Samstag, 16. Dezember 2017

Hat der Diskurs der Linken mit linken Positionen zu tun? Oder nur mit rechten?



Replik auf einen Kommentar Floris Biskamps zu einem Kapitel meines Buches „Respektverweigerung“ (1)


Mein Freund, der deutsch-indische Philosoph Pravu Mazumdar, war nach der Publikation seines ersten Buches über französische Gegenwartsphilosophie mit Reaktionen wie dieser konfrontiert:

„Sie kommen aus Indien? Welch wunderbare Kultur! Warum schreiben’s dann über französische Philosophie? Schreiben’s doch über Indien!“

Noch vor wenigen Jahrzehnten bedeutete Weltoffenheit gegenüber Fremden, dass man ihnen versicherte, sie seien unabhängig von ihrer Herkunft, „ihrer Kultur“ oder ihrer (tatsächlichen oder vermeintlichen) Religion in unserer Gesellschaft willkommen. Fremdenfeindliche Ressentiments hingegen waren stets mit der Betonung der Herkunft und der „Kultur“ des Angefeindeten verknüpft. Heute sitzt die Vorstellung, dass Fremde in erster Linie „ihre Kultur“ repräsentieren, oder zu repräsentieren haben – und dann lange nichts –, offenbar so tief, dass auch Weltoffene und Wohlmeinende nicht ohne ausdrückliche Betonung der „Kultur“ jener Fremden auszukommen scheinen. Diese „fremden Kulturen“ – und nicht die Individuen, die ihnen subsummiert werden – sollten wir, so die unausgesprochene Devise der neuen „Weltoffenheit“, respektieren.

Diesem kulturalistischen Diskurs ist offenbar auch der kürzlich publizierte Kommentar des Politologen Floris Biskamp zum ersten Kapitel meines Essaybands „Respektverweigerung: Warum wir fremde Kulturen nicht respektieren sollten. Und die eigene auch nicht“1 verpflichtet.2, den ich in diesem und den folgenden Blogbeiträgen meinerseits kommentierten möchte.  

Von kleinlichen Kämpfen und der „wahren Größe des Islam“

Biskamp behauptet zunächst, mein Text würde die Schwierigkeiten Linker und Liberaler3 beim Reden über den Islam als Ausdruck einer „innere[n] Blockade in [deren] Köpfen“ betrachten. „Diese unterwürfen sich selbst zu Unrecht einem Tabu in Bezug auf das Sprechen über Religion im Allgemeinen und den Islam im Besonderen.“ Biskamp selbst hingegen „sehe darin ein reales äußeres Dilemma: Wer unter den gegebenen Umständen das, was in islamischen Kontexten kritikwürdig ist, öffentlich kritisiert, läuft Gefahr, gewollt oder ungewollt zur Verbündeten von FPÖ, Stürzenberger und Co. zu werden. Wer dagegen FPÖ, Stürzenberger und Co. für ihre ‚islamkritische’ Positionen kritisiert [...], läuft Gefahr, die Kritik an dem, was in islamischen Kontexten wirklich kritikwürdig ist, zu unterminieren.“ „Alle, denen es um die Freiheit und Gleichheit aller geht“ fordert Biskamp auf, „dieses Dilemma ernst zu nehmen und die eigene Praxis vor diesem Hintergrund zu reflektieren.“ – wobei er meinem Text implizit vorwirft, eben dies nicht zu tun, jenes Dilemma nicht ernst zu nehmen und „die eigene Praxis“ nicht – oder zu wenig – zu reflektieren.

Biskamp suggeriert hier – zum einen –, dass der linke Diskurs über den Islam ausschließlich in Zusammenhang mit dem Diskurs der neuen Rechten existiert, so dass die Probleme der Linken beim Denken und beim Reden über den Islam lediglich im Kontext ihrer Konfrontation mit den Rassisten von FPÖ, AfD und Co. entstehen würden. Zum anderen fasst er „das Innere“, also das, was wir den „psychischen Innenraum“ nennen, und das „Äußere“, womit er offenbar das Sprechen in gesellschaftlichen und politischen Zusammenhängen meint, als unvermittelt nebeneinander existierende Realitätsfelder auf.

Beides ist nachweislich falsch.

Zunächst: Wenn zutreffen sollte, dass sich die Schwierigkeiten der Linken im Umgang mit dem Islam auf Schwierigkeiten im Umgang mit den neuen Rassisten beschränken, müsste uns das in Sorge versetzen. Sorge über den Zustand einer Linken, die den Rassisten die Diskurshoheit überlassen hat und deren eigener Beitrag zur aktuellen Debatte – einem Pawlowschen Hund gleich – lediglich aus Reflexen auf den Diskurs der Rechten besteht.
Allerdings hält die Behauptung, der linke Islam-Diskurs würde bloß auf den Islam-Diskurs der Rechten reagieren, schon einer oberflächlichen Überprüfung nicht stand. Was die erwähnte Sorge aber nicht zu zerstreuen vermag, sie im Gegenteil verstärkt.

Exemplarisch seien die Positionen einiger – untereinander durchaus unterschiedlicher – Vertreter des linken Spektrums erwähnt, die sich mit der islamischen Revolution im Iran im Besonderen und mit dem sogenannten politischen Islam im Allgemeinen solidarisch zeigten oder zeigen. Oder in der Islamischen Republik Iran einen strategischen Verbündeten sehen:

- Jener iranischen Linken etwa, die am 8. März 1979, wenige Wochen nach dem Sieg der islamischen Revolution, im Gleichklang mit den Schlägerbanden der „Partei Gottes“, zehntausenden iranischen Frauen, die gegen die drohende Einführung des Kopftuchzwangs demonstrierten, den Mund verbieten wollten. Mit dem Argument: Sie mögen, bitte, ihren kleinlichen Kampf gegen religiöse Bevormundung bleiben lassen, um das „große antiimperialistische Bündnis“ mit Khomeini, dem Führer der islamischen Revolution, von dem viele iranische Linke phantasierten, nicht zu gefährden.4

- Oder: Jener „Antiimperialisten“, die wann immer von Menschenrechtsverletzungen in der Islamischen Republik Iran die Rede ist, diese verharmlosen, relativieren oder verteidigen. Und den Iran, in dem ein brutaler, mafiös durchwachsener Kapitalismus herrscht, als „antikapitalistische Insel“ im kapitalistischen Weltsystem halluzinieren. 

- Oder: John Rose, der Nahostexperte der Socialist Worker Party, der größten Gruppierung der radikalen britischen Linken, der 2009, am Höhepunkt der Massenproteste im Iran, seine volle Unterstützung für die islamische Revolution bekundete.5

- Auch der linke Theoretiker Slavoj Zizek, an sich ein scharfsichtiger innerer Kritiker der Linken, scheint eine Schwäche für den sogenannten politischen Islam zu haben. So schreibt er etwa in seinem Buch „Auf verlorenem Posten“, er sei „versucht, zu behaupten“, dass der Islam „seine wahre Größe [...] aus seiner [potentiellen] politischen Anwendbarkeit“6 beziehe.

- Oder: Der verstorbene venezolanische Präsident Hugo Chavez, der dem Iran wörtlich seinen „bedingungslosen Beistand“ im Kampf gegen den Imperialismus zusicherte – und bis zu seinem Tod herzliche Beziehungen zu Irans Ex-Präsident Ahmadinejad pflegte.

Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.

Mit jenem Dilemma der Linken im Umgang mit dem Islamdiskurs von AfD, FPÖ und Co., von dem Biskamp spricht, dürften die Positionen von Chavez, Rose, Zizek oder der iranischen Linken eher nicht in Zusammenhang stehen.
Versuchen wir jedoch diese und andere linke Positionen „in Sachen Islam“ vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Entwicklungen seit den 1970er Jahren – und ihrer Wechselwirkung mit linkem Denken und Handeln – zu verstehen, könnte dieser unser Versuch – umgekehrt – ein Licht auf die Frage werfen, wie es denn kommt, dass viele Linke heute auf den neuen Rassismus von FPÖ und Co. so und nicht anders reagieren, dass sie sich also angesichts des Islamdiskurses der neuen Rassisten in jenes „äußere Dilemma“ versetzt fühlen, das Biskamp in Stellung bringt. Dass sie glauben, dass jedes kritische Reden über den Islam – oder überhaupt jedes Reden über den Islam – die Position der neuen Rassisten stärken könnte. Fragen, die Biskamp – hier jedenfalls – gar nicht stellt.

Identität statt Klasse

Über die ökonomischen und sozialen Hintergründe der Veränderung linken Bewusstseins und linker Praxis seit den 1970er Jahren schreibt der linke Theoretiker Sami Alkayial:

Mit dem Eintreten der kapitalistischen Gesellschaften in das postindustrielle Zeitalter ging die schwindende Bedeutung der Arbeiterklasse in der sozialen Produktion einher. Die Schließung der Fabriken und Minen in den Industriestädten Großbritanniens oder im deutschen Ruhrgebiet stellte das Ende einer Welt dar, der die traditionelle Linke angehörte. In einem Kapitalismus der ‚flexiblen Akkumulation’, [...] der sich auf kleinere Produktionsstätten bezieht und in dem der Dienstleistungssektor sowie die Produktion von Konsumgütern, Informationen und Kommunikationsmitteln eine viel größere Rolle spielen, gibt es keinen Raum mehr für eine leitende oder breit vertretene Klasse“7. Hinzuzufügen wären hier noch das „Strukturellwerden“ der Arbeitslosigkeit seit den 1970ern – nicht zuletzt in Zusammenhang mit der neuen Globalisierung, die ganze Industriezweige in Niedriglohnländer abwandern ließ.

Alles das führte zu einer existentiellen Krise im Denken und Handeln der Linken. Bis dahin war die Emanzipation der Arbeiterklasse im linken Bewusstsein eng mit jener der ganzen Gesellschaft verknüpft – also auch mit jener anderer unterdrückter Gruppen, etwa der Frauen oder der Afroamerikaner in den USA.8 Mit der „schwindende[n] Bedeutung der Arbeiterklasse in der sozialen Produktion“ begann sich nun die Verbindung zwischen den Anliegen jener unterdrückten Gruppen und den Forderungen der Arbeiterklasse im Denken und im Handeln progressiver Akteure aufzulösen. Und je mehr die Arbeiterklasse an „diskursivem Gewicht“ verlor, umso gewichtiger schienen die Anliegen jener marginalisierten Gruppen.
Mehr noch: Mit der Aufgabe des Konzepts einer leitenden Klasse verblasste nicht bloß die Idee der Emanzipation der Arbeiterklasse als „Schlüsselprojekt“ innerhalb des Gesamtprojekts der Emanzipation der Gesellschaft – sondern die Idee der Befreiung der (ganzen) Gesellschaft als solche.
Konzepte, welche die gesamte Gesellschaft und deren Emanzipation im Blick hatten, wurden ebenso wie klassentheoretische Ansätze und Begriffe durch Konzepte und Begriffe in Zusammenhang mit jenen marginalisierten Gruppen – namentlich der „Identität“ jener Gruppen – verdrängt. Es kam, mit Alkayial zu sprechen, zu einem Austausch von „Klassenkonzepten durch identitär geprägte Profile [Hervorhebung von mir]“9. Das war die Geburtsstunde der Identitätspolitik.10

Regressiv oder Progressiv?

Aber halt. Erinnern uns Begriffe wie „identiär“ und „Identität“ – man denke bloß an die „Identitären“ – nicht eher an den rechten Diskurs? Tatsächlich werden immer wieder Stimmen laut zuletzt etwa in Zusammenhang mit dem Erfolg der AfD in der deutschen Bundestagswahl 2017 – die meinen, die neue Rechte verwende linke identitätspolitische Zutaten, um daraus ihr eigenes identitätspolitisches Süppchen zu kochen.11

Wie dem auch sei. Parallelen zwischen „progressiven“ identitätspolitischen und regressiven „ethnopluralistischen“ Ansätzen fallen jedenfalls immer wieder ins Auge – Stichwort: „cultural apppropriation“, genauer: die Kritik an dieser.

„Der Studierendenrat der University of Ottawa entschied im ­November [2015] einen kostenlosen Kurs auszusetzen, den eine Yoga-Lehrerin zuvor über mehrere Jahre angeboten hatte. Grund: Die Kultur, von der Yoga ‚übernommen’ wurde, hätte in der Vergangenheit Imperialismus und westliche Beherrschung erlitten. Die Universität müsse daher Sensibilität beweisen, argumentierten Studentenvertreter“.12

In einem von Norbert Hofer – dem Kandidaten der rechtsextremen FPÖ für das Amt des österreichischen Bundespräsidenten im Jahre 2016 – herausgegebenen Buch „Für ein freies Österreich“ heißt es über Yoga:

„Yoga: ... wo das Fremde [...] beginnt, das Eigene zu verdrängen [...] ist der Bestand dieser Kultur akut gefährdet; die zwanghafte Suche nach exotischen Reizen, bei gleichzeitiger Diskreditierung des bewährten, gewohnten Eigenen, ist ein weiteres Indiz der Selbstaufgabe“.13

Während in unserem Beispiel – eines von zahlreichen möglichen – die Mitglieder des Studierendenrates der Universität Ottawa, die sich selbst wohl eher dem progressiven linken Spektrum zuordnen würden als dem regressiven rechten, einen Yogakurs aussetzen, um die „indische Kultur“ zu beschützen, will der rechtsextreme Autor Michael Howanietz Yoga zurückdängen, um die „österreichische Kultur“ zu beschützen. Interessieren soll uns aber nicht, dass beide, die progressiven Studierenden in Kanada und der rechtsextreme Autor in Österreich, gegen Yoga vom Leder ziehen – sondern der identitätspolitische Kulturalismus, der sie verbindet. Ein Kulturalismus, in dem Gesellschaft durch unauflösliche Differenzen kollektiver „kultureller Identitäten“ – hier der indischen und der österreichischen – geprägt zu sein scheint, in dem Widersprüche zwischen verschiedenen sozialen Klassen ein und derselben „Kultur“ oder zwischen Individuen und „ihrer“ Kultur keinen Platz haben – und in dem Subjekte so sehr mit „ihrer“ Kultur identifiziert werden, dass sie als Subjekte im Diskurs zu existieren aufhören.

Islam als Natureigenschaft

Identitätspolitisches Denken dieser Art, das heute nicht bloß den linken und den neuen rechten, sondern die Gesamtheit gesellschaftlicher, politischer und kultureller Diskurse zu beherrschen scheint, zeigt sich auch und gerade in der Rolle, die in aktuellen Debatten dem Islam zukommt.

Dass Menschen aus Ländern oder Regionen wie der Türkei, dem arabischen Raum oder Nordafrika in allererster Linie als Muslime wahrgenommen werden - mehr noch: als Repräsentanten des Islam, respektive der „islamischen Kultur“, ist ein relativ neues Phänomen. Ältere linke Freunde von mir, die sich während des algerischen Unabhängigkeitskrieges 1954 bis 1962 mit der algerischen Befreiungsbewegung solidarisierten, berichten etwa, dass ihnen die Tatsache, dass die Mehrheit der Algerier bekennende Muslime waren, damals mehr als irrelevant erschien. Noch in den 1990er Jahren behauptete – um ein anderes Beispiel zu nennen – der Diskurs der Rassisten in Deutschland und in Österreich, die Türken würden „uns“ deshalb Probleme bereiten, weil sie eben Türken seien. Seit dem Erstarken des sogenannten politischen Islam, vor allem seit den Anschlägen von Nine Eleven behaupten die Vertreter des neuen rassistischen Diskurses, die Türken (die Araber, die Nordafrikaner ...) würden „uns“ Probleme bereiten – weil sie Muslime seien. Der Islam gilt diesem Diskurs nicht mehr bloß als Glaubensbekenntnis, zu dem sich jemand bekennen mag oder auch nicht, sondern als eine Art Natureigenschaft von Türken, Arabern oder Iranern – mit welcher diese „voll identifiziert“ werden.

Paradoxerweise bleiben aber auch die – wohlwollenden und weltoffenen – linken und liberalen Gegner des neuen Rassismus, statt die falsche, weil fixe Verknüpfung zwischen einem Glaubensbekenntnis und bestimmten Gesellschaften oder Individuen zu benennen und zu dekonstruieren, bei den Identitätsvorgaben der Rassisten: Wer nicht müde wird, „Islamophobie“ oder „Islamfeindschaft“ als rassistisch zu bezeichnen (oder den neuen Rassismus als „antimuslimisch“ zu etikettieren), erklärt den Islam, ohne es zu bemerken, zu einer „rassischen“, quasi genetischen Eigenschaft von Arabern, Türken oder Iranern. Und reproduziert, statt sie zu bekämpfen, die rassistische Ideologie der „vollen Identität“ zwischen bestimmten Individuen und der imaginären Kategorie Islam – imaginär, weil es sich hier um Glaubensvorstellungen handelt.

An dieser Stelle würde Biskamp einwenden – und diesem Einwand bin ich auch in anderen Diskussionen oft begegnet –, dass sich die Rede von „Islamophobie“ oder von „antimuslimischem Rassismus“ auf den Diskurs der neuen Rassisten bezöge. Dass also das Wortteil „Islam“ in Islamophobie und das Wortteil „muslimisch“ in „antimuslimisch“ nicht auf eine real existierende Gruppe sondern eben auf die Rede der Rassisten verwiesen. Nehmen wir an, es wäre so. Dann wäre es dennoch falsch, beim Reden über den neuen rassistischen Diskurs stets bei den Identitätsvorgaben der Rassisten zu bleiben – statt ihre identitären Begriffe zu dekonstruieren.

Wir würden allerdings einem gründlichen Missverständnis aufsitzen, wenn wir Begriffe wie „Islamophobie“, „antimuslimischer Rassismus“ oder „Islamfeindschaft“ ausschließlich – oder auch nur in erster Linie – vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen linker Antirassisten mit den neuen Rassisten verorteten. Und dabei den Zusammenhang zwischen „Islamophobie“, „antimuslimischer Rassismus“ etc. und jenen kulturalistischen und identitätspolitischen Prämissen übersehen, die den linken Diskurs – abseits und unabhängig von Debatten mit FPÖ, AfD und Co. – seit Jahren dominieren.

Die erste Kaisermühlnerin in der Bundesregierung

Dass die auf identitätspolitisches Denken gründende volle Identifizierung von Gesellschaften und Subjekten mit dem Islam keineswegs auf einen Abwehrreflex gegen den Diskurs der neuen Rassisten reduziert werden kann, wie Biskamp suggeriert, ließe sich an zahllosen Beispielen zeigen.

- An Muna Duzdar etwa – Staatssekretärin in der österreichischen Bundesregierung mit palästinensischem „Migrationshintergrund“ und laut Selbstdefinition „nicht praktizierende Muslima“. Muna Duzdar wird regelmäßig – auch in linksliberalen Qualitätsmedien wie dem STANDARD – auf ihr tatsächliches oder vermeintliches „Muslimsein“ reduziert und mit diesem ihrem tatsächlichen oder vermeintlichen „Muslimsein“ voll identifiziert.

„STANDARD: Sie sind das erste Regierungsmitglied mit muslimischem Glauben [..].“

Duzdar: Es ist richtig, dass ich einen muslimischen Background habe, aber warum muss ich darüber definiert werden? Ich bin nicht deswegen Staatssekretärin. Genauso [...] bin ich auch die erste Kaisermühlnerin14 in der Bundesregierung. Beides ist bemerkenswert, aber es ist nicht die Hauptsache“.15

Als Staatssekretärin ist Duzdar u.a. für Beamte und für Digitalisierung zuständig – das scheint aber kaum jemanden zu interessieren, auch den linksliberalen STANDARD nicht. In Berichten über sie oder in Interviews mit ihr geht es denn auch fast ausschließlich um den Islam – oder genauer: um Integration, Migration, Terror. Als tatsächliche oder vermeintliche, aus „dem Orient“ stammende Muslima, repräsentiert Duzdar in allererster Linie den Islam, und dann lange nichts. Das ist – auch von Liberalen und Linken kultivierter – Kulturalismus in Reinkultur, der mit jenem „äußeren Dilemma“, das Biskamp in Stellung bringt, in keinem Zusammenhang steht.

- Oder: Das Buch „Der Islam braucht eine sexuelle Revolution“16 der mutigen deutsch-türkischen Feministin Seyran Ates – auch sie würde sich wohl eher dem linken bzw. linksliberalen Spektrum zuordnen. Ein Buch, das der Sehnsucht vieler junger Menschen in islamisch geprägten Gesellschaften nach all dem, was sie mit dem Begriff „sexuelle Revolution“ in Verbindung bringen, eine Stimme verleiht. „Der Islam braucht eine sexuelle Revolution“ beruft sich auf das Werk „Die sexuelle Revolution“ des Freud-Schülers und Psychoanalyse-Kritikers Wilhelm Reich. Für Reich und für Freud lagen die Ursachen für das von ihnen kritisierte sexuelle Elend in gesellschaftlich bedingten psychischen Faktoren. Der Religion schrieben sie in diesem Zusammenhang die Rolle eines gewichtigen krankmachenden Faktors zu. Weit davon entfernt diesen Faktor reformieren oder „revolutionieren“ zu wollen, lehnten sie Religion in jeder Form ab. Der Gedanke an eine sexuelle Revolution „im Christentum“ wäre ihnen mehr als absurd vorgekommen. Wenn nun Ates – im Unterschied zu Reich und zu Freud – nicht für eine sexuelle Revolution in Gesellschaften mit islamischer Bevölkerungsmehrheit plädiert, sondern ausdrücklich für eine Revolution im Islam, verneint sie implizit die Möglichkeit, dass in jenen Gesellschaften außerhalb der Sphäre des Islam so etwas wie „Gesellschaft“ überhaupt existiert. Zwischen Gesellschaften mit islamischer Bevölkerungsmehrheit und dem Islam besteht für Ates offenbar volle Identität. Als existierte „dort“ nichts außerhalb der Sphäre des Islam – nicht einmal auf begrifflicher Ebene. Und: Auch Ates bezieht diese ihre Position wohl eher nicht in Reaktion auf den Diskurs von Rassisten der Marke FPÖ, AfD etc.

Der Logik der vollen Identifizierung von islamisch geprägten Gesellschaften mit dem Islam, die uns hier begegnet, entspricht übrigens auch jener - nicht nur - in linken und liberalen Debatten des Westens weit verbreitete unausgesprochene Ansatz, islamisch geprägte Gesellschaften könnten einzig und allein über eine Erneuerung des Islam den Weg zu einer modernen, demokratischen Gesellschaft finden. Und nicht etwa durch eine Säkularisierung jener Gesellschaften, die der Religion von außen den Platz zuweist, der ihr in einer modernen, säkularen Demokratie zukommen sollte.

Laizismus als Unterabteilung des Islam

Um diese Beispielreihe – die sich beliebig fortsetzen ließe – abzuschließen: Ich war unlängst Gast bei einem linken Lesezirkel in einer österreichischen Provinzstadt. Als die Runde auf das Thema „verschiedene Varianten des Islam“ zu sprechen kam, führte ein Teilnehmer als Beleg für die Existenz eben dieses Variantenreichtums im Islam wörtlich „die laizistische Türkei“ an. Die türkische Gesellschaft, respektive der türkische Staat stellt für jenen Diskussionsteilnehmer also offenbar eine Unterabteilung des Islam dar – auch wenn er sie selbst (zu Recht oder zu Unrecht – Stichwort: Erdogan) als laizistisch bezeichnet (als laizistisch gelten auf die strenge Trennung von Staat und Religion gründende Staatsmodelle).
Nun könnte man einwenden, dass unser linker Diskussionsteilnehmer das Thema „Variantenreichtum im Islam“ – also die Formel „Den Islam gibt es nicht“ – in Reaktion auf den Diskurs der neuen Rassisten in Stellung gebracht habe, so dass wir einen Zusammenhang zu dem von Biskamp geschilderten Dilemma herstellen könnten. Dass unser Diskutant aber gar nicht mehr vom Islam redet, sondern die türkische Gesellschaft mit dem Islam identifiziert, ist aus jenem Dilemma allerdings nicht abzuleiten.

Auch hier zeigt sich, dass die für den Islam-Diskurs der Linken (der Liberalen, der Rechten, der Grünen, der Konservativen ...) typische kulturalistische Ideologie der vollen Identifizierung keineswegs aus jenem von Biskamp geschilderten „äußeren Dilemma“ resultiert.
Umgekehrt könnte uns aber die Analyse linker identitätspolitischer Positionen zu verstehen helfen, wie es kommt, dass viele Linke glauben, ihr (kritisches) Reden über den Islam könnte die Position der Rassisten stärken: Wer, wie jener Diskurssteilnehmer, ganze Gesellschaften mit islamischer Bevölkerungsmehrheit – d.h. alle vermeintlichen oder auch tatsächlichen Muslime aus jenen Ländern und Regionen – voll mit dem Islam identifiziert, geht ja unausgesprochen davon aus, dass Menschen mit ihrer (vermeintlichen oder tatsächlichen) Religion „vollkommen eins“ sind. Dass der Islam also nicht bloß ein Glaubensbekenntnis darstellt, sondern das „Sein“ dieser Subjekte ausmacht. Dann allerdings ist es nur konsequent, Kritik an der islamischen Glaubenslehre oder Glaubenspraxis – oder gar deren Ablehnung – als rassistisch zu empfinden. Und anzunehmen, sie könnte die FPÖ, AfD und Co. im politischen Kampf stärken.

Hier könnte allerdings ein fatales Missverständnis vorliegen. Die Grüne Akademie eines österreichischen Bundeslandes hatte mich eingeladen, einen Vortrag unter dem Titel „Warum wir über den Islam nicht reden können“ zu halten. Der Vortrag fand drei Tage nach den österreichischen Parlamentswahlen am 15. Oktober 2017 statt. Wie mir berichtet wurde, hatte es ein Vertreter der Grünen Landesparteileitung der Grünen Akademie untersagt, die Veranstaltung vor dem Wahlsonntag zu bewerben. Es wurden keine Plakate gedruckt, vor dem Wahlsonntag fehlte auch im Internet jeder Hinweis auf die Veranstaltung. Der Vertreter der Landesparteileitung, der über den Inhalt des Vortrags nichts wusste, hatte einfach nur Angst, dass die Öffentlichkeit unmittelbar vor den Wahlen die Grünen mit dem Begriff „Islam“ in Verbindung bringen könnte.

Politische Beobachter gehen davon aus, dass die Angst der Grünen, am Thema „Islam“ auch nur anzustreifen – der Begriff Tabu-Angst drängt sich hier unabweislich auf –, nicht unwesentlich dazu beigetragen hat, dass sie heute nicht mehr im österreichischen Parlament vertreten sind.17

In den folgenden Beiträgen wird es unter anderem um die These gehen, dass im Diskurs der neuen Rassisten das Reden über den „Islam“ das Reden über „die Türken“ ersetzt hat – eine These, die Biskamp gründlich missversteht. Und darum, dass er jene Phänomene, die er im Blick hat, wenn er von „antimuslimischem Rassismus“ spricht, zwar zu Recht rassistisch nennt. Dass er aber von dieser spezifischen Form des Rassismus keinen Begriff hat, weil er (hier jedenfalls) die Frage, inwiefern es sich bei den Positionen von FPÖ. AfD und Co. „in Sachen Islam “ um Rassismus handelt – und nicht etwa um religiösen Hass oder um Religionskritik – gar nicht stellt.

wird fortgesetzt



 1 Sama Maani,  Warum wir über den Islam nicht reden können. In: ders., Respektverweigerung: Warum wir fremde Kulturen nicht respektieren sollten. Und die eigene auch nicht, Klagenfurt 2015, S. 7

2 Floris Biskamp, Misstraut Euch! Warum Sama Maani es der linken „Islamkritik“ zu einfach macht.


3 Biskamp bezieht sich auf den linken und den liberalen Diskurs – mein Fokus liegt im folgenden, nicht zuletzt aus Platzgründen, vor allem auf dem Denken und Reden der Linken über den Islam.

4 Die hier beschriebene Position vieler iranischer Linker erinnert an die
alte, in linken Debatten immer wieder reproduzierte Rede vom „Hauptwiderspruch“ – i.e. der Klassengesellschaft (wobei der Kampf gegen den „Imperialismus“ in den Debatten jener Tage den Klassenkampf in den Hintergrund gedrängt haben mag) – und vom „Nebenwiderspruch“, etwa der Frauenunterdrückung. Tatsächlich mischten sich im Diskurs jener Linken, die vom „antiimperialistischen Bündnis“ mit Khomeini träumten, klassische linke Positionen mit neuen islamisch-identitätspolitischen. Besonders augenscheinlich zeigte sich dies in der Ideologie der Volksmujahedin, die sich als „islamische Marxisten“ verstanden, aber auch in den Positionen der moskautreuen Tudehpartei. Beide Gruppen wurden in weiterer Folge von den neuen islamischen Machthabern kaltgestellt.

5 Eric Lee, Marx steht auf dem Kopf, Jungle World, 27. August 2009

6 Slavoj Zizek, Auf verlorenem Posten, Frankfurt am Main 2008, S. 87 f

7 Sami Alkayial, Der Krieg in Syrien und die Krise linker Traditionen.


8 Um Missverständnisse zu vermeiden: Die „alten“ Positionen der Klassentheorie sollen hier keineswegs idealisiert werden. Auch an ihnen gäbe es einiges zu kritisieren. Darum geht es hier aber nicht.

9 Sami Alkayial, Der Krieg in Syrien und die Krise linker Traditionen.


10 Vgl. Sama Maani, „Obama ist nicht schwarz“: Die Krux mit der Identitätspolitik. Der Standard, 27. Februar 2017 



12 Marcus Latton, Jedem Stamm seine Bräuche, Jungle World, 1. September 2016 


13 https://www.fischundfleisch.com/gabriele-szekatsch/die-welt-des-norbert-hofer-und-wie-er-oesterreich-so-in-ordnung-saehe-28163

14 Kaisermühlen ist ein Stadtteil Wiens im 22. Wiener Gemeindebezirk.


16 Seyran Ates, Der Islam braucht eine sexuelle Revolution, Berlin 2009

17 Es ist selbstverständlich nicht ausgemacht, dass eine „richtige“ Positionierung in diesen und anderen Fragen den Grünen in jedem Fall mehr Stimmen gebracht hätte.

Keine Kommentare: