Freitag, 9. Dezember 2011

„Geben Sie mir eine Katze“ - von Vladimir Vertlib

Auschwitz, die Wannsee-Konferenz, Warschau, Stalingrad, Dresden oder Hiroshima stehen im kollektiven Bewusstsein für Rassenwahn, Massenmord, Zerstörung und das Grauen des Krieges. Aber Leningrad? Was sollte dort gewesen sein?

Der folgende Artikel meines Freundes, des Schriftstellers Vladimir Vertlib, beschäftigt sich mit der blutigsten Stadtbelagerung der Geschichte.

Es muss fast auf den Tag genau vor 70 Jahren gewesen sein, als eine junge Frau meinen Großeltern erzählt hat, dass ihr Sohn im Sterben liege. Meine Großeltern könnten ihm aber vielleicht das Leben retten, sagte sie, denn sie habe gehört, sie besäßen noch eine Katze. Alle anderen Bewohner der Stadt hätten ihre Hunde und Katzen schon aufgegessen. „Geben Sie mir die Katze, damit mein Sohn nicht verhungert“, bat die Frau. „Die Katze ist seine letzte Chance.“ Der Sohn der jungen Frau war ein Mitschüler meines Onkels. Mein Onkel war damals zehn, seine kleine Schwester – meine Mutter - knapp vier Jahre alt.
Meine Großmutter wollte die Katze nicht hergeben, drängte die Frau aus der Wohnung und schlug die Tür zu. „Doch sie ging nicht weg“, erzählte mir meine Mutter Jahrzehnte später, „sondern kniete draußen im Korridor vor unserer Wohnungstür und heulte und bettelte so lange, bis sich deine Großmutter schließlich doch bereit erklärte, ihr die Katze zu schenken.“ Meine Mutter erinnert sich noch, wie die Katze sich zu verstecken versuchte, so, als wüsste sie, was ihr bevorstand, und wie man ihr nachjagte, wie man sie einfing und in einen Polsterüberzug steckte. Das Kind überlebte. Es ist seltsam, dass mich von allen Blockadegeschichten, die mir meine Eltern erzählt haben, gerade diese besonders erschüttert hat. Vielleicht war das Grauen der anderen Szenen zu unmittelbar, die Dimension zu groß, um sie als Nachgeborener, der die Zeit nicht selbst erlebt hat, emotionell fassen zu können.
Die nüchternen Fakten: Im September 1941 wurden die Stadt Leningrad (heute wieder St. Petersburg) und einige umliegende Dörfer von der deutschen Wehrmacht im Süden und der finnischen Armee im Norden umzingelt und konnten fortan nur über den Ladoga-See mit Schiffen – im Winter, wenn der See zugefroren war, auch mit Lkw – notdürftig versorgt werden. Erst im Jänner 1943 wurde der Blockadering an einer Stelle durch die Rote Armee gebrochen. Die Belagerung der Stadt durch die Wehrmacht dauerte jedoch noch ein weiteres Jahr an. Nach neuesten Schätzungen verhungerten oder starben damals an den Folgen der Unterernährung etwa 750.000 Leningrader Zivilisten, ein Drittel der Bevölkerung, die meisten davon zwischen Dezember 1941 und Mai 1942. Ungefähr 17.000 kamen durch Fliegerangriffe und den permanenten Artilleriebeschuss ums Leben. Hunderttausende Soldaten der Roten Armee wurden bei der Verteidigung der Stadt getötet. Damit gilt die Leningrader Blockade als die wahrscheinlich blutigste Belagerung einer Stadt überhaupt.
Viele Menschen, vor allem Kinder, wurden 1942 über den Ladoga-See aus der Stadt gebracht. So auch meine Eltern und Großeltern. Durch eine Verkettung glücklicher Zufälle hatten sie die schlimmsten Hungermonate überlebt, mussten aber fortan unter den Traumata der Belagerung und den Folgen des Hungers leiden – Folgewirkungen, die in der Sowjetunion gar nicht oder nur mangelhaft aufgearbeitet werden konnten.

Bombardierung und Abriegelung

Hitler hatte geplant, Leningrad dem Erdboden gleichzumachen und seine Einwohner zu vertreiben oder zu liquidieren. Nachdem die Einnahme der ehemaligen russischen Hauptstadt im Herbst 1941 gescheitert war, beschränkte sich die deutsche Armee hauptsächlich auf die Bombardierung und hermetische Abriegelung der Region. Das „logistische Problem mit der Zivilbevölkerung“ würde sich dadurch von selbst lösen. „In Anbetracht des Kräfteverbrauchs von Leningrad wird die Lage bis auf Weiteres gespannt bleiben, bis der Hunger als Bundesgenosse wirksam wird“, schrieb der Chef des deutschen Generalstabs des Heeres, Generaloberst Franz Halder. Übergabeangebote nach der Einkreisung der Stadt seien abzulehnen, lautete der Befehl. Auf diese Weise werde „ein großer Teil der Bevölkerung zugrunde gehen“, meinte Generalfeldmarschall von Brauchitsch, „aber doch wenigstens nicht unmittelbar vor unseren Augen“.
Nach dem Krieg wurde die Blockade von der sowjetischen Propaganda zur „heldenhaften Abwehrschlacht“ der Bevölkerung von Leningrad gegen den faschistischen Aggressor stilisiert. Die wenig heroischen Seiten wurden dabei verschwiegen: die Inkompetenz der sowjetischen Führung, deren falsche Entscheidungen das Einkreisen der Stadt erst ermöglicht hatten, das Chaos der ersten Kriegsmonate, die Ungerechtigkeiten bei der Zuteilung von Lebensmitteln, Diebstahl, Mord und Kannibalismus und vor allem der permanente Terror gegen vermeintliche „Volksfeinde“, der in der belagerten Stadt sogar noch intensiviert wurde.
Die Verlogenheit der sowjetischen Historiografie war wenig überraschend. Was meine Eltern hingegen verblüffte, nachdem sie die Sowjetunion verlassen hatten, war das völlige Unwissen, das in Österreich über die Blockade, über ihre Täter und Opfer, die Initiatoren und den Ausgang herrschte. Auschwitz, die Wannsee-Konferenz, Warschau, Stalingrad, Dresden oder Hiroshima stehen im kollektiven Bewusstsein für Rassenwahn, Massenmord, Zerstörung und das Grauen des Krieges. Aber Leningrad? Was sollte dort gewesen sein? Allenfalls brachten einige Menschen diese Stadt mit der Oktoberrevolution in Verbindung. Und wo waren die ehemaligen Angehörigen der Wehrmacht, die selbst an der Belagerung teilgenommen hatten? Sie schwiegen wahrscheinlich noch verbissener als alle anderen.
Auch in anderen Ländern, in Deutschland, Großbritannien oder in den USA, wussten eigentlich nur Experten über die Leningrader Blockade Bescheid. Es gab spannendere und wichtigere Themen als ein paar hunderttausend verhungerte russische Zivilisten. War deren Schicksal nicht einfach „nur“ eine tragische Folge des Frontverlaufs? Erst in den letzten Jahren ist das Interesse an dieser „Episode“ des Krieges gestiegen. Neben Fernseh- und Radiosendungen ist auch außerhalb Russlands eine Reihe von Büchern über die Blockade erschienen. Das mit Abstand beste davon hat nun die renommierte britische Historikerin und Journalistin Anna Reid geschrieben. Der englische Originaltitel, „Leningrad. Tragedy of a City under Siege, 1941–44“, ist weniger griffig, wird aber dem Inhalt und dem Ton des umfassenden Berichts sehr viel besser gerecht als der Titel der deutschen Ausgabe, „Blokada“. Der Originaltitel steht in seiner Mischung aus Anschaulichkeit und historischer Seriosität, Einfühlsamkeit und Sachlichkeit in guter Tradition der angelsächsischen Geschichtsschreibung.
Reid setzt einen klaren Schwerpunkt: Sie beleuchtet hauptsächlich die Ereignisse auf der russischen Seite der Front. Auch wenn an einigen Stellen die Aktionen der deutschen Wehrmacht, die zynischen Überlegungen der Generäle und manche Kommentare einfacher Soldaten wiedergegeben werden, so sind es vor allem russische Archive, die Reid durchforstet hat, russische Zeitzeugen, die sie zu Wort kommen lässt. Dabei stand ihr das umfangreiche, in Sowjetzeiten unter Verschluss gehaltene Material zur Verfügung, zum Beispiel die Protokolle der Gespräche Stalins mit seinen Generälen (darunter viele hysterische Meldungen und widersprüchliche Befehle) oder die peinlichen Auftritte von Parteibonzen, insbesondere jene von Andrej Schdanow, dem Leiter der Leningrader Parteiorganisation, der in seiner „tragikomischen Amtszeit Schostakowitsch auf dem Klavier politisch korrekte Melodien vorklimperte“. Vor allem, so Reid, „betätigte er sich als Massenmörder“, war er doch für die Leningrader Säuberungen von 1937 bis '39 zuständig gewesen.
Als die Sowjetunion 1941 von Hitlerdeutschland angegriffen wird, hat das Land gerade die furchtbarsten Zeiten politischen Terrors hinter sich. Kaum eine Familie, die nicht einen Angehörigen unter den Hingerichteten oder im Lager hat. Olga Berggolz etwa, die während der Blockade durch ihre Gedichte, die im Rundfunk gesendet werden und den Menschen viel Kraft zum Durchhalten geben, berühmt wird. Sie hat ihren Mann verloren. Er ist 1938 exekutiert worden. Ihr selbst wurde „im Gefängnis am Liteiny-Prospekt in den Bauch getreten, bis sie eine Fehlgeburt erlitt“. Danach ist sie freigelassen und rehabilitiert worden. Ihr zweiter Mann verhungert während der Blockade. Ihr Vater wird aufgrund seiner deutschen Herkunft nach Sibirien deportiert.
Zu den Zigtausenden Leningradern, die in den ersten Kriegsmonaten vom NKWD als „sozial fremde Elemente“ verhaftet werden, gehört auch der exzentrische Autor Daniil Charms, der heute als Klassiker der Avantgarde gilt. Er stirbt während der Blockade im Gefängnis. Warum wurde gerade er festgenommen? „Vielleicht nur deshalb“, heißt es, „weil er einen komischen Hut trug.“
Einige Gegner des Regimes halten die Deutschen für „Befreier“. Diese Illusion wird rasch zerstört. Flüchtlinge aus den besetzten Gebieten erzählen von Demütigungen, Misshandlungen und Massenerschießungen. Am 22.Juni 1941, in den ersten 24 Kriegsstunden, melden sich rund 100.000 Leningrader freiwillig zur Armee, „lange bevor die Bürokratie sie einberufen konnte“. Die Katastrophe können sie allerdings nicht abwenden.

Mit Zellulose aus Fichtenspänen

Wenige Monate später sind die meisten von ihnen tot oder in Gefangenschaft, und die Essensration für Kinder (wie damals meine Eltern), nicht berufstätige Erwachsene und Büroangestellte beträgt in Leningrad seit dem 20. November 125 Gramm Brot am Tag – drei dünne Scheiben, die neben Mehl auch Leinsamen und hydrolisierte Zellulose aus Fichtenspänen enthalten. Arbeiter und Soldaten erhalten etwas mehr. Es ist der Beginn der schlimmsten Hungerzeit, ein „Sturz in den Trichter“, wie sich der russische Historiker Sergej Jarow ausdrückt.
Für Anna Reid war die Stadt damals „ein an Goya gemahnendes Schlachtfeld“, in dem die meisten Errungenschaften der Zivilisation untergegangen waren. „Gebäude brannten tagelang, ohne dass sich jemand um sie kümmerte, ausgezehrte Leichen lagen verstreut auf den Straßen“, berichtet Reid. Wer keine guten Beziehungen oder keine Wertsachen besaß, die er gegen Lebensmittel tauschen konnte, hatte kaum eine Chance zu überleben. Nur die Parteisekretäre, Direktoren und Geheimdienstleute brauchten nicht zu hungern. „Speisen waren in der Sowjetunion stets ein Mittel zur Nötigung und zur Belohnung der Bevölkerung gewesen“, schreibt Reid. Führungskräfte erhielten in der „klassenlosen Gesellschaft“ sogar ganz offiziell höhere Lebensmittelzuteilungen.
Die eindrücklichsten und berührendsten Passagen in Reids Buch sind die vielen Zitate aus Interviews, Tagebüchern oder Erinnerungen, die die Autorin mit Bedacht ausgewählt, zu einem plastischen Kaleidoskop zusammengefügt und manchmal auch kritisch kommentiert hat. Wer das Buch gelesen hat, wird eine Ahnung davon bekommen, wie es damals wirklich gewesen ist.

Anna Reid: Blokada

Die Belagerung von Leningrad, 1941 bis 1944. Aus dem Englischen von Bernd Rullkötter. 560S., geb., €35 (Berlin Verlag, Berlin)

Copyright: Vladimir Vertlib

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