Freitag, 9. Januar 2015

Vögeln ist schön - warum wir aber nicht fliegen (2)



Während das Gesetz bei Paulus die Lust - indem es sie verbietet - auf indirekte Weise ermöglicht, zielt das Gesetz im schiitischen Islam auf die direkte Produktion sexueller Lust.

Mortezai mußte allerdings monatelang suchen, bevor sie Menschen fand, die bereit waren, vor der Kamera über ihre Erfahrungen als „Zeit-Eheleute“ zu sprechen. Wie ein Geistlicher in einer Szene des Films sagt, wird die Institution der Zeitehe von „der Gesellschaft“ – wörtlich - als anstößig  („ghabih“) empfunden - und abgelehnt.

In ihrem Bemühen, das Sexuelle zu legitimieren, und ihm das Anstößige zu nehmen, kommt hier die Religion also selbst in den Geruch des Anstößigen.

Tatsächlich zieht es ein Großteil der unverheirateten Iranerinnen und Iraner offenbar vor, auf die legale und unbürokratische Befriedigung ihrer Lust via Zeitehe zu verzichten - um ihre Sexualität abseits des (religiösen) Gesetzes zu leben. Etwa im Rahmen von nicht-ehelichen Lebensgemeinschaften - im Iran „weiße Ehen“ genannt – deren zunehmende Verbreitung in den offiziellen Medien des Landes zulezt intensiv diskutiert wurde.

All diese Befunde scheinen darauf hinzuweisen, daß das sexuelle Empfinden und das sexuelle Verhalten (weiter Teile) der iranischen Gesellschaft ähnlich „strukturiert“ sind wie die zeitgenössische Sexualität in westlichen Gesellschaften. Daß wir es - hier wie dort – mit individualisierten und pluralisierten sexuellen Beziehungen zu tun haben, die – wie der Soziologe Sven Lewandowski 1 feststellt - keinen traditionellen Vorgaben mehr folgen, so daß sie ihre Legitimation aus sich selbst heraus beziehen - und um ihrer selbst willen existieren. Sie stehen (so Lewandowski in Anlehnung an Anthony Giddens2) unter dem Paradigma der „demokratisch verfassten Intimität“: Sexuelle Praktiken und Interaktionen werden unter gleichberechtigten Partnern immer wieder aufs Neue ausverhandelt  – mit dem Ziel der „Produktion“ bzw. der Maximierung sexueller Lust. Wie diese Lust erzeugt wird, ist, so Lewandowski, sekundär. Im Iran – wie im Westen - ist die zeitgenössische Sexualmoral demnach hedonistisch.

Aber halt! Wenn die in der iranischen Gesellschaft vorherrschende Sexualmoral hedonistisch ist, sich also in allererster Linie an der Lust orientiert – warum machen sich dann junge Iranerinnern und Iraner das Leben so schwer? Warum machen sie nicht einfach von der bequemen und legalen Möglichkeit Gebrauch, diese ihre Lust im Rahmen der - von Staat und Religion geradezu verordneten - Zeitehe auszuleben? Warum entscheiden sie sich stattdessen für diverse Formen vor- und außerehelicher Sexualität - und nehmen dabei das Riskio drakonischer, archaischer Strafen in Kauf?

„Warum“ so ein besorgter online-Kommentar im Diskussionsforum der Website der - regierungsnahen - iranischen Nachrichtenagentur Fars News Agency,
„verbieten wir uns selbst, was uns Gott erlaubt hat?“

wird fortgesetzt

(1) Sven Lewandowski, Diesseits des Lustprinzips – über den Wandel des Sexuellen in der modernen Gesellschaft

http://www.sws-rundschau.at/archiv/SWS_2008_3_lewandowski-artikel.pdf

(2) Anthony Giddens, Wandel der Intimität. Sexualität, Liebe und Erotik in modernen Gesellschaften. Frankfurt a. M. 1992

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