Sonntag, 9. Januar 2011


Warum wir über den Islam nicht reden können (8)


Dodo-Vogel (Raphus cucullatus), 1598 entdeckt, ausgerottet 1681

Religionsgleichheit: Alle haben gewonnen und alle sollen Preise erhalten

Religionsfreiheit hat die grundsätzliche Gleichheit aller religiösen Gemeinschaften vor dem Gesetz zur Voraussetzung – seit der Aufklärung ein Grundprinzip demokratisch verfasster Gesellschaften, das auch dort gilt, wo einzelne Staaten, wie z.B. England, eine bestimmte Religionsgemeinschaft institutionell bevorzugen. Ähnlich wie der Begriff Religionsfreiheit hat auch die Idee der Gleichheit aller Religionen (vor dem Gesetz) eine Wandlung durchlaufen, hin zu einer neuen, in der heutigen Debatte dominierenden Parallelbedeutung, die ich Religionsgleichheit nennen will: Die Vorstellung, daß man, wenn man so verschiedene Phänomene wie etwa den Voodoo-Kult oder den Zen-Buddhismus mit der einen Etikette "Religion" versieht, auch schon etwas über sie weiß: Daß sie nämlich alle „irgendwie gleich“ sind.

Im Dritten Kapitel von Alice im Wunderland findet auf Anregung des Dodo-Vogels ein Wettrennen statt, das sogenannte Caucus-Rennen.

Erst bezeichnete er die Bahn, eine Art Kreis, und dann wurde die ganze Gesellschaft hier und da auf der Bahn aufgestellt. Es wurde kein: „eins, zwei, drei, fort!“ gezählt, sondern sie fingen an zu laufen wenn es ihnen einfiel, hörten auf wie es ihnen einfiel, so daß es nicht leicht zu entscheiden war, wann das Rennen zu Ende war. Als sie jedoch ungefähr eine halbe Stunde gerannt waren, rief der Dodo plötzlich: „Das Rennen ist aus!“ und sie drängten sich um ihn, außer Atem, mit der Frage: „Aber wer hat gewonnen?“ Diese Frage konnte der Dodo nicht ohne tiefes Nachdenken beantworten … Endlich sprach er: „Jeder hat gewonnen, und alle sollen Preise haben.“ (4)

Gerade wer - wie die Teilnehmer am Caucus-Rennen über dessen Spielregeln - über einzelne zur Debatte stehende Religionen nichts weiß, weiß eines bestimmt: Daß alle Religionen gewonnen haben, und alle Preise verdienen. Eine Devise, die unter umgekehrten Vorzeichen ihre Gültigkeit noch verstärkt: Wenn eine Religion kritisiert wird, gebietet Religionsgleichheit, daß alle verloren haben und alle Schelte verdienen. In der beschriebenen Islam-Diskussion (siehe: Warum wir über Islam nicht reden können, 6.Teil) kam nach dem Auftritt des „Koranzitierers“ diese verkehrte Dodo-Regel umgehend zur Anwendung: Dem „Koranzitierer“ wurden nacheinander Karlheinz Deschners Kriminalgeschichte des Christentums, die Kreuzzüge und der Umstand entgegengehalten, daß auch die Bibel einen gewalttätigen und opferfordernden Gott kenne. Dieser Automatismus, der religionskritische Argumente verwendet, um Religionskritik im Keim zu ersticken, hat sich in der Islam-Debatte als wirksames Instrument zur Aufrechterhaltung unartikulierter Redeverbote bewährt.

Religionsgleichheit begegnet übrigens nicht nur in Diskussionsrunden und Online-Foren im Westen. Auch im islamischen Raum ist sie als unausgesprochenes Dogma weit verbreitet - etwa bei den „islamischen Neudenkern“ Irans, deren Hauptvertreter, Abdolkarim Sorush, gerne als „islamischer Luther“ bezeichnet wird - verbunden mit der Vorstellung, man könne den Islam (weil eben alle Religionen "irgendwie gleich" sind), genauso wie das Christentum, einer lutherischen Reformation unterziehen, um ihn mit der Moderne kompatibel zu machen.
Religionsgleichheit, aber manche sind gleicher

Bei genauerem Hinsehen scheint die verkehrte Dodo-Regel („Wird eine Religion gescholten, haben alle Religionen verloren“) aber ausschließlich für den Islam zu gelten. Umgekehrt würde es niemandem einfallen, jegliche Kritik am Christentum damit zu kontern, daß auch der Islam „verloren habe und Schelte verdiene“. Diese Sonderstellung, die der Islam vor allem in liberalen und „linken“ Debatten des Westens genießt, hat mit einer Art Beißhemmung zu tun. Man will – nicht zuletzt angesichts der Hetze gegen Menschen aus mehrheitlich moslemischen Ländern – nicht dem Eurozentrismus das Wort reden und überheblich scheinen, indem man die „eigene“ über die „fremde Kultur“ stellt. Das scheint nachvollziehbar. Wer will sich schon mit Figuren vom Schlage eines Berlusconi und seiner Aussage gemein machen, die „christlich-europäische Kultur“ sei der „islamischen“ überlegen. Problematisch dabei ist jedoch, daß nichtreligiöse Liberale und “Linke“ sich hier unversehens als „doch irgendwie christlich“ outen. Denn gäbe es keine Identifizierung mit dem Christentum, wäre die Sorge, den Eindruck der eigenen Überheblichkeit ausgerechnet dadurch zu erwecken, daß man in den Verdacht kommt, das Christentum als (dem Islam) überlegen darzustellen, gegenstandslos. Und: Abgesehen davon, daß in einem solchen Diskurs der Schonung eine gehörige Portion Geringschätzung mitschwingt („Ich schone Dich, weil Du schwach bist und die ganze Wahrheit nicht vertragen würdest“), stellt sich die Frage, inwieweit der moslemische Andere unserer Schonung überhaupt bedarf. Denn möglicherweise sitzen wir, die wir unseren eigenen unbewußten Glauben verleugnen, einem weiteren Mißverständnis auf, wenn wir - auf der anderen Seite - dem traditionellen Moslem eine umso lückenlosere Identifikation mit seinem Glauben zuschreiben. Wie Robert Pfaller (5) nachgewiesen hat, ist der direkte, unmittelbare Glaube kein traditionelles, sondern im Gegenteil ein modernes Phänomen. Wohingegen der traditionelle, vormoderne Gläubige, der die Möglichkeit hat, seinen Glauben - etwa durch Rituale - gewissermaßen aus sich auszulagern, diesen keineswegs als etwas unmittelbares erlebt.

wird fortgesetzt

(4) Lewis Caroll: Alice im Wunderland. Frankfurt am Main, 1998, S. 30
(5) Rober Pfaller: Die Illusionen der Anderen. Frankfurt am Main, 2002

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