Dienstag, 8. April 2014

Warum uns Psychotherapie nicht weiterhilft – Plädoyer für Psychoanalyse (5)



Hier sollten wir einen Moment lang innehalten, und uns fragen, woher wir (und die Theoretikerin und der Rest der Intervisionsgruppe) überhaupt wissen, daß es sich beim „Zeitproblem“ der Analysandin A um Übertragung handelt?

Folgt man Freuds Rede von der falschen Verknüpfung, kann Übertragung die Übertragung einer (unbewußten) Vorstellung von einem ursprünglichen, „richtigen“ Ort auf einen neuen, „falschen“ bedeuten [1]. Klassischerweise von der Ursprungsfamilie auf die analytische Behandlungssituation.

Als „falsch“ gilt diese Verknüpfung deshalb, weil Eigenschaften, die zu einem ursprünglichen, „richtigen“ Ort oder Objekt gehören, „fälschlich“ mit einem anderen, neuen Ort oder Objekt verknüpft werden. Der Analytiker wird nicht in der Weise wahrgenommen, „wie er wirklich ist“, sondern die Analysandin assoziiert mit ihm (unbewußt) Vorstellungen, die sie ursprünglich mit Mutter/ Vater/Schwester etc. assoziierte.

Weiter oben haben wir aber gesehen, daß das „Zeitproblem“ jener Analysandin A auch das Problem ihres Analytikers ist. Indem es nämlich - in einer sehr spezifischen Sinn - seine Arbeit stört.

Psychoanalyse kann also – und muß – auch als Arbeit verstanden werden. Als Ort der Behandlung ist sie zugleich Arbeitsplatz: Für den Analytiker, aber auch - und in gewisser Weise vielleicht noch mehr - für die Analysandin.

Was könnte die Idee der Psychoanalyse als Arbeit(spaltz) für unsere Überlegungen zur Übertragung im Allgemeinen - und im Besonderen für die Frage, ob es sich beim Zeitproblem unserer Analysandin um Übertragung handeln mag, bedeuten?

Daß die Übertragung des „Zeitproblems“ von seinem mutmaßlich ursprünglichen Schauplatz Familie auf den neuen Schauplatz der Analyse eine spezielle Variante der Übertragung (von Vorstellungen, Gefühlsreaktionen, Beziehungsmustern,  Verhaltensweisen etc.) von der Familie auf den Arbeitsplatz darstellt?

Daß es so etwas wie Übertragung von der Familie auf den Arbeitsplatz gibt, gehört heute zu den psychoanalytischen Gemeinplätzen, derer wir uns im Alltagsleben bedienen, um uns über dessen (tatsächliche oder vermeintliche) Psychopathologie zu verständigen: „Ich habe einen Vaterkomplex – der läßt mich immer wieder mit meinem Chef zusammenkrachen.“

Wobei natürlich die Figur des autoritär-patriarchalen – analytisch gesprochen ödipalen - Chefs, sollten sie je existiert haben, längst der Vergangenheit angehört.

Der typische, „postmoderne“ Chef von heute ist nicht die erhabene Vaterfigur, an der Spitze der Firmenhierarchie, nicht einmal der große Bruder – sondern jemand wie der, von Slavoj Zizek als „Small Brother“ bezeichnete, Bill Gates. Der nette Kumpel von nebenan, mit dem man, oder auch frau, gern auf ein Bier geht. Und über den man sich, ob seiner Nettigkeit, Kumpelhaftigkeit, Lässigkeit und nicht-autoritären Haltung nicht einmal ärgern kann, ja darf - geschweige denn, daß man mit ihm streitet, oder gar mit ihm zusammenkracht. Es sei denn im Rahmen oder in Gefolge eines Seminars zur Pflege von „Konfliktkultur“.

Was wir über die Nettigkeit, Kumpelhaftigkeit und die nicht-autoritäre Haltung eines Chefs, über den man sich nicht einmal ärgern darf, geschweige denn, daß man mit ihm zusammenkracht, gesagt haben, war ein Zitat – so oder ähnlich hat einmal Analysandin A ihren neuen Chef in der Analyse beschrieben.

wird fortgesetzt

[1] Dies entspricht übrigens einer möglichen Definition von Metapher, dem Substantiv zu μεταφέρειν (metaphérein): übertragen.

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