Freitag, 26. Juni 2015

Tolerieren, Respektieren, Glauben. Warum wir glauben - und es nicht wissen (6)


Charles Fourrier
Wofür immer die schiitische Islamische Republik Iran oder das sunnitisch-wahhabitische Königreich Saudi-Arabien stehen mögen – „antikapitalistisch“ sind sie nicht. Sie praktizieren, im Gegenteil, einen ungleich brutaleren Kapitalismus als jenen der entwickelten kapitalistischen Gesellschaften des Westens.

Zurück zu unserem weltoffenen, „den Islam“ respektierenden Zeitgenossen, und seinem Unbehagen am Kapitalismus - als pars pro toto für all jene Unbehagen, die moderne Subjekte umtreiben, und sie veranlassen mögen, „den Islam“ zu respektieren - oder zu beneiden (wobei „der Islam“ wiederum als pars pro toto für vorkapitalistische, oder besser als vorkapitalistisch imaginierte Kulturen aufgefaßt werden kann).

Dieses Unbehagen ist natürlich nicht neu. Es begleitete den modernen (Industrie)kapitalismus seit seinen Anfängen, und artikulierte sich etwa in den Werken eines Charles Fourrier, jenes Frühsozialisten, der die politisch-ökonomische und sexuelle Befreiung zusammendachte, den Begriff „Feminismus“ erfand, und später zu einem der geistigen Väter der 68er avancierte, oder in den Aktionen der Maschinenstürmer in Deutschland und der von Byron besungenen Luddisten in England - und ist seither nicht abgeklungen.

In den letzten Jahrzehnten scheint sich aber die Position des Subjekts im Kapitalismus und mit ihr der Charakter seines Unbehagens an demselben verändert zu haben. Die industrielle Revolution hatte die Subjekte aus ihrer Abhängigkeit von feudalen Strukturen befreit. Seither stehen sie (zumindest de iure) in keinem persönlichen Abhängigkeitsverhältnis mehr – sind aber dem Zwang unterworfen, ihre Arbeitskraft verkaufen zu müssen. Gelingt ihnen das nicht, werden sie (als Empfänger von Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe) auf das Existenzminimum reduziert und sozial deklassiert. Ihre „persönliche Unabhängigkeit“ ist also, mit Marx zu sprechen, „auf sachliche Abhängigkeit gegründet“.1

Diese „sachliche Abhängigkeit“ zwingt die Subjekte, einen Käufer zu finden, den Arbeitgeber, der ihnen ihre Arbeitskraft um eine bestimmte Summe, dem Lohn, abkauft, und mit ihnen, als Arbeitnehmer, ein sachliches Abhängigkeitsverhältnis eingeht. Dieses Abhängigkeitsverhältnis war nun bis vor wenigen Jahrzehnten in aller Regel tatsächlich ein sachliches. Es kam zwar vor, daß jemand „für seinen Beruf lebte“ oder „in seinem Beruf aufging“. So jemand wurde aber, war er nicht gerade Priester oder in einem der heute so genannten kreativen Berufe tätig, eher als Ausnahmeerscheinung betrachtet, wenn nicht als Sonderling. Jedenfalls galt solches Verhältnis zur Arbeit nicht als gesellschaftlicher Standard.

Der Arbeitgeber erwartete von der Arbeitskraft, die er bezahlte, die effiziente Erledigung der Arbeit. Nicht mehr und nicht weniger. Die persönliche Einstellung jener Arbeitskraft zu der von ihr verrichteten Arbeit war ihm, solange die Qualität der Arbeit stimmte, in der Regel herzlich egal. Genau das kommt in der sachlichen, unpersönlichen Bezeichnung Arbeitskraft ja zum Ausdruck.

Heute scheinen die Dinge aber anders zu liegen. Mehr und mehr ähneln Vorstellungsgespräche psychologischen Tests. Die Bewerber werden nach sozialer Kompetenz, emotionaler Intelligenz, Kommunikationsfähigkeit, Teamfähigkeit, Kreativität etc. etc. gefragt, vor allem, ob sie sich mit ihrer potentiell zukünftigen Arbeit und ihrer potentiell zukünftigen Firma zu identifizieren vermögen. Ganz so, als verkauften sie nicht ihre Arbeitskraft - sondern ihre Seele.

„Persönliche Unabhängigkeit“ scheint also heute nicht mehr bloß auf sachliche, sondern paradoxerweise auch auf seelische Abhängigkeit gegründet. Diese seelische Abhängigkeit wird von den Subjekten allerdings selbst begehrt: Identifikation mit der Arbeit ist ja nicht bloß eine vom Arbeitgeber an die Adresse „seiner“ Arbeitskräfte gerichtete Erwartung. Mehr und mehr Zeitgenossen erscheint die Identifikation mit der Arbeit - sprich: die Selbstverwirklichung im Beruf - als höchstes Lebensziel.

1 Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Bd. 42, Berlin 2005, S.91

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