین دوپرسش نهفته است دررسانه های فارسی زبان و ازجانب کسانی که باید با پس زمینه های این شعار آشنا باشند نیز مکرر برزبان می آید. این گروه شاید به هرنیت نمی خواهند با واقعیت های آشکار روبرو شوند. درایران چندی پس ازانتخابات ریاست جمهوری اسکناس هایی به جریان افتاد که پسوند «اسلامی» درعبارت «جمهوری اسلامی ایران» خط خورده بود و«جمهوری اسلامی ایران» به «جمهوری ایران» تبدیل شده بود. شعار«جمهوری ایرانی» دقیقا نتیجه همین حذف است . واژه «ایرانی» درشعار«جمهوری ایرانی» مدعی هیچ نوع محتوایی چون ناسیونالیسم ویا نوعی حکومت اختصاصی برای ایران نیست . پسوند «ایرانی» تنها جای خالی پسوند «اسلامی» را به تصرف خود درآورده است.

شعار استقلال ، آزادی ، جمهوری ایرانی با اشاره به شعار محوری انقلاب
57
استقلال ، آزادی، جمهوری اسلامی ، درواقع به آسیبی اشاره دارد که درانقلاب
57
نهفته است وحقیقت آن تازه امروز است که توان آشکارشدن ویا ـ ازنقطه نظر«درک مابعدی» فروید ــ توان به وقوع پیوستن را دارد. آسیبی که سخن از«جمهوری ایرانی» آن را درعین حال ــ باانگشت گذاشتن روی آن و جایگزینی پسوند «ایرانی» به جای «اسلامی» - بلقوه درمان می کند.

والتربنیامین13 هرچند احتمالا ازتئوری «درک مابعدی» فروید اطلاعی نداشت ، اما نوعی تئوری «درک مابعدی» تاریخی را پی ریزی کرد. بهمان صورت که برای فروید رویدادهای زمان حال می توانند باعث گردند که رویداد های گذشته به صورت واقعی خود جلوه کنند ، ازنظر بنیامین رویدادهای زمان حال می توانند گذشته یا حتی کل تاریخ را دگرگون سازند. برای بنیامین اما بروز ویا وقوع آسیب در«مابعد» مطرح نیست. اوبرعکس معتقد است که زمان حال قادراست گذشته را «نجات دهد». بدین معنا که تحولات امروز می توانند به رویدادهای دیروز معنای دیگری دهند.
«اگرچنین باشد میان گذشتگان ومامعیادی سری وجود دارد . پس روی زمین انتظار مارا می کشیده اند. پس ما را نیز چون نسل های قبل قدرت نجاتی هست که گذشتگان حق مطالبه آن را دارند. ازچنین مطالبه ای نمی توان به سادگی سرباززد»14

بابازسازی انقلاب 57 جنبش سبز آسیب نهفته درآن انقلاب را یادآور می شود وبه حقیقت آن آسیب امکان بروزمی دهد. این «به وقوع پیوستن» برای جنبش سبز البته جنبه سمبلیک دارد؛ اما رژیمی که درپی آن انقلاب به قدرت رسید ــ بانشان دادن چهره حقیقی خود ـ به این «به وقوع پیوستن» آن آسیب جنبه ای واقعی داد: از برخورد بیرحمانه با تظاهرکنندگان گرفته تا کشتار، محاکمات نمایشی، تجاوز وشکنجه.
ازتمامی اینها باید به عنوان جنبه های فرویدی جنبش سبز یادکرد.

شعار "استقلال - آزادی -جمهوری ایرانی‌" - که در آن خواستار‌های نیروهای پیشتاز جنبش سبز متبلور میشوند - انقلاب اسلامی ۱۳۵۷ را یاداوری می‌کند، یا به قول مارکس آن انقلاب را همچون مرده‌ای فرا میخواند. این یاد آوری اما با لغو سمبلیک آن انقلاب همراه است (جایگزینی "ایرانی‌" به جای "اسلامی"). با فرا خوانی انقلاب ۵۷ جنبش سبز سعی‌ دارد آن انقلاب را "در ما بعد" از آسیبی که در آن نهفته است برهاند.
واین جنبه بنیامینی جنبه سبز است.

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*والتر بنیامین (۱۸۹۲-۱۹۴۰) فیلسوف و تئوریسین اجتماعی آلمانی


1) Sergej Eisenstein
2) Karl Marx: Der Achzente Brumarie des Louis Bonaparte. Frankfurt am Main, 2007, S.24
3) Ebd.
4) Paulus
5) Oliver Cromwell
6) Ebd.
7) Ebd.
8) Sigmund Freud: Entwurf einer Psychologie. In ders.:Gesammelte Werke, Nachtragsband, Frankfurt am Main, 1999, S.445
9) Ebd.
10) Slavoj Zizek
11) Slavoj Zizek: Auf verlorenem Posten. Frankfurt am Main, 2008, S.97
12) Savonarola
13) Walter Benjamin
14) Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I.2, Frankfurt am Main, 1980, S.691

Montag, 7. Juni 2010

Der Heiligenscheinorgasmus

Der "Heiligenscheinorgasmus" hat 2004 einen Preis des Literaturwettbewerbs "schreiben zwischen den kulturen" erhalten und wurde in den Anthologien "sprachsprünge", "best of ten - 10 jahre exil-literaturpreise" sowie in der Literaturzeitschrift "kolik" veröffentlicht.

Mein Leben in Zürich begann mit einer Lüge. Unmittelbar nach meiner Ankunft im Zürcher Hauptbahnhof hatte ich im Café „Les Arcades” einen entcoffeinierten Café Crème bestellt, als sich eine dunkelhaarige, mittelalte Frau mit Aktentasche, eine Zürcherin wie ich annahm, an meinen Tisch setzte. Die Zürcherin mit der Aktentasche lächelte mich in der mir damals fremden, freundlichen, aber unaufdringlichen Art der Zürcher Menschen an und fragte mich im Hochdeutsch der Deutsch-Schweizer, wo ich denn herkäme. Ich wurde puterrot im Gesicht und starrte eine Zeit lang wie ratlos auf die schmutziggelbe Stuck-Decke des Bahnhof-Cafés. Schließlich begann ich, anfangs leise und wie verschämt flüsternd, zu erzählen. Mein Vater, behauptete ich, sei aus dem Indischen Bophal und nach der Gründung Pakistans dorthin geflüchtet. Von Pakistan sei er
nach Großbritannien,
von Großbritannien
nach Irland,
von Irland
nach Deutschland,
von Deutschland
nach Holland,
von Holland
nach Belgien,
von Belgien
nach Luxemburg,
von Luxemburg
nach Frankreich,
von Frankreich
nach Italien,
von Italien
in die Schweiz weitergeflüchtet. Wo ich selbst herkäme sei ich nicht sicher. Warum mein Vater von Pakistan
nach Großbritannien,
von Großbritannien
nach Irland,
von Irland
nach Deutschland,
von Deutschland
nach Holland,
von Holland
nach Belgien,
von Belgien
nach Luxemburg,
von Luxemburg
nach Frankreich,
von Frankreich
nach Italien,
von Italien
in die Schweiz weitergeflüchtet sein sollte, fragte mich die mittelalte, dunkelhaarige Zürcherin mit der Aktentasche nicht. Vielleicht dachte sie: „Manchmal flüchtet einer und kann das Flüchten einfach nicht lassen.” In Großbritannien fuhr ich fort, hätte mein Vater meine Mutter kennengelernt, eine Österreicherin aus Bregenz, in Großbritannien wäre ich gezeugt und in Irland zur Welt gebracht worden - dann wäre ich mit Mutter und Vater
über Deutschland
und Holland
und Belgien
und Luxemburg
und Frankreich
und Italien
in die Schweiz weitergeflüchtet.

Die Wahrheit ist: Beide meiner Elternteile kommen aus Persien und verbrachten mich mit zwölf Jahren ins österreichische Graz.

Meiner österreichischen aus Bregenz stammenden Mutter wegen, im Grunde wegen meiner österreichischen Großmutter, wohnhaft in Bregenz, setzte ich meine Lüge fort, würde ich das Schweizerdeutsche beherrschen. Jedoch würde ich es strikt ablehnen, das Schweizerdeutsche zu sprechen - es hätte mit mir und dem Schweizerdeutschen so seine Bewandtnis. Ich hätte nämlich, behauptete ich weiters, einen guten Teil meines erwachsenen Lebens in der Türkei und in Persien verbracht. Die vier Länder in denen ich also mein erwachsenes Leben verlebt hätte miteinander vergleichend - Persien, Österreich, die Türkei und die Schweiz - wäre mir klar geworden, daß zwischen der Schweiz und Österreich ein viel größerer Unterschied bestünde als zwischen Österreich und Persien auf der einen, der Schweiz und der Türkei auf der anderen Seite. Das Schweizerdeutsche z.B., behauptete ich, klinge wie türkisch. Wie das Türkische, fuhr ich fort, während die ratlosen Blicke der Zürcherin zwischen meinen Lippen und der Schaumkrone ihres Cappucinos hin und her pendelten, sei für mein an das weiche Persische und das weiche Österreichische gewohnte Ohr, das Schweizerdeutsche rauh, roh und kantig. Wie die Türkei als ganze mit Persien als ganzes verglichen, sei die Schweiz als ganze verglichen mit Österreich, außerordentlich simpel. Wie Bartstoppeln verglichen mit weichen Barthaaren, behauptete ich weiters, während die Zürcherin wortlos aufstand, ihre halbvolle Cappucinotasse zurücklassend an die Theke ging und bezahlte, fühlten sich, im Vergleich zu Persien und zu Österreich die Türkei und die Schweiz an. Daher bräuchten, brüllte ich, während sie hastig und im Laufschritt das Café verließ, der dunkelhaarigen Zürcherin nach, die Schweiz wie auch die Türkei zum Ausgleich für ihre außergewöhnliche Schlichtheit, und im Unterschied zu Persien und zu Österreich einen Artikel.

Über die Türken sagt mein väterlicher Freund Giw, sie seien als Nation zu jung und zu wenig oft gedemütigt worden. Hingegen sei das von den Höhen der Geschichte immer wieder auf die Schnauze gefallene Persien, so mein väterlicher Freund, seit je her immer wieder gedemütigt worden, was die Perser geprägt habe, so daß sie das Sprichwort

Nardeban in Djahan oftadanist

Zu deutsch:

Die Welt ist ein einstürzender Neubau

hervorgebracht hätten. Die Türken hingegen hätten kein solches Sprichwort hervorgebracht, wie überhaupt, so mein väterlicher Freund, die Fähigkeit Sprichwörter hervorzubringen, bei den Türken nicht existiere. In persischen Witzen, so Giw, seien die Türken immer die Esel, obwohl die Türken, wie mein väterlicher Freund meint, für Jahrhunderte Persiens Brücke zum Westen waren, und die türkischstämmigen Perser im Persien der Jahrhundertwende die demokratische Revolution angeführt hätten, wie überhaupt die türkischstämmigen Perser, die Aserbaidschaner, so mein väterlicher Freund Giw, in Wahrheit hochintelligent seien und zurecht die intellektuelle Elite Persiens stellten. Die türkischstämmigen Perser, sagt mein väterlicher Freund - und wird dabei jedesmal rot und wütend im Gesicht - seien in jedem Fall intelligenter als die nichttürkischstämmigen Perser, die über die türkischstämmigen Perser Witze erfänden. Giw, mein väterlicher Freund, stammt selbst aus dem ex-sowjetischen Aserbaidschan - von daher ist er eigentlich Türke. Trotzdem fühlt er sich in jeder Hinsicht als Perser und schimpft bei jeder Gelegenheit, die er findet, solange über die Türkei und über die Türken, bis ein anwesender nichttürkischstämmiger Perser ihm zustimmt. Dann ist mein väterlicher Freund Giw beleidigt und verstummt für längere Zeit.

Mein väterlicher Freund Giw ist Privatgelehrter und Philosoph, in den sechziger Jahren und in den siebziger Jahren studierte Giw Bauingenieurwesen im österreichischen Graz und war politischer Aktivist, Kommunist, Maoist, in den siebziger Jahren brach er das Bauingenieur-Studium ab. Mein väterlicher Freund Giw ist siebenundsechzig. Bei meinen Treffen mit Giw stelle immer ich alle Fragen. Stelle ich meinem väterlichen Freund eine Frage, öffnet er immer den Mund und formt mit seinen Lippen ein O, ein flaches O, als ob er schon Anstalten machte etwas zu sagen. Zuerst einmal sagt mein väterlicher Freund aber nichts, hält bloß die Hände vor seinem Bauch, wie beim Gebet die Mohammedaner, mit nach oben gerichteten Handinnenflächen und seitlich aneinandergepreßt. Dann führt er die Hände rasch auseinander, richtet beide Zeigefinger nach oben, beugt den Kopf weit zurück und läßt ihn wieder in die Vertikale zurückschnellen. Wenn mein väterlicher Freund dann zu reden beginnt, rasend schnell, wie man es von ihm gewohnt ist, aber umständlich und gewunden, habe ich den Mund immer weit offen und während seiner umständlichen und gewundenen Rede wird mein Kopf immer schiefer. Obwohl ich das meiste, was Giw, mein väterlicher Freund, umständlich, wie man es von ihm gewohnt ist und gewunden von sich gibt, nicht glaube, lasse ich seine Worte und Sätze und die Bewegungen seines Gesichts ohne jeglichen Widerstand in mich hinein, mit weit geöffnetem Mund und mit schiefem Kopf, wie gesagt - so hat sich über die Jahre mein Geist mit den Worten und Sätzen meines väterlichen Freundes Giw so sehr gefüllt, daß sie ihn heute von oben bis unten und vollständig ausfüllen. Da aber die Worte und Sätze meines väterlichen Freundes außerordentlich bedenkliche Worte sind und außerordentlich bedenkliche Sätze, geben mir Giws Worte und Sätze beständig zu denken. Seit Jahren geben mir die mich von oben bis unten ausfüllenden Worte und Sätze des Giw beständig zu denken - in meinem Geist findet sich nichts als Giws Worte und Sätze und mein ständiges Bedenken von Giws Worten und Sätzen. Am meisten - obwohl ich das meiste, was Giw von sich gibt, gar nicht glaube - geben mir seine Worte und Sätze über das Österreichische zu denken. Die Österreicher, pflegt Giw, mein väterlicher Freund, zu sagen, würden uns hassen, die Österreicher, so mein Freund, würden uns auf eine perfide, weltweit einzigartige Art verachten und hassen - die meisten Österreicher, so mein väterlicher Freund, hätten den Faschismus im Blut. Jedesmal wenn mein väterlicher Freund Giw erklärt, die Österreicher würden uns hassen, frage ich: Wen uns? Und mein väterlicher Freund Giw antwortet: Uns schwarzhaarige Ausländische. Die Österreicher, zumal die österreichischen Faschisten, so Giw, würden uns schwarzhaarige Ausländische verachten und hassen, jedoch hätte, behauptet mein väterlicher Freund, obwohl ehemals Kommunist, Atheist und Maoist, der Herrgott es so eingerichtet, daß die österreichischen Frauen, Faschistinnen wie Nicht-Faschistinnen, uns männliche, schwarzhaarige Ausländische wie zum Ausgleich heftig begehrten. Wie es den Österreicherinnen, wie mein väterlicher Freund Giw behauptet, möglich sein sollte, uns männliche, schwarzhaarige Ausländische zu hassen und gleichzeitig heftig zu begehren, vergesse ich jedesmal Giw zu fragen. Vielleicht denke ich: „Manchmal haßt und verachtet man, gerade weil man heftig begehrt.“

Im Seziersaal während meines Studiums im österreichischen Wien, hatte ich als Seziertischkollegen drei Medizin studierende österreichische Faschisten. Einer von ihnen, Laszló genannt, stammte aus dem Ungarischen. Jedesmal beim Anschneiden der Leber, der Milz oder des Herzens der Seziertischleiche, brüllten der Laszló, der Walter und der Hanno, so hießen die beiden anderen meiner faschistischen Seziersaalkollegen: „Das ist die Leber, die Milz, das Herz eines Juden!”, hielten die eine behandschuhte Hand vor dem Mund und lachten verstohlen und prustend, als wären sie keine erwachsenen, männlichen Faschisten, sondern pubertierende Backfische im Klassenzimmer eines Gymnasiums. Auch verkündeten sie immer wieder, daß, sollte einmal ein Jude, Mann, Frau oder Kind, ihre medizinische Praxis aufsuchen, sie ihm, statt ihn zu behandeln, mit demselben Seziermesser, das sie gerade in der Hand hielten, in die Leber, in die Milz oder ins Herz stechen würden. Einmal besuchte mich im Seziersaal der Ulrich Zaun, mein liebenswerter, aus Deutschland stammender Freund, ein gutmütiger, rundlicher Studienkollege, der den Sezierkurs zur selben Zeit absolvierte wie ich, jedoch in einem anderen Seziersaal, beim alkoholkranken Dozenten Kelch, der - allseits als Mitglied der Sozialistenpartei bekannt - Jahre später an der Leberzirrhose zugrunde gehen sollte. Es war später Nachmittag und das Licht, das durch die hohen, schmalen, stets verschmutzten Seziersaalfenster ins Innere drang, war trüber als sonst. Die Faschisten Laszló und Hanno waren gerade mit dem Präparieren des Armplexus beschäftigt. Jedesmal wenn sie ein Stück Nerv freipräpariert hatten, preßten sie ein lautes „Servus, Nervus!” aus sich heraus, sowie rülpsartige Laute, die ein Lachen darstellen sollten. Der gutmütige Zaun, mit seinem bundesdeutschen Akzent, fragte mich, ob ich ihm den „Hafferl” ausleihen könnte, ein altes Lehrbuch der topographischen Anatomie, das im Grunde meiner Mutter gehörte, die vor Jahren im österreichischen Graz Medizin studiert hatte. Sobald die beiden mit der Präparation des Armplexus beschäftigten österreichischen Faschistenkollegen Zauns bundesdeutschen Akzent bemerkten, verstummten sie und starrten ihn argwöhnisch an. Auf einmal sprang Hanno, mein österreichischer Faschistenkollege, von seinem Seziersaal-Hockerl, pflanzte sich vor dem gutmütigen bundesdeutschen Zaun auf und fragte ihn mit dem für die Wiener Unterschicht typischen Sing-Sang: „Wüst an Seziermesser im Bauch?”. Dabei hielt er sein Seziermesser schräg in seiner behandschuhten Hand in Augenhöhe. Auf meinem Seziersaal-Hockerl sitzend, dachte ich: Ich muß jetzt sofort etwas tun oder sagen - und weiters: Wenn ich nicht sofort etwas tue oder sage, verliere ich meine Ehre und meinen Stolz auf immer und ewig. Es fiel mir aber nichts was ich sagen oder tun könnte ein, so blieb ich stumm auf meinem Seziersaal-Hockerl sitzen, während mein bundesdeutscher Freund und gutmütiger Studienkollege Ulrich Zaun fortfuhr den österreichischen Faschisten stumm zu mustern. Als ihn schlußendlich mein österreichischer Faschistenkollege fragte, ob er den Seziermesser lieber in seiner Leber oder in seinem Herzen plaziert haben möchte, sagte er: „Weder - noch”, drehte sich um und verließ kurzerhand den Seziersaal römisch eins des Anatomischen Instituts der österreichischen Universität Wien. Ich blieb, bevor ich ihm folgte, auf meinem Seziersaal-Hockerl sitzen und dachte an eine wahre Begebenheit, die im Teheran der siebziger Jahre, wo ich meine Kindheit verbracht habe, die Runde machte. Ein persischer Ingenieur hatte bei einem Streit in einer Maschinenfabrik einen deutschen Ingenieurskollegen heftig beschimpft und ihm mit dem für die Teheraner Unterschicht typischen Sing-Sang gedroht, er würde eine bestimmte Fabriksmaschine in des Deutschen Mutters Fotze stopfen. Die Drohung des Teheraner Ingenieurs aus der Unterschicht hatte den Deutschen verwundert und er hatte gemeint, die Maschine sei für die Fotze seiner Mutter viel zu groß. Die kühle Art der Menschen aus Deutschland, wie sie mein Freund, der gutmütige Ulrich Zaun und der deutsche Ingenieur in der Teheraner Maschinenfabrik vorgeführt hatten, ist den österreichischen Menschen fremd und ein Dorn im Auge. Im Österreicher, ob Faschist oder Nicht-Faschist, sei immer Hitze, meint mein väterlicher Freund Giw, in den Wienern unter den Österreichern, so mein väterlicher Freund, sei die hitzigste Hitze. Meistens, zeige sich, so mein väterlicher Freund, das Hitzige in den Wienern unter den Österreichern als Haß auf die Welt sowie auf Gott, den sie Herrgott nennen. Daß ich meinen deutschen Studienkollegen und gutmütigen Freund Ulrich Zaun im Seziersaal eins der österreichischen Universität Wien einem solchen Haß ausgesetzt sah, verwirrte mich. Bis dahin hatte ich, meinem väterlichen Freund Giw folgend, geglaubt, die Faschisten und Rassisten Österreichs würden die blonden, hellhäutigen, deutschen Menschen lieben und schätzen. Auch ist ja mein väterlicher Freund, wie schon gesagt, der Meinung, die Österreicher, die österreichischen Faschisten zumal, würden uns schwarzhaarige Ausländische verachten und hassen. Der Herrgott jedoch, ist mein väterlicher Freund, obwohl ehemals Kommunist, Atheist und Maoist, überzeugt, der Herrgott jedoch hätte es so eingerichtet, daß - wie zum Ausgleich - die österreichischen Frauen die männlichen unter den schwarzhaarigen Ausländischen heftig begehrten.

Während eines Krankenhauspraktikums als Medizinstudent im österreichischen Wien lernte ich eine Frau kennen, eine rundliche Krankenschwester, die blonde Beate Uhland aus dem Salzburgischen. Sie war eine offenherzige und hübsche Person, die mich, Sekunden nachdem wir uns erstmals am Bett eines todkranken, röchelnden Mannes begegnet waren, der wegen Trunksucht an hochgadiger Herzvergrößerung litt, umstandslos fragte, woher ich denn käme. Ich war dabei dem Kranken mit einem Filzstift die Konturen seines krankhaft vergrößerten Herzens, die ich zuvor durch Klopfen ermittelt hatte, auf die nackte Brust zu malen. Der wegen Sauerstoffmangels beinahe bewußtlose Kranke merkte nicht, was um ihn vorging, so daß ich, um der hübschen und blonden Beate Eindruck zu machen, in die Herzfigur die Konturen Österreichs einzeichnete und im rechten unteren Eck Österreichs einen dicken rundlichen Punkt - für Graz. Die junge Krankenschwester konnte meine Figur nicht deuten, sei es, weil sie als Österreich-Figur nicht zu erkennen war, sei es, weil sie über keine Bildung verfügte. Gleichwohl begriff die blonde Beate, daß meine Zeichnung mit Geographie zu tun haben mußte und in rascher Folge preßte sie „Jugoslawien”, „Türkei”, „Spanien”, „Tunesien”, „Arabien” aus sich heraus. Ich war, wie es bei den Wienern unter den österreichischen Menschen heißt, angefressen, wußte ich doch von meinem väterlichen Freund Giw, daß die persischen die arabischen Menschen verachten und hassen. Ich sei eine Art Perser, erklärte ich der Beate Uhland, während ich sie mit mühsam zusammengepreßten Lippen anlächelte, argwöhnisch in ihre blauen Augen hineinstarrte und meinen Filzstift wie eine Waffe gegen ihr Gesicht richtete, wäre ich aber ein echter Perser, erklärte ich der Beate Uhland, wäre ich jetzt echt angefressen. Die Beate Uhland zog wie bei einer Nackenübung für Bandscheibenkranke ihren Kopf zurück und erklärte, sie kenne einen Perser. Jeder Österreicher, dem ich mitteile, wo ich herkomme, kennt einen Perser. Von diesen, den Österreichern, denen ich mitteile, wo ich herkomme, bekannten Persern, gibt es zwei Sorten. Die eine Sorte ist liebenswürdig und überaus nett, die andere listig und überaus falsch, gelegentlich kriminell. Handelt es sich bei der zweiten Perser-Sorte um einen Mann, ist er immer ein Frauenjäger. In der Schwesternschule hatte die Uhland im Anatomiekurs einen Islam-Fanatiker als Lehrer gehabt, einen Perser mit einem pechschwarzen Bart, Assistent auf der Anatomie und Gynäkologe im Allgemeinen Krankenhaus Wien. Der Anatomieassistent war ein triebbesessener Islam-Fanatiker und persischer Frauenjäger und hatte der Uhland und anderen ihm anvertrauten Schwesternschülerinnen nachgestellt. Die Uhland selbst wurde eine Zeit lang von dem triebbesessenen, islamfanatischen und persischen Anatomieassistenten ausgeführt und zum Abendessen eingeladen, bis sie einmal, von ihm, da er verheiratet war - mit einer Hiesigen, wie die Uhland betonte - wissen wollte, was für Absichten er ihr gegenüber hegte. Der triebbesessene Assistent und persische Islam-Fanatiker hatte der Uhland keine rechte Antwort gegeben, daraufhin hatte die Uhland den Kontakt zu ihm kurzerhand abgebrochen - der Anatomiekurs für Schwesternschülerinnen war ja auch schon zu Ende gewesen. Ich führte die Uhland am Abend nach unserer Begegnung am Bett des todkranken Trinksüchtigen zum Essen aus. Um Mitternacht, im Musikcafé „Tote Engel”, bekannte ich wahrheitsgemäß, daß ich noch nie mit einer Frau geschlafen hatte. Die Uhland glaubte mir nicht. Das könne, meinte sie, augenzwinkernd und spitzbübisch lächelnd, nicht wahr sein. Die Frauen müßten mir, meinte die Uhland, meines Aussehens und meiner pechschwarzen Haare wegen, in Scharen nachlaufen. Derartiges hatte mir bislang noch niemand gesagt, schon gar keine Frau, noch dazu eine so hübsche, wie die blonde und salzburgische Beate Uhland. Falls mir tatsächlich die Frauen in Scharen nachgelaufen waren, war es mir bislang völlig entgangen. Die blonde, salzburgische Beate Uhland jedoch redete im „Toten Engel” und anschließend bei unserem Spaziergang am Wiener Donaukanal unablässig - und dabei ständig mit den Augen zwinkernd und spitzbübisch lächelnd - von der Wirkung, die ich meiner pechschwarzen Haare wegen auf Frauen hätte, so war ich am Ende überzeugt, daß mir die Frauen immer schon nachgelaufen waren, meiner pechschwarzen Haare wegen und ohne von mir bemerkt zu werden.

Später fiel mir ein, daß ich wenige Tage vor meiner Begegnung mit der Beate Uhland meine dicke Plexiglasbrille gegen Kontaktlinsen ausgetauscht und meinen pechschwarzen, mein Gesicht seit Jahren verunstaltenden Schnauzbart abrasiert hatte. Beim selben Spitals-Praktikum im Wiener Allgemeinen Krankenhaus bei dem ich die Uhland kennenlernte, hatte mich einige Tage zuvor ein Patient, ein rüstiger Alter aus dem steirischen Hochland, ein Eisenbahner, während ich versuchte ihm Blut abzunehmen meines schwarzen Schnauzbarts und meiner pechschwarzen Haare wegen Dschingis Khan genannt. Mein weit geöffneter Mund (wenn ich angespannt und nervös bin, und seinerzeit, beim Blutabnehmen, war ich immer angespannt und nervös, ist mein Mund immer weit offen) war zugeschnappt und ich hatte eine Weile in die graublauen, steirischen Hochland-Augen gestarrt. Dann hatte ich plötzlich laut und heftig zu lachen begonnen, meine Hände mitsamt meines ganzen übrigen Körpers zitterten heftig, so daß die Blutabnahmekanüle in der Armvene des alten, rüstigen Steirers mehrmals heftig vor- und zurück- und auf- und abgerutscht war. „Dschingis Khan!”, hatte ich, laut und heftig lachend und am ganzen Körper zitternd gebrüllt, während die Blutabnahmekanüle sich in verschiedene Richtungen in das Steirer-Fleisch bohrte, „Dschingis Khan”, hatte ich immer wieder und immer lauter gebrüllt, wie ein Kleinkind ein neu aufgeschnapptes Wort ständig im Mund führt. Dem alten österreichischen Hochland-Steirer war das Gesicht zusammengezuckt, aber wie alle alten, österreichischen Männer war auch der Steirer im Krieg gewesen, so daß er lieber gestorben wäre, als einen Schmerz zuzugeben. Nur in der Psychiatrie habe ich alte österreichische Männer getroffen, die körperlicher Schmerzen wegen geklagt oder geweint hätten. Am Tag nach meiner Begegnung mit dem Hochland-Steirer hatte ich meinen Schnauzbart abrasiert und mir Kontaktlinsen anpassen lassen.

Den weiblichen Österreichern übrigens, ob jung oder alt, ist das Klagen, Jammern und Weinen nicht fremd. Das traf auch, wie ich bald erfahren mußte, auf Beate Uhland zu. Obgleich aus dem Salzburgischen, wo die Klaghaftigkeit der Menschen weit weniger ausgeprägt ist als im österreichischen Wien, hatte die Uhland lange genug in Wien gelebt, um sich diese Eigenart der Wiener unter den Österreichern angeeignet zu haben. Die Beate Uhland, weil sie drall und blond war, gefiel mir, sie wurde die erste Frau meines Lebens. Je länger ich jedoch mit ihr zusammen war, desto klaghafter wurde die Uhland. Sie klagte über die Entfernungen, wenn wir auf Reisen in fremden Metropolen zu Fuß unterwegs waren. Sie klagte, wenn wir öffentliche Verkehrsmittel benützten, über den Gestank und das Gedränge in Autobussen und Untergrundbahnen, nahmen wir ein Taxi, klagte sie über den Stau. Die Uhland klagte regelmäßig über Mattigkeit, Müdigkeit, Schwindelgefühl, Zahn-, Kopf-, Hals-, Rücken- und Magenschmerzen, über Menstruations-, Blasen-, und Atembeschwerden. Die Uhland trug Kontaktlinsen, die sie regelmäßig nachts herauszunehmen vergaß, weshalb sie immer über Augenbrennen zu klagen hatte und, obwohl Krankenschwester, fürchtete, ihre Netzhaut würde sich auflösen, so daß man ihre Augen herausschälen müßte. Die Uhland klagte über mein Persischsein, obwohl ich, abgesehen von Giw und meinen Eltern, weder mit persischen Menschen verkehre, noch auf eine andere Art mein Persischsein aufdringlich ist. Wie das, wenn wir heiraten würden, mit dem Namen wäre, hatte die Uhland mich wiederholt klagend gefragt. Ich hatte im Traum nicht daran gedacht, ausgerechnet die Uhland zu ehelichen, ihr Blondsein und Drallsein reizten mich zwar, weil sie im Gegensatz standen zu meinem Schwarzhaaarigsein und meinem Dünnsein, meine persische Mutter jedoch hätte die Aussicht auf eine blonde Schwiegertochter aus dem Salzburgischen getötet. Im Traum würde es ihr nicht einfallen, meinte die Uhland, einen derart unaussprechlichen Familiennamen wie den meinen zu tragen und im Verheiratungsfall müßten unsere Kinder selbstredend österreichische Vornamen haben. Mir wurde nie klar, was für Namen, über deutsche Namen hinaus, österreichische Vornamen wären. Ich dachte immer an Sepp. Über Sepp kam ich niemals hinaus. Sepp aber, dachte ich, könnte in keinem Dokument stehen, statt Sepp müßte Josef im Dokument stehen, aber Josef ist kein österreichischer Name, vielmehr wieder ein deutscher - im Grunde ist Josef und somit Sepp ein hebräischer Name und als solcher orientalisch. Wenn ich der Uhland mitteilte, daß im Persischen nach der Eheschließung die Frau traditionellerweise ihren angestammten Familiennamen behält, lachte sie. Sie konnte nicht glauben, daß es diese Tradition, die sie für frauenrechtlerisch hielt, ausgerechnet im Persischen gibt. In Wahrheit ist diese Tradition im Persischen zutiefst patriarchalisch. Im Persischen trägt die Frau den Namen des Vaters ihr Lebtag lang. Ob verheiratet oder nicht, sie gehört immer dem Vater. Die Beate Uhland war meine erste Frau. Ich blieb ein Jahr lang mit ihr zusammen, bevor sie mich wegen eines Polizisten der Kobra-Truppe, eines feisten Wieners mit rosarotem Vollmondgesicht, Max Meissl genannt, dramatisch verließ. Obwohl ich die Uhland niemals geheiratet hätte, blieb mir von der Art wie sie mich dramatisch verließ, eine tiefe, heute noch klaffende Wunde. Die Frauen nach der Uhland, auch die liebe- und rücksichtsvollen unter ihnen, konnten es nicht vermeiden, ständig an der Uhland-Wunde zu rühren. So waren meine Frauenbeziehungen nach der Uhland vom ständigen Jammern und Wehklagen meinerseits angefüllt, so war mir von der drallen Beate Uhland doch etwas geblieben - ihr ständiges Klagen und Jammern. Alle meine Frauen nach der Uhland waren aus Österreich, in ihrer Mehrheit aus dem österreichischen Wien, auch sie, auch die liebe- und die rücksichtsvollen unter ihnen, waren, wie die Uhland selbst, ständig unzufrieden mit mir und ständig klaghaft. Daß ich nur an mich denken und immer nur meinen Dickschädel durchsetzen wolle, klagten die einen. Daß ich nicht wüßte, was ich wolle, mich bedingungslos und ausschließlich nach ihnen richtete, meinten die anderen. Mein eigenes ständiges Jammern, aus meiner Uhland-Wunde gespeist, zusammen mit dem ständigen Jammern und Klagen der Frauen nach der Uhland, erzeugten ein unerträgliches, nicht enden wollendes Elend in mir. Am Ende war ich überzeugt, mein Elend verdanke sich einzig und allein meiner Existenz im Österreichischen, umgeben von österreichischen Menschen, meinen Liebesbeziehungen zu österreichischen Frauen, in ihrer Mehrheit aus dem österreichischen Wien, und dem Umstand, daß mich meine Eltern im Alter von zwölf Jahren ungefragt ins österreichische Graz verbracht hatten. So beschloß ich das Österreichische zu verlassen und das Glück anderswo zu suchen.

In der Schweiz angekommen, glaubte ich, den Schweizern sei das Österreichische völlig egal. Immer dann aber, wenn ich einem Schweizer gegenüber mich über das Österreichische ausließ, nicht ohne zu erwähnen, daß ich kein echter Österreicher sei, vielmehr eine Art Österreicher, trat ein seltsames Leuchten in die Augen meines Schweizer Gegenübers, er wurde redselig und unbefangen und gestand, das Österreichische habe ihn schon immer mit Argwohn erfüllt.

Einmal, beim Skifahren im Schweizerischen Graubünden, stieß ich mit einem jugendlichen Schweizer Snowboardfahrer beinahe zusammen. Ob seine Unvorsichtigkeit oder meine Ungeschicklichkeit an dem Beinahe-Unfall schuld waren, weiß ich nicht mehr zu sagen. Ich bin es gewohnt, wenn es Streit gibt, gleich ob ich mich im Unrecht oder im Recht fühle, sofort in Rage zu geraten, weshalb ich im Straßenverkehr, beim Streit mit der lärmempfindlichen und neurotischen Nachbarin oder mit rassistischen Café-Kellnern in Wien regelmäßig tobsüchtig werde, auf mich und auf andere einschlage, herumbrülle und Wertgegenstände zerstöre. Auch beim Beinahe-Ski-Unfall auf der Ski-Piste im Schweizerischen Graubünden geriet ich sofort in Rage. Ich war hingefallen, hatte auf den jungen Snowboardfahrer, der, ohne zu stürzen, wenige Meter unter mir zu Stehen gekommen war, hinuntergestarrt und hatte ihm brüllend und im Deutsch der österreichischen Menschen etliche böse und bittere Gehässigkeiten zugerufen - für das Böse und das Bittere gibt es keine bessere Sprache als das Deutsch der österreichischen Menschen. Der jugendliche Schweizer begann seinerseits, ebenfalls brüllend und im Hochdeutsch der Deutsch-Schweizer, zurückzuschimpfen. Er nannte mich einen Vollidioten aus Österreich, einen Krüppel, der nicht Skifahren könne, des weiteren behauptete er, alle Österreicher seien Faschisten, Onanisten und Kinderschänder. Mehrmals versuchte ich zurückzuschlagen und im Gegenzug die Schweiz und die Schweizer auf das wüsteste zu beschimpfen - ich brachte aber keine einzige Silbe heraus. Etwas - es hatte wohl mit den Beschimpfungen des jungen Schweizers zu tun - lähmte mich und wie in Hypnose starrte ich auf den Brüllenden und auf Österreich schimpfenden Schweizer Snowboardfahrer hinunter. Daß die Beschimpfungen des Schweizer Jugendlichen mich beleidigen sollten, empörte mich. Daß andererseits die Schimpftiraden Österreich und das Österreichische betrafen, gefiel mir, wie mir immer klarer wurde, außerordentlich gut. Auf einmal spürte ich ein leichtes Zittern meiner Unterlippe, das immer stärker wurde und sich über mein ganzes Gesicht ausbreitete, am Ende hatte es wie ein Strohfeuer meinen ganzen in Skikleidung gepackten Körper erfaßt. Es war, wie mir sogleich klar wurde, eine Erregung, die mich zittern machte, eine angenehme, freudige Erregung, die bald so groß war, daß sie mich zwang, mich mit ausgebreiteten Armen und Beinen auf die Graubündner Skipiste zu legen. Es folgte eine außerordentliche, überwältigende Entladung, ein Ganzkörper-Orgasmus, möchte ich sagen, denn mein ganzer in Skikleidung gepackter Körper vibrierte und zuckte wie bei einem epileptischen Anfall. Ich hatte keinen Samenerguß, aber eine Aura, eine Art Heiligenschein, ein hell leuchtendes, warmes und gelbliches Schimmern umgab nach der außerordentlichen und überwältigenden Entladung, während ich ausgestreckt auf der Graubündner Skipiste lag, meinen ganzen in Skikleidung gepackten Körper. Der jugendliche Schweizer Snowboardfahrer schimpfte noch eine Weile zu mir hinauf und fuhr dann brüllend und weiterschimpfend ins Tal.

Seinerzeit hatte mich nach jedem Orgasmus eine Leere erfüllt, eine unerbittliche Leere, gleich ob ich selbst den Orgasmus herbeigeführt oder ihn den Zuwendungen meiner jugendlichen Freundin Resi verdankt hatte. Die seinerzeitige, nachorgasmische Leere hatte sich immer zunächst außen auf meiner Körperhaut gebildet und war dann langsam und kalt, in das Innere meines Körpers gesickert. Hingegen hatte der Heiligenschein-Orgasmus, wie ich fühlte, im Inneren meines Körpers seinen Ursprung gehabt und sich von dort aus, Schicht um Schicht, nach außen ergossen. Dem Heiligenschein-Orgasmus auf der Ski-Piste in Graubünden folgte keine nachorgasmische Leere, auch nach dem Verschwinden des wärmenden Heiligenscheins - er war plötzlich, wie von unsichtbarer Hand, ausgelöscht worden - blieb ich stundenlang in einem Zustand tiefer Zufriedenheit - beinah war es Glück.

Als ich wieder denken konnte, verfiel ich einem rastlosen, einem nicht enden wollenden Gedankenkreisen und Grübeln, das mich in den Wochen und Monaten, die auf den Graubündner Heiligenschein-Orgasmus folgten, verfolgte, beherrschte und quälte. Ich fragte mich, was passiert war. War ich einer Sinnestäuschung zum Opfer gefallen? War der Heiligenschein-Orgasmus ein Tagtraum gewesen? Ein Trugbild? Ein Wahngebilde? Oder hatte ich auf der Graubündner Piste tatsächlich einen Heiligenschein-Orgasmus gehabt? Und falls etwas derartiges wirklich existierte - war ich mit der Fähigkeit zum Heiligenschein-Orgasmus allein auf der Welt oder gab es auch andere, andere, die den Heiligenschein-Orgasmus - vielleicht sogar regelmäßig - erleben durften? Mehr aber als die genannten verfolgten, beherrschten und quälten mich in den Wochen und Monaten, die auf den Graubündner Heiligenschein-Orgasmus folgten, zwei andere Fragen: - Würde es mir möglich sein, den Heiligenschein-Orgasmus wieder (und immer wieder und wieder) zu erleben? - Und wenn ja, was mußte ich dazu tun?

Es brauchte nicht lange und es wurde mir klar, daß ich, um wieder in den Genuß des Heiligenschein-Orgasmus zu kommen, Situationen provozieren mußte, in denen mich jemand als Österreicher beschimpfte. Vor dem Erlebnis des Heiligenschein-Orgasmus war ich niemals als Österreicher beschimpft worden. Auch der jugendliche Schweizer, hätte er mich ohne Skibrille und Ski-Wollmütze gesehen, hätte mich wohl nie als Österreicher beschimpft. In der Vorstellung der Menschen außerhalb Österreichs sind die österreichischen Menschen auf eine Art, die zu meinem Schwarzhaarigsein im krassesten Gegensatz steht, blond, obwohl man im Österreichischen, zumal im österreichischen Wien, auch unter echten Österreichern verschiedenste Haut- und Haarfarben antrifft. Mit der Zeit begann mich der Gedanke, daß ich, blond sein müßte, um als Österreicher beschimpft zu werden, wie eine fixe Idee zu verfolgen, zu quälen und zu beherrschen. Im übrigen war mein Heiligenschein im Schweizer Graubünden, ein außerordentlich leuchtender, ein, wie schon gesagt, gelblicher Heiligenschein, oder anders, mein Heiligenschein auf der Graubündner Skipiste war außerordentlich blond.

Meine Stammfriseuse in Zürich, eine feiste Hexe mit hochgesteckten, schlohweißen Haaren, eine Bulgarin und Hysterikerin, lachte mich, als ich ihr meinen Wunsch blond zu werden eröffnte, aus. „Du wollen aussehen wie derrr rumänische Fußballmannschaft in derrr WM?”. Es war der Sommer 1998. Der Spott meiner hysterischen und bulgarischen Friseusen-Hexe ergoß sich solange über mich, bis sie begriff, daß es mir mit meinem Wunsch blond zu werden absolut ernst war, woraufhin er sich in eine aufrichtige, mütterliche Sorge über meinen Geisteszustand verwandelte. Am Ende gab sich die Bulgarin und Hysterikerin geschlagen und machte mich blond. Nach der langen Färbeprozedur aber, der mich die Friseusen-Hexe unterwarf, waren weder meine Haare wirklich blond, noch waren es wirklich Haare, die aus der Haut meiner Schädeldecke ragten. Aus meinen langen, weichen, wallenden, pechschwarzen Haaren waren nach der Färbeprozedur, der mich meine hysterische und bulgarische Friseusen-Hexe unterwarf, gelbe, schmutzige Fasern geworden, die sich rauh, roh und kantig anfühlten, wie das Fell billiger Kunststofftierchen. Obwohl ich sicher war, daß die Hexe meine Haare nicht geschnitten hatte, sahen sie, als ich mich zuhause im Spiegel betrachtete, außerordentlich kurz aus.

In einem Zürcher Park, in dem ich wenige Tage nach meiner Blondwerdung lesend auf einer Bank saß, wurde ich von zwei wohlgenährten, naturblonden, etwa achtjährigen Schweizer Jungen auf Mountainbikes aufgeschreckt, die, knapp bevor sie in mich hineingefahren wären, vor meinen Füßen bremsten. Beide schauten sie mich mit aufgerissenen Augen und einer Mischung aus Belustigung, Erstaunen und Entsetzen an. Dann machten sie kehrt und fuhren weg. „Ein blonder Neger!” hörte ich sie wie aus einer Kehle rufen. Sie hatten das Hochdeutsch der Deutschschweizer gesprochen, das man den Schweizerkindern schon in der Grundschule beibringt. Ich war erschüttert. Neger war ich noch nie geschimpft worden. Zwar ist meine Haut- und Gesichtsfarbe, verglichen mit der Haut- und Gesichtsfarbe anderer persischer Menschen, die entgegen der landläufigen Meinung der österreichischen Menschen oftmals sehr hell ist, außerordentlich dunkel. Im Sommer ermahnten mich immer die Eltern und meine Schwester - alle drei haben eine viel hellere Haut- und Gesichtsfarbe als ich - ja nicht in die Sonne zu gehen. Sie ermahnten mich nicht etwa aus Sorge, ich könnte mir einen Sonnenbrand zuziehen oder an Hautkrebs zugrunde gehen, nein, sie ermahnten mich all die Jahre aus Angst, meine Hautfarbe, der Sommersonne ausgesetzt, würde, wie sie sagten, „noch schlimmer” werden, sie sagten „noch schlimmer“ und meinten noch dunkler. In diese Familie der Hellhäutigen hineingeboren, lebte ich immer mit dem Gefühl, ich sei anders als alle anderen, hoffnungslos anders, die Dunkelheit meines Gesichts empfand ich zusammen mit den Eltern und meiner Schwester als Krankheit und Schande, die sich unter ungünstigen Umständen noch verschlimmern konnte. Ich liebte und liebe das Sommersonnenlicht über alles. Aber nach jedem Sonnenbad plagten mich Schuldgefühle und Scham. Hätte ich nach einem Sonnenbad das in Melanin verwandelte Sonnenlicht aus meiner Haut wieder ausscheiden können, ich hätte - wie Bulimikerinnen nach jedem Freßanfall einen Brechanfall produzieren - jeden Tag in der Sonne gebadet und danach das Sonnenlicht ausgekotzt.

Aber Neger war ich noch nie geschimpft worden, weil wie ein Schwarzer (ich hasse das Wort Neger, hasse es und spreche es nie aus, auch wenn ich ohne Zögern Irre sage, oder Krüppel) habe ich nie ausgeschaut, höchstens wie ein Inder. In Persien hatten mich meine Straßen- und Spielkameraden mehr als einmal „Gandhi” geschimpft, weil ich nebst meinem Dunkelsein immer schon außerordentlich dünn war, „Gandhi” beschimpft zu werden hatte mir aber geschmeichelt, ich wußte, daß für die Erwachsenen Gandhi ein Held und ein Heiliger war. Im übrigen gibt es im Süden Persiens, wie in den Südstaaten Amerikas, Schwarze, Nachfahren von schwarzen Sklaven, die man vor Jahrhunderten von Ostafrika nach Persien verschleppt hat. Man nennt sie „Barbaris”, Barbaren, und sie kommen in sinnlosen Kinderreimen vor, wie

Nuno Paniro Peste
Barbaria nescheste
In Daro wakon Soleymun
Un Daro wakon Soleymun

Ghaliro bekesch tu Eywun

Zu deutsch:

Pistazie und Käsebrot
Sorgenlos und ohne Not
Sitzen die Barbaris rum
Sie sind faul,
Sie sind dumm
Gemma an die Arbeit ran!
Gemma, gemma, Soleyman!

Wenn man einem Besessenen seine Besessenheit austreiben will, läßt man im Süden Persiens die Barbaris kommen. Sie trommeln eine Nacht lang den Kranken in eine Trance hinein und wieder hinaus - am Ende hat er die dunkle Macht ausgeschieden. Beim Neujahrsfest zu Frühlingsbeginn gehen grellrot gekleidete, schwarze Männer mit einem Tamburin und einer Kasperlmütze singend und tanzend durch Teherans Straßen, die Kinder lieben sie, sie sind schwarze Weihnachtsmänner und bringen ins neue Jahr Glück. Über die Schwarzen sagt man in Persien, wie auch über die Blinden, sie hätten ein leuchtendes Herz. Dennoch werden die Schwarzen in Persien, wie im Österreichischen auch, für gewöhnlich wie Scheiße behandelt. Nein, Neger geschimpft worden war ich noch nie, auch im Österreichischen nicht. Plötzlich kam mir eine Idee und mit einem Ruck sprang ich auf und rannte den Schweizerjungen nach als ginge es um mein Leben. Ich bin dünn, unsportlich und im Laufen nicht gut, die Schweizer Jungen hingegen waren kräftig und auf Mountainbikes unterwegs. Als mir klar wurde, daß ich sie nicht einholen könnte, begann ich zu brüllen, als ginge es um mein Leben. „Stehenbleiben!”, rief ich den Schweizer Jungen nach, „Sofort Stehenbleiben!” und mein Körper mitsamt meiner blonden, sich wie das Fell von Kunststofftierchen anfühlenden Haare, vibrierte. Tatsächlich blieben die Schweizer Jungen auf ihren Mountainbikes auf mein Brüllen hin stehen - im Brüllen war ich schon immer besser als im Sport. Starr, wie die Protagonisten eines auf einmal steckengebliebenen Films, standen sie da, die Sattel ihrer Mountainbikes zwischen den Beinen. Ich hörte auf zu laufen, ging langsam auf die blonden Schweizerjungen zu, packte beide am Nacken (ihre Nackenhaut war verglichen mit der Farbe meines außerordentlich braunen Handrückens außerordentlich blaß) und drückte fest zu. Trotz meines Dünnseins und meiner Unsportlichkeit pflegte die Mutter immer zu klagen, ich hätte, wie es im Persischen heißt, eine schwere Hand. „Absteigen!” befahl ich den beiden Jungen, die augenblicklich gehorchten. „Zu euren Müttern!” brüllte ich - woher ich wußte, daß sich die Mütter der beiden Schweizer Jungen tatsächlich in der Nähe befanden, weiß ich nicht mehr zu sagen. Da sich die beiden zunächst nicht rührten, vielleicht aus Angst, vielleicht, weil sie mich nicht verstanden hatten, krachten ihre beiden Köpfe plötzlich zusammen, es klang wie das Aufeinanderschlagen zweier leerer Keramikkrüge. Meinem Plan entsprechend brüllte ich meine nächste Order im Deutsch der Österreicher hinaus. „Gemma*, Burschen. Gemma, gemma. Tachinieren* könnt’s später”. Die Jungen begannen wie ferngesteuerte Zombies durch die Wiese im Zürcher Park zu marschieren, nicht ausgeschlossen, daß sie leise zu wimmern begannen. Sie führten mich zu einer Parkbank, von der sich gerade zwei außerordentlich dicke, außerordentlich Schweizerisch aussehende Schweizerinnen erhoben hatten, sie standen da, die Hände in die Hüften gestemmt und starrten mich feindselig an. „Sind des Ihre Rotzbuam*?” brüllte ich so österreichisch und giftig wie möglich und mit der bösesten Miene. Ja, sagte die Rechte der beiden im Hochdeutsch der Deutsch-Schweizer, und daß ich ihre Jungen sofort loslassen solle und was denn überhaupt los sei. Ich überging die Aufforderung, bohrte meine Fingernägel tiefer in das Nackenfleisch der Jungen und steigerte Lautstärke und Gehässigkeit meiner Stimme: „Neger, ham’s mi g’heißen, ihre Buam*, blonder Neger, verstehn’s? Blonder Neger!”. Beide Schweizerinnen erröteten und starrten mich ratlos an. Wenn man, sagte schließlich die Rechte von ihnen, unsicher, wenn man bei uns in der Schweiz Neger sage, meine man nichts böses. „Bei uns in Österreich aber scho!”, brüllte ich und drückte den Nacken der blonden Jungen so fest, daß sie, wie aus einer Kehle, aufschrien. Die Rechte der beiden Mütter zuckte zusammen und erhob ihren verkrampften und zitternden Zeigefinger. Ich solle ihren Jungen sofort loslassen, sonst ... Ich unterbrach sie. „Was sunst? Na - sagen’s scho … Was sunst? ”. Das feiste Gesicht der einen, außerordentlich Schweizerisch aussehenden Schweizerinnen, der Rechten der beiden, bekam auf einmal einen weichen, mitleiderregenden Ausdruck und mit den gleichen Worten wie zuvor, jetzt aber beschwörend, wiederholte sie nochmals, wenn man in der Schweiz Neger sage, meine man nichts böses. Auch die Jungen hätten, als sie Neger gesagt hätten, sicher nichts böses gemeint. „Und wie bös sie’s g’meint ham, Ihre Gfrasta!”, brüllte ich so gehässig und laut wie ich nur konnte. Die Angst und Weichheit im Gesicht der dicken Schweizer Mutter heizte, statt sie zu besänftigen, meine Wut weiter an - es war nämlich, auch wenn ich die Szene mit den Müttern und Söhnen bewußt inszenierte, um wieder in den Zustand des Heiligenschein-Orgasmus zu kommen, die Wut, die mich erfüllte, außerordentlich echt. „Wissen’s was?“, rief ich, „Giftzwerge sans Ihre Gfrasta, ins Heim g’hörns, in die Besserungsanstalt g’hörns Ihre Gfrasta!”. Die Rechte der beiden Mütter erbleichte. Sie habe ihren Sohn brav erzogen, sagte sie gepreßt und weiterhin beschwörend, sie sei Schweizer Bürgerin und habe ihren Sohn gut und brav erzogen. Schweizer Bürgerin - Das war meine Chance! Jetzt ging es, wie die Wiener unter den Österreichern zu sagen gewohnt sind, um die Wurscht - ich holte zum entscheidenden Schlag aus. „Schweizer Bürgerin! Des I net lach’! Schweizer Bürgerin! Machen Sie si’ net lächerlich, Wissens denn was Ihre Schweiz is? Ein einziger Witzstaat is Ihre Schweiz! Schweizer Bürgerin! Eine echte Witzrepublik is Ihre Schweiz! Ein Loch seids Ihr, nichts als ein Loch, und rund herum um Eich is Europa. Ein kleines Loch seids Ihr im EU-Körper und sunst gor nix.” Beide, die rechte wie die linke Schweizer Mutter, musterten mich mit weit geöffneten Mündern und zusammengekniffenen Augen, noch ratloser als ohnehin schon. Schlagt doch zurück, dachte ich, jetzt müßt Ihr doch endlich zurückschlagen! Seinerzeit waren nämlich die Schweizer Zeitungen voll und die Deutsch-Schweizer Stammtische kannten kein heißeres Thema als die Sanktionen der sogenannten „EU-14” gegen die Regierungsbeteiligung der Faschistenpartei in Österreich, so daß ich von den Schweizer Müttern erwarten konnte, von dem Drama, das die österreichischen Faschisten in Europa losgetreten hatten, wenigstens eine Ahnung zu haben. Die Zürcher Park-Mütter jedoch sagten auf meine Schweiz-Beschimpfung hin zuerst einmal nichts. Sie standen bloß da, mit ratlosen, blassen Gesichtern, die Arme in die Hüften gestemmt, und starrten mich entsetzt und verlegen an. Ich wünschte mir, der Zürcher Park wäre eine Bühne, die Rechte der Mütter eine Schauspielerin und ich der Souffleur - ich hätte dann der Schweizer Mutter und Bürgerin, mit eindringlicher Stimme und jede Silbe betonend, einen Text eingeflüstert, der mich, von der feisten Schweizer Mutter ausgesprochen, garantiert in den Zustand des Heiligenschein-Orgasmus versetzt hätte. Ich hätte der Schweizer Mutter und Bürgerin eingeflüstert, daß es allemal besser wäre, so wie die Schweiz, außerhalb der EU ein Loch, als wie Österreich innerhalb der EU ein Putzfetzen zu sein. Ich dachte an solche und ähnliche Worte und Sätze und formte auch solche und ähnliche Worte und Sätze stumm mit den Lippen, was den Eindruck der Schweizer Mütter, sie hätten es mit einem irren, blonden, österreichischen Neger zu tun, wohl verstärkt haben mochte. Als die Rechte der beiden Schweizer Mütter die Sprache wieder fand, ging sie auf meine Verächtlichmachung des Schweizerischen gar nicht ein, wiederholte bloß, wie beschwörend, daß man in der Schweiz, wenn man Neger sage, nichts böses meine, weshalb ihr Schweizer Sohn, als er blonder Neger gesagt hätte, nicht böses gemeint hätte, daß sie Schweizer Bürgerin sei und ihren Sohn gut und brav erzogen habe. Am Ende gab ich meine Versuche, die außerordentlich feisten Schweizer Mütter dazu zu bewegen, mich mittels Österreich-Beschimpfungen in den Zustand des Heiligenschein-Orgasmus zu versetzen, auf. Zum Abschied schlug ich die blonden Köpfe der Jungen, die ich, ohne Unterbruch, wie es bei den Deutschschweizern heißt, die ganze Zeit über an ihren blassen Nacken festgehalten hatte, noch einmal mit voller Wucht zusammen und verließ, den vier Schweizer Bürgerinnen und Bürgern den Rücken kehrend, die Szene.

Nach meinem Scheitern im Zürcher Park unternahm ich weitere Versuche, in Schweizer Menschen Gefühle zu provozieren und Schweizer Mündern Worte zu entlocken, die imstande gewesen wären, mich in den Zustand des Heiligenschein-Orgasmus zu versetzen. Einmal, am Schweizer Nationalfeiertag, kletterte ich mit weißer und roter Farbe bewaffnet, trotz meiner Unsportlichkeit an der Fassade des Zürcher Hauptbahnhofs hoch, wo ich den unteren und oberen Arm des weißen, auf rotem Hintergrund befindlichen Kreuzes, auf der aus Anlaß des Schweizer Nationalfeiertages dort angebrachten Schweizer Fahne, mit roter Farbe übermalte. Ein weißer Balken war übriggeblieben, den ich mittels weißer Farbe nach links und nach rechts bis an den Rand der außerordentlich großen Fahne verlängert hatte, so daß aus der Schweizer eine österreichische Fahne geworden war. Bei der langwierigen Färbeprozedur fiel mir übrigens auf, daß die Schweizer Fahne nichts anderes darstellt als ein großes und weißes Pluszeichen, die österreichische hingegen ein noch größeres, weißes Minuszeichen, beide auf rotem Hintergrund. Auf dem großen weißen Balken hatte ich mit roter Farbe in Blockschrift und so groß und deutlich wie möglich die folgenden Worte geschrieben:

Die Schweiz braucht es nicht. Ein Österreicher.

Dann hatte ich jenen Teil des Balkens, auf dem der Spruch stand mit beiden Händen aufgespannt und wie ein Demonstartions-Transparent den Schweizer Passanten unter mir auf dem Bahnhofsvorplatz entgegengehalten. Mit Unterbrechungen wegen den Muskelschmerzen in meinen Armen hatte ich den Schriftzug zwei Stunden lang aufgespannt und den Schweizer Passanten auf dem Bahnhofsvorplatz entgegengehalten. Die meisten Schweizer Passanten hatten mich gar nicht bemerkt, und diejenigen, die doch zu meinem Spruch hinaufgeschaut hatten, hatten sich wohlwollend und zugleich ratlos gezeigt. Später wurde mir klar, daß der Blick der Schweizer Bahnhofsvorplatz-Passanten, die zu meinem Fahnenspruch aufgeschaut hatten, derselbe Blick war, den, so mein väterlicher Freund Giw, die Menschen haben, wenn sie vor den Werken der neuen Kunst stehen - wohlwollend aber im Grunde ratlos. Nach zwei Stunden war ich wieder an der Fassade des Zürcher Hauptbahnhofs hinuntergeklettert, über das vollständige Ausbleiben jener Reaktionen, die ich mir von den Schweizer Bahnhofs-Passanten erwartet hatte außerordentlich enttäuscht. Ich hatte gehört, daß den Schweizern ihr Nationalfeiertag, ihre Schweizer Fahne und ihre Schweiz als solche heilig sei. Am Abend ihres Nationalfeiertags zünden sie zuhause Lampions an, schmücken ihre Wohnungen mit Blumen und Konfetti und freuen sich über den 1. August wie in Österreich die Kinder über die Ostereier, hingegen die Österreicher heutzutage an ihrem Nationalfeiertag nicht einmal mehr Wandern gehen.

Nachdem mich die Zürcher Schweizer am Vorplatz des Zürcher Bahnhofs enttäuscht hatten - nicht einmal die Zürcher Stadtpolizei war eingeschritten - sann ich, um doch wieder in den Genuß des Heiligenschein-Orgasmus zu kommen, auf gewagtere Mittel. Ich war auf den Heiligenschein-Orgasmus mittlerweile derart versessen, daß ich, um ihn wenigstens noch einmal, ein einziges Mal noch, erleben zu dürfen, alles gegeben, getan, alles mit mir hätte tun lassen - ich hätte mich der Unzucht hingegeben, ich hätte, wenn es sein mußte, einen Mord begangen. Die Unzucht, obwohl im Grunde meines Charakters ein züchtiger Mensch, zog ich dem Morden vor, auch wenn Giw, mein väterlicher Freund meint, in jedem Menschen stecke der Mörder und um alle Möglichkeiten des Menschendaseins zu leben, müßte einmal in seinem Leben der Mensch ein Verbrechen begehen. Mit der Zeit nistete sich der Gedanke, über die Unzucht in den Zustand des Heiligenschein-Orgasmus zu kommen, in meinem Geist ein und begann ihn mehr und mehr zu beherrschen, warum, wußte ich nicht zu sagen. Am Ende war ich überzeugt, daß der Weg zum Heiligenschein-Orgasmus einzig und allein über die Unzucht führen mußte, allerdings hatte ich keinerlei Vorstellung, mit wem und auf welche Weise ich mich, um nochmals in den Zustand des Heiligenschein-Orgasmus zu kommen, der Unzucht hingeben müßte. Es brauchte nicht lange und es wurde mir klar, daß ich, der ich mit den Schweizer Menschen, mit den Schweizerinnen, um genauer zu sein, keinen intimen Umgang pflegte, für den Unzuchtsakt, der mich in den Zustand des Heiligenschein-Orgasmus versetzen sollte, jemanden bezahlen mußte. Ich war auch durchaus bereit zu bezahlen, auch größere Summen, wenn es sein müßte, zunächst aber mußte ich jemanden für meine Zwecke geeigneten ausfindig machen, eine Schweizerin, eine Schweizer Hure, um genauer zu sein. Was die Unzucht betrifft, war ich - im Grunde meines Charakters ein züchtiger Mensch - außerordentlich unerfahren und schüchtern, es war mir also nicht möglich, einfach in die Zürcher Rotlichtbezirke zu gehen und die dort auf und ab wandelnden Schweizerischen Huren auf ihre Tauglichkeit für mein Vorhaben zu überprüfen, davon abgesehen, daß ich nicht wußte, auf welche Merkmale ich dabei achten hätte müssen. So beschloß ich, die Zürcher Zeitungen zu Rate zu ziehen, aber weder im Anzeigeteil der „Neuen Zürcher Zeitung”, noch im „Tagesanzeiger” fand ich etwas für mein Vorhaben geeignetes. Schließlich kaufte ich, voller Angst um mich herblickend, obwohl mich in der Weltstadt Zürich kaum jemand kennt, an einem Kiosk ein Kontakt-Magazin, von dem ich gehört hatte, es enthalte die außergewöhnlichsten Unzuchts-Angebote. Schon beim ersten Überfliegen des Unzuchts-Magazins fiel mir eine der zahllosen kleingedruckten Kontakt-Anzeigen ins Auge: Louise, Inländerin, 22 Jahre, blond, schlank, Studentin der Politik, hübsch, mittelgroß, erfüllt jeden Wunsch, auch ausgefallene und bizarre. Das Wörtchen „bizarr” stach mir ins Auge. Wegen meiner geringen Kenntnisse von der Unzucht wußte ich seinerzeit nicht, daß bei den Unzuchts-Betreibern das Wörtchen „bizarr” ein durchaus gebräuchliches ist, so daß ich wegen des Wörtchens „bizarr“ die Anzeige der Hure für außerordentlich hielt und mir bei einer Hure, die eine solche - wie ich meinte - außerordentliche Anzeige verfaßt hatte, mehr Verständnis für meinen außerordentlichen Wunsch erhoffte als bei gewöhnlichen Huren. Ich ging also in die nächste Telefonzelle und wählte die in der Anzeige angegebene Nummer. Eine jugendliche, eine beinahe kindliche Stimme meldete sich, die das Hochdeutsch der Deutsch-Schweizer mit einem französischen Akzent sprach, mit der selben rücksichtslosen Geschwindigkeit mit der Franzosen in Frankreich Französisch sprechen. Obwohl sich in der Magazin-Anzeige eine junge Studentin anbot, dachte ich zuerst, die junge Tochter der Hure sei am Apparat. Ich verlangte Louise - sie sei Louise, sagte die Stimme und gerade als ich beginnen wollte, ihr mein Anliegen umständlich, wie man es von mir gewohnt ist, auseinanderzulegen, sagte die Hure, ich riefe wohl wegen der Anzeige an. Ich wollte gerade bejahen, als die Hure mich fragte, ob sie einen Terminvorschlag machen dürfe. Ich war gerade dabei einzusehen, daß es ratsamer war, mein ungewöhnliches Anliegen nicht schon am Telefon, sondern von Angesicht zu Angesicht mit der Hure zu besprechen und wollte daher auch diese Frage der Hure bejahen, als sie auch schon einen Termin vorschlug, den Sonntag der folgenden Woche. Gerade als ich antworten wollte, schlug die Hure nacheinander den Samstag, den Freitag, den Donnerstag den Mittwoch, den Dienstag, den Montag, der folgenden Woche vor, sie hetzte von einem Terminvorschlag zum nächsten, ohne eine Reaktion meinerseits abzuwarten, die Terminvorschläge näherten sich nacheinander dem Tag unseres Telefongesprächs und als mich die Hure Louise, aus der von den Deutsch-Schweizern Welschland genannten französischen Schweiz, endlich fragte, ob ich sie sofort aufsuchen wollte, hatte sie einen Hustenanfall, der ihren immer schneller werdenden Redeschwall unterbrach. Ich hatte endlich Gelegenheit etwas zu sagen. Mein Bedürfnis, etwas zu sagen, hatte während des nicht enden wollenden Redeschwalls der Hure derart gelitten, daß es sich, zumal ich ihr lautstarkes Husten übertönen mußte, in ein dröhnendes „Ja” entlud, den ich in den Hörer hineinbrüllte. Die Hure Louise gab einen entsetzten, außerordentlich schrillen Aufschrei von sich - mein Brüllen hatte das arme Huren-Mädchen erschreckt - jedoch beruhigte es sich rasch und gab mir ihre Adresse, sie wohne und arbeitete im Zürcher Außenbezirk Oerlikon und wünsche mir gute Fahrt.

Der Beschreibung in der Anzeige entsprach die Hure Louise in der Tat. Sie war schlank, blond, jung, mittelgroß. Das Attribut hübsch jedoch, das ebenfalls in der Anzeige vorkam, schien mir dem Aussehen der Hure, wie ich sie in der Türe ihrer Wohnung in Oerlikon, wo sie wohnte, studierte und sich prostituierte, vorfand, nicht gerecht zu werden. Das Gesicht der Hure Louise war sinnlich, alles am Gesicht der Hure Louise war sinnlich, in ihren vollen Lippen vereinigten sich die Sinnlichkeit von Kinder- und von Frauenlippen, auch die Farbe ihrer Gesichtshaut war sinnlich, eine außerordentlich helle Haut ohne blaß zu sein, eine warme, leuchtende, lebendige Haut. Aber im Gesicht der Hure Louise, als ich sie erstmals in der Türe ihrer Wohnung im Zürcher Oerlikon antraf, fand sich noch etwas anderes, etwas über das Sinnliche ihres Gesichts hinausgehendes, in den sinnlichen Kinder- und Frauenlippen der Hure und im sinnlichen, warmen und außerordentlich hellen Licht ihrer Gesichtshaut fand sich etwas Übersinnliches. Ich stand da, das sinnliche und übersinnliche Gesicht der Hure mit weit geöffnetem Mund und schiefem Kopf anstarrend und ließ das warme, außerordentlich helle Licht ihres Gesichts ohne Widerstand in mich hinein - es versetzte mich in eine sonderbare, eine über das Sinnliche hinaus gehende Stimmung. Das Geistige und Übersinnliche eines Menschen, pflegt mein väterlicher Freund Giw zu sagen, hat seinen Sitz im oberen Teil des Gesichts, in der Stirn, um genauer zu sein, und in den Augen. Die grünen, betörend schönen Augen der Hure Louise, als ich in der Türe ihrer Zürcher Wohnung erstmals in sie hineinsah, musterten mich - während ihr sinnlicher Mund rasend und unablässig quasselte - mit vollkommener Ruhe, zugleich jedoch war eine kaum sichtbare Bewegung in ihnen, eine schwingende und taumelnde Bewegung, ein Taumeln und Schwingen, das sich von Louises auf meine Augen übertrug, alles um mich herum, als ich der Hure Louise in der Türe ihrer Wohnung in Oerlikon in die Augen schaute, begann zu taumeln, zu schwimmen, zu tanzen und sich zu verwischen. „Ich will den Heiligenschein-Orgasmus”, sagte ich geradeheraus, mitten im Redeschwall der Hure, die gerade nach meinem Befinden, dem Verkehrsaufkommen in Zürich, dem Wetter, meinem Sternzeichen und meinem Zivilstand gefragt hatte, wie schon am Telefon ohne auf eine Antwort zu warten. Was ein Orgasmus sei, das wisse sie, meinte Louise, während sie meine Hand nahm und mich durch den - auch für österreichische Verhältnisse - außerordentlich verwahrlosten Korridor hinter sich herziehend in eine Art Wohnzimmer führte, das, von einer Gitarre, einem Rennrad und einer schneeweißen Couch abgesehen, auf dem ein hellblauer Plastikrucksack lag, vollkommen leer stand. Was ein Orgasmus sei, das wisse sie, wiederholte, nachdem wir uns auf die große, schneeweiße Couch gesetzt hatten, die Hure Louise, aber ein „Eiligen-Schein”? Bevor ich antworten konnte, hatte Louise aus dem blauen Plastikrucksack ein kleines Wörterbuch gefischt, ein deutsch-französisches Wörterbuch wie ich annahm, und unter „Heiligenschein” nachgeschlagen. „Eilgenschein“, las sie vor „- aureole ... Du meinst ... O ... ein Orgasmus mit aureole?”, Die Hure Louise sah mich erstaunt und begeistert an, ich aber schwieg - ich hatte mittlerweile kapiert, daß die Hure, wenn sie mich etwas fragte, keine Antwort erwartete. „Sowieso, isch kenne das“, fuhr sie fort und ihre Stimme zitterte vor Begeisterung, „ja, isch kenne das. Isch ... ’atte schon das.” Dem Ausdruck meines Gesichts war wohl meine Beunruhigung und mein Entsetzen anzusehen, denn, wie um mich zu beruhigen, nahm die Hure meine Hand und begann sie besänftigend zu streicheln. Dann indem sie ihren Kopf, wie verschämt, von mir wegdrehend, auf ihre sinnliche Unterlippe biß, sagte sie: „O.k., o.k., isch erkläre das Dir. Isch erkläre alles Dir. Isch ’atte einmal einen Franz, isch meine einen Freund, den Franz aus dem Kanton Luzern. Franz war ganz schwarz, weil seine Mutter war aus Afrique. Er war ein ganz besonderes Mensch, ein musicien, sehr sensible, sehr besonderes, ein Violonist. Die Menschen haben nischt verstanden Franz, er war so fein, er war ... Franz war ... nischt, ... wie soll isch sagen ... er war nischt wirklisch von dieser Welt, voilà. Isch ’abe geliebt ihn, aber als wir waren zusammen, isch habe nicht gewußt, daß isch liebe ihn, isch ’abe gespielt immer mit Franz, ’abe geflirtet immer mit andere Männer und nischt nur das ... Nischt wie andere Mädschen flirten mit andere Männer, damit ihr Freund wird eifersüschtig und sie begehrt mehr, nein, isch war sehr böse zu Franz, isch wollte, daß er ärgert sisch, isch wollte ihn machen kaputt. Wenn er nur ’at angesehen eine andere Frau, o là là, isch ’abe ’eiß gemacht ihm die ’ölle, obwohl isch ’abe gewußt, daß er war unschuldig -” Mit solchen und ähnlichen Worten begann die Hure, aus der von den Deutschschweizern Welschland genannten französischen Schweiz, umständlich, gewunden und atemlos, die Geschichte ihrer Liebe zu dem unglückseligen Franz aus dem Schweizerischen Kanton Luzern zu erzählen. Eines Tages, so die Hure Louise war sie neben dem Luzerner Franz aufgewacht und hatte ihn nicht aufwecken können - er war tot gewesen. Am Abend zuvor waren sie beide zusammen im Zirkus gewesen (sie liebe, meinte die Hure, über alles auf dieser Welt Zirkusaufführungen), während der Zirkusaufführung hatte die Hure sich eingebildet, der unglückselige Franz aus dem Schweizerischen Luzern habe auf eine Seiltänzerin, eine „Africaine”, wie sie sagte, ein Auge geworfen, weshalb sie begonnen hatte, ihm flüsternd die Hölle heiß zu machen. Gegen Ende der Zirkusaufführung hatte Louise die Kontrolle vollends verloren, hatte den Unglückseligen lauthals beschimpft und vor allen Zirkusgästen mehrmals geohrfeigt, bevor sie laut heulend das Zelt verlassen hatte, um nach Hause zu laufen. Zuhause hatte sie den nachkommenden Franz auf das ordinärste beschimpft, ihm tobend und rasend den Tod gewünscht und verflucht. Der auf solche Weise verfluchte und beschimpfte Franz aus dem Innerschweizerischen Luzern hatte, wie immer bei den Tob- und Eifersuchtsanfällen der Hure, sich auf die Louise gestürzt und sie - bis ihre Raserei verebbt war - festgehalten. Daraufhin hatten sie, wie immer bei den Tob- und Eifersuchtsanfällen der Hure, miteinander geschlafen. Während ihres Miteinander-Schlafens war die Hure Louise fortgefahren, den Franz zu verdammen, er möge verrecken, hatte sie ihm ins Ohr geflüstert, der Teufel möge ihn holen und nicht mehr zurückbringen und so weiter. Mitten im Miteinander-Schlafen war der Franz aus dem Schweizerischen Kanton Luzern eingeschlafen, hingegen die Welsche Louise, die besonders erregt war, nur mit allergrößter Mühe den Schlaf gefunden hatte. Mehrmals war sie in der Nacht aufgewacht, jedesmal erregter. Schließlich, in aller Herrgottsfrühe, hatte Louise den Franz, um weiter mit ihm schlafen zu können, aufwecken wollen, der aber war, wie schon gesagt, tot gewesen. Unterdessen war die Erregung der Hure Louise derart groß geworden, daß sie sich, ihrer Bestürzung und ihres Ekels nicht achtend, auf den toten Luzerner Franz gestürzt und versucht hatte gegen jede Vernunft dessen Geschlechtsteil - so die Hure Louise wörtlich - zu aktivieren, was ihr nach mehreren andersgearteten, vergeblichen Versuchen, unter dem Einsatz ihres Mundes am Ende tatsächlich gelang. Im Unterschied zu seinem restlichem Körper war das Geschlechtsteil des aus dem Kanton Luzern stammenden Franz, so die Welsche Louise, nicht tot gewesen, vielmehr außerordentlich lebendig, lebendiger als zu Lebzeiten des Toten, als hätte sich im Geschlechtsteil des Toten alle Kraft seiner ausfahrenden Seele ein letztes Mal versammelt. Durch dieses Wunder, so die Hure Louise, wurde ihre zuvor schon große Erregung unermeßlich und rasend vor Lust hatte sich die Hure auf den, so die Lousie wörtlich, aktivierten Geschlechtsteil des Toten aus dem Kanton Luzern gestürzt und sich mit ihm vereinigt. Noch nie hätte sie eine solche Lust überwältigt, „eine solsche selige Lust” sagte die Hure Louise im Hochdeutsch der Deutschschweizer. Auf dem Körper des Toten sitzend, hätte, während der erste Orgasmus ihres jungen Lebens sie überwältigte, ein warmes, leuchtendes Licht ihren ganzen Körper umgeben - ein schwarzes Lischt, sagte die Louise wörtlich. Ich sah sie kopfschüttelnd an, daraufhin wiederholte die Hure das Gesagte auf Französisch: „Oui, oui, une lumière noire.“ „Du fragst sischer Disch“, fuhr sie im Hochdeutsch der Deutsch-Schweizer fort, „wie isch konnte das schwarze Lischt überhaupt sehen. Isch selber ’abe auch mir gestellt diese Frage. Isch ’abe geglaubt zuerst, isch ’atte nischt gesehen meinen Eiligenschein, sondern nur gespürt, aber es ist nischt gewesen so, isch ’abe wirklisch gesehen meinen Eiligenschein. Isch ’abe misch selbst gesehen, wie isch sitze auf tote Franz und ’atte um misch ’erum, um meinen ganzen Körper ’erum, die schwarze Eiligenschein.” Die Hure Louise machte eine lange Pause. „Isch ’atte dabei meine Augen geschlossen.” Es fiel mir ein, daß auch ich auf der Skipiste im Schweizer Graubünden, ohne mich bislang darüber gewundert zu haben, meinen ganzen, in Skikleidung gepackten, von einem blonden Heiligenschein umgebenen Körper buchstäblich gesehen hatte, als hätte ich ihn zuvor verlassen. „Das mit dem schwarzen Licht,”, sagte ich, „das verstehe ich nicht. Licht ist doch niemals schwarz.” „Isch werde Dir zeigen das”, sagte die Hure und schaute mir geradewegs in die Augen. Wie schon an der Türe war ihr Blick vollkommen ruhig, zugleich aber war eine Bewegung in ihm, ein kaum sichtbares Schwingen und Taumeln, das sich, wie schon an der Türe, von ihren auf meinen Augen übertrug. Wieder begann alles um mich herum zu taumeln, zu tanzen, zu schwimmen, sich zu verwischen, in meinem Bauch und in meiner Brust begann sich etwas zu drehen, anfangs langsam, dann immer schneller - die Hure Louise machte mir Angst. „Du ... meinst ... Du ... Du kannst ... einen schwarzen Heiligenschein-Orgasmus ... produzieren? Einfach so?” „Nischt einfach so”. Aus der Hurenstimme war jede Hektik verschwunden. „Wenn isch schlafe mit einem Mann und isch ’abe einen Eiligen-Schein-Orgasmus oder er, dann ist er immer - tot.” Das Taumeln um mich herum hörte auf. „Ich verstehe nicht. Ich verstehe Dich nicht”. Ich entzog der Hure meine Hand und fing an zu brüllen. „Du bist ... Du bist verrückt. Du bist eine ... verrückte, eine vollkommen verrückte Hure...”. Louise nahm meine Hand und streichelte sie wieder. „Wenn Du willst meinen schwarzen Eiligen-Schein-Orgasmus sehen und selber ’aben einen Eiligen-Schein-Orgasmus, Du mußt bereit sein zu sterben.” Ich wollte aufstehen und durch den auch für österreichische Verhältnisse verwahrlosten Korridor wortlos die Wohnung der Hure verlassen, stattdessen hörte ich mich - während das Taumeln wieder einzusetzen begann - sagen: „Ich bin zu allem bereit.”

Das Schlafzimmer der Welschen Hure Louise war ein Saustall. Von Haus aus bin ich nicht das, was man ordentlich nennt. Im Wohnzimmer meiner Zürcher Wohnung liegen Bücher, CD-Hüllen, Dokumente, Bankbelege, Rechnungen und Briefe auf dem Boden verstreut und in Töpfen, Tellern und Gläsern rund um meine Schlafmatratze in der Wohnzimmer-Mitte findet man die festen und flüssigen Reste meiner nächtlichen Nahrungsaufnahme. Ich besitze weder ein Bett noch ein Schlafzimmer und lese, arbeite und esse, bis tief in die Nacht hinein. Ich bin also, wie der Leser leicht einsieht, weder was die räumliche noch was die zeitliche Ordnung betrifft von Haus aus das, was man ordentlich nennt. Der Saustall im Schlafzimmer der Oerlikoner Wohnung der Welschen Hure Louise jedoch nahm auch mir den Atem. „Stop!”, brüllte ich. Ich stand in der Türe des Schlafzimmer-Saustalls, mein rechter Fuß steckte in einer verfaulten Torte, der linke drückte auf die Kehle einer toten, weißen Perser-Katze. „Hier will ich nicht sterben!”, rief ich und zeigte auf die Berge von Büchern, CD-Hüllen, Kleidungsstücken und Speiseresten. Im Unterscheid zu den festen und flüssigen Speiseresten auf dem Wonhzimmerboden meiner Zürcher Wohnung befanden sich die Speisereste im Schlafzimmer der Hure Louise weder in Tellern noch in Gläsern, noch in Töpfen, vielmehr bedeckten sie die Bücher, Kleidungsstücke, Zeitschriften und CD-Hüllen, die ihrerseits den Schlafzimmerboden bedeckten. Im übrigen war der Schlafzimmerboden der Hure als solcher gar nicht sichtbar und das große Lotterbett in der Schlafzimmer-Mitte war von den - ihrerseits von Speiseresten bedeckten - Kleider-, Bücher- und CD-Hüllen-Massen, die ihn umgaben, nur mit Mühe zu unterscheiden. Louise, die in der Mitte des Schlafzimmers stand, den einen Fuß auf eine Fruchtjoghurtlacke, den anderen auf den Kopf der toten, weißen Perser-Katze, drehte sich um und schaute mir streng in die Augen. Sofort setzte das Taumeln und das Schwingen um mich herum wieder ein und Sekunden später lag ich mit ausgestreckten Armen und Beinen, zu allem bereit, auf dem Lotterbett in der Mitte des Schlafzimmers der Hure Louise. Die Hure selbst setzte sich lässig, wie ein Krankenhausarzt bei der Zimmervisite, mit übereinandergeschlagenen Beinen an den unteren Bettrand, fuhr fort mir streng in die Augen zu schauen und zwang mich, ohne darüber ein Wort zu verlieren, an ihrem Blick festzuhalten. „Erzähl mir Deine Geschischte”, befahl sie. „Welche Geschichte?” „Wenn jemand ’at einen Eiligen-Schein-Orgasmus, er ’at immer eine Geschischte”. „Gibt es ... Kennst Du noch andere, die einen Heiligenschein-Orgasmus hatten?” „Erzähl mir Deine Geschischte”, wiederholte Louise und mit ausgestreckten Armen und Beinen, auf dem Lotterbett im Schlafzimmer-Saustall der Hure Louise liegend, erzählte ich meine Geschichte. Ich erzählte ohne Unterlaß, stundenlang, ohne etwas auszulassen oder zu lügen, alles was mir in den Sinn kam. Ich erzählte vom Geist meines väterlichen Freundes und wie sehr er meinen eigenen füllte, von meinen aus dem Persischen herkommenden Elternteilen, die mich ungefragt mit zwölf ins österreichische Graz verbracht hatten, ich erzählte von meinem Unglück mit den Österreicherinnen und Österreich, von meiner Glückssuche im Schweizerischen, meinem Heiligenschein-Orgasmus auf der Graubündner Skipiste und meinen Versuchen im Zürcher Park sowie auf der Fassade des Zürcher Hauptbahnhofs den Heiligenschein-Orgasmus wieder zu finden.

Obwohl ich ihm niemals in die Augen geschaut hatte - während den Sitzungen war es nicht möglich, aber auch während den Begrüßungen und beim Abschied hatte ich es unterlassen, ihm geradewegs in die Augen zu schauen - fiel mir, während ich auf Louises Lotterbett liegend meine Geschichte erzählte, mein steirischer Analytiker Kinz im österreichischen Graz ein. Während meiner Ausbildung zum Nervenfacharzt verbrachte ich Jahre frei assoziierend auf der Couch des steirischen Doktor Kinz - einer üppigen und blutroten Jugendstil-Plüsch-Garnitur, auf der ich mich jedes Mal wie auf dem Lotterbett eines Bordells fühlte. In einer Familie von Rechtschaffenen hineingeboren, hatte ich mich schon immer für meine seltsamen Regungen und abartigen Phantasien geschämt, die mich seit meiner Kindheit plagen. Um mich mit dem Deutschen vertraut zu machen, hatte mir, obwohl aus dem Persischen stammend, meine Mutter vor dem Schlafengehen die deutschen Märchen der Brüder Grimm vorgelesen. Mein Lieblingsmärchen war, der bösen Hexe wegen, „Hänsel und Gretel”.

Die alte Frau aber war eine böse Hexe, die lauerte den Kindern auf und hatte, um sie zu locken, ihr Brothäuslein gebaut. Wenn ein Kind in ihre Gewalt kam, dann machte sie es tot, kochte es und aß es und das war ihr Festtag.

Jedesmal, wenn beim Vorlesen der Grimm-Märchen Mutters Mund „Hexe” sagte, schreckte ich mich zu Tode und jedes Mal erfüllte mich die abartige Hexe in Mutters Mund mit seltsamen, abartigen Regungen, die ich nicht zu verstehen vermochte. Später kamen andere Gedanken, abartigere, unzüchtigere, dazu, zügellosere, ich führte meine unzüchtigen Phantasien niemals aus, was die Unzucht betrifft, blieb ich im Grunde meines Charakters, wie schon gesagt, ein züchtiger Mensch. Die abartigen Phantasien beunruhigten mich jedoch weiterhin - in eine Familie von Rechtschaffenen hinengeboren, lebte ich in der Überzeugung, ich sei anders als alle anderen, hoffnungslos anders, die Dunkelheit meiner unzüchtigen Phantasien empfand ich als Schande und Krankheit, die sich unter ungünstigen Umständen verschlimmern konnte. Von der Lotterbett-Couch meines steirischen Analytikers Kinz hatte ich, meine abartigen Phantasien betreffend, Klärung und Erlösung erhofft. Mein steirischer Analytiker Kinz jedoch verstrickte mich jedesmal in endlose Wortgefechte über meine Beziehung zu ihm, die mir herzlich egal war. Einmal sagte ich ihm, ich könne mit ihm nicht, er sei aus dem Steirischen und ich eine Art Perser, aber Kinz blieb beharrlich, das wichtigste in der Analyse eines seelisch gesunden Nervenfacharztes, so der steirische Kinz, wäre die Beziehung zu dessen Analytiker, ob Steirer oder Nicht-Steirer, von Kinz Übertragungs-Beziehung genannt. Mit der Zeit überzeugte mich mein Doktor Kinz von der Abartigkeit und Krankhaftigkeit meiner analytischen Beziehungsgestaltung ohne mir andererseits das Gefühl genommen zu haben, ich wäre meiner unzüchtigen und zügellosen Phantasien wegen abartig.

Wie gesagt, hatte die Hure, während ich meine Geschichte erzählte, meinen Blick mit ihrem Blick festgehalten. Als ich mit meiner Geschichte fertig war, drückte sie mein Handgelenk, womit sie, wie ich annahm, etwas mitteilen wollte, was es war wußte ich nicht, oder ich wußte es und weiß es heute nicht mehr zu sagen. „Bien“, sagte sie „Deine Geschischte ’at Disch gefü’rt hierher zu mir und ’ier ist sie zu Ende. Deine Geschischte ge’ört jetzt nischt mehr Dir. Isch werde übernehmen Deine Geschischte. Auch Disch werde isch nehmen über, mein Lieber. Du wirst sterben in meinen Armen.” Ohne meinen Blick loszulassen stand die Hure auf - daß sie in ihrem Schlafzimmer-Saustall überhaupt stehen konnte, erstaunte mich - und begann mit beiden Händen über ihre Wangen und ihre Lippen, ihre Brüste und ihren Bauch zu streichen, wobei ihre Lippen, wie bei einem Kuß, ein O fromten, ihr Kuß galt aber nicht mir, vielmehr einem Unsichtbaren, dicht vor ihr stehenden Anderen, an dessen nicht vorhandenen Schultern die Hure sich schmiegte. Nach und nach versetzen ihre eigenen Zärtlichkeiten die Hure in eine Trance, ihr Blick wurde trüb und verträumt und verlor die Herrschaft über meine Augen, das O, das ihre Lippen formten wurde größer und ihr Atmen verwandelte sich in ein rhythmisches, wehklagendes Stöhnen. Dann, auf einmal, unterbrach die Hure ihr Streicheln und Stöhnen, schüttelte ihren blonden Kopf und nahm meinen Blick, den sie, versunken in ihrer Trance, verloren hatte, wieder gefangen. „Zieh Disch aus!”, zischte sie und schaute mich streng und vorwurfsvoll an, wie man jemanden anschaut, dem man ein schweres Versäumnis zur Last legt. Ich gehorchte und während ich mit fahrigen Fingern mein Hemd aufzuknöpfen versuchte, stürzte sich die Hure auf meine Hose, die sie mir blitzschnell, wie es im Hochdeutsch der Deutschschweizer heißt, abzog und in eine Ecke ihres Schlafzimmers warf. Nackt und mit hängendem Kopf hockte ich in der Mitte des in der Mitte des Hurenschlafzimmers gelegenen Lotterbetts und starrte verlegen auf das schneeweiße, vollkommen unbefleckte Leintuch der Hure Louise - sie selbst stand schon wieder in der Schlafzimmermitte. „Was isch werde jetzt tun“, sagte sie „wird erregen Disch und präparieren Disch für den Eiligenschein-Orgasmus”. Wieder begann die Hure Louise ihren eigenen sinnlichen Körper zu zärteln und zu streicheln, auf einmal fingen ihre Hüften an wie bei einem Bauchtanz zu zucken, während ihr Oberkörper in völliger Ruhe verharrte. Eine Zeit lang kreisten und zuckten auch ihre grünen, betörend schönen Augen wild und wie in Ekstase bis sich ihr Blick, wie die Wiener unter den Österreichern sagen, wieder derfing und sich auf mein Geschlechtsteil fixierte - wie ich annahm, um die Wirkung ihrer Darbietungen auf ihn zu prüfen. Mein Geschlechtsteil jedoch zeigte sich von der Darbietung der Hure in keiner Weise beeindruckt, was mich erstaunte, war Louises Darbietung doch für eine Politik studierende, nebenberuflich sich prostituierende, erst zweiundzwanzigjährige Hure aus dem Schweizer Welschland durchaus beachtlich. Im übrigen habe ich seit je her Mühe, die Launen und Vorlieben meines Geschlechtsteils zu begreifen, auch in dieser Hinsicht war mir mein steirischer Analytiker Kinz keine Hilfe. „Wenn Du möchtest, daß er ... sich rührt“, ich zeigte voller Scham auf mein Geschlechtsteil, „mußt Du mich als Österreicher beschimpfen”. Die Hure Louise, nachdem sie mich eine Weile ratlos angestarrt hatte, brach in ein prustendes, penetrantes Lachen aus, ähnlich dem seinerzeitigen, prustenden Lachen meiner faschistischen Seziersaalkollegen im österreichischen Wien. „Isch ’abe gleisch mir gedacht, Du bist Autrichien. Du bist ein Autrichien typique. Isch bin einmal gewesen in Vienne mit arme Franz, isch liebe Vienne über alles, es ist so sehr wunderbar dort ... und die Menschen dort sind so komisch, so ... psychopathique ...“. Während ihre Hüften weiterhin wie verrückt zuckten und kreisten, bewegte Louise sich auf das Doppelbett zu. „Isch soll Dir schimpfen als Autrichien, damit er sisch erregt?“ Ohne ihr penetrantes, prustendes Lachen zu unterbrechen, setzte sich die Louise auf ihr schneeweißes Lotterbett und begann zärtlich meine blonden Stofftierhaare zu streicheln. „Du ... sollst mich beschimpfen .... nicht liebkosen“, stammelte ich. Louise küsste meinen Nacken. „Isch finde so süß die Autrichiens, alle sind so wie Du, süße ... Psychopaths ...“. Ich wollte der Hure gerade erklären, daß, falls sie noch immer vorhatte, mich in den Zustand des Heiligenschein-Orgasmus zu versetzen, ihr Vorgehen vollkommen falsch war, als sie mein Gesicht in ihre Hände nahm, die Hure Louise - ich habe vergessen es zu erwähnen - hatte Kinderhände, und meinen Mund küßte. Was dann passierte, fällt mir schwer zu erzählen, mit dem Kuß kam wieder der Taumel, alles schwankte und tanzte, das Lotterbett der Hure Louise wurde ein Floß, das auf Ozeanwellen schwamm, die Wellen verschluckten die auf dem Boden verstreuten, festen und flüssigen Speisereste, die Bücher, Zeitschriften und CD-Hüllen und nach und nach verschmolzen die ganze Studier- und Prostituier-Wohnung der Hure Louise, das gesamte Zürcher Oerlikon, der Kanton Zürich, die eidgenössische Schweiz sowie ganz Österreich mit den endlosen Ozeanwellen und lösten sich in ihnen auf.

Als ich zu mir kam, mit halb ausgestreckten Armen und Beinen, auf Louises Lotterbett liegend, war ich allein. Ich wollte aufstehen, aber ein süßer Halbschlaf, eine Art Dämmerzustand, um genauer zu sein, hinderte mich, ich blieb stundenlang auf Louises Lotterbett liegen, von einer tiefen Zufriedenheit erfüllt - vielleicht war es Glück. Dann kratzte etwas mein linkes Gesicht, ich drehte den Kopf, es war die totgewesene, weiße Perser-Katze, sie knurrte und schmiegte sich an meine Wange. „Du bist doch tot!”, protestierte ich. „Sie wird tod immer wieder”, hörte ich die Stimme der Hure Louise. Ich setze mich auf und sah sie lesend auf dem rosaroten Spannteppich ihres Schlafzimmers sitzen. Alle Speisereste, Kleidungsstücke, Bücher und CD-Hüllen waren verschwunden, der Ozean hatte sie verschlungen und nicht wieder hergeben wollen. „Sie wird tod immer wieder die Katze, aber dann sie fängt wieder an ein neues Leben. Sie ist vom Zirkus, eine Perser-Katze. Sie heißt Louise - wie isch.” Ich wollte Louise - die Hure Louise, nicht die Katze - fragen, was passiert war, ich wollte wissen, ob ich oder sie einen Heiligenschein-Orgasmus gehabt hatten, und wenn ja, warum ich noch lebte. Statt dessen hörte ich mich fragen: „Sehen wir uns wieder?”. Die Hure stand auf, packte die widerstrebende Perser-Katze am Nacken und setzte sie auf den Boden. Dann legte sie sich zu mir ins Lotterbett, küßte meine Lippen und sagte: „Sooft wie möglisch”.

Heute lebe ich mit der immer noch Politik studierenden und sich prostituierenden Hure sowie der Katze Louise im österreichischen Wien. Ich habe auf Louises Anregung hin meinen Beruf als Nervenfacharzt aufgegeben und betreibe zusammen mit ihr eine sogenannte Go-Go-Bar am sogenannten Wiener Gürtel. Ich halte ausdrücklich fest, daß ich nicht etwa deshalb ins österreichische Wien zurückgekehrt bin, weil mein Unglücklichsein in der Schweiz mein Unglück in Österreich übertroffen hätte - gemäß der Überzeugung meines väterlichen Freundes Giw, das Lebensziel bestünde nicht in der Suche nach immer mehr Glück, sondern nach immer weniger Unglück - nein, ich bin allein der Louise wegen, der Hure Louise, nicht der Katze, nach Wien zurückgekehrt. Louise liebt das österreichische Wien über alles und ist immer noch wider besseren Wissens überzeugt, ich sei ein typischer österreichischer Wiener. Möglich, daß mich Louise vor allem oder überhaupt nur als österreichischen Wiener liebt, obwohl meine Haare seit Jahren nicht mehr blond sind und meine Haut- und Gesichtsfarbe, wie mir scheint, von Jahr zu Jahr dunkler wird.

Glossar

Gemma: „Gehen wir“. Aufforderung, sich zu beeilen.

Tachnieren: Blau machen

Rotzbuam: Lausbuben.

Buam: Buben, Jungen.

Gfrasta: Lausbuben.