Donnerstag, 16. April 2020

"Exekution ist keine Kunst!" (5)

Johann Peter Eckermann – Wikipedia
Johann Peter Eckermann
Üppiges Leben 

In scharfem Kontrast zu jenem Selbstverzicht, den Adorno als Voraussetzung des Kunstglücks im Blick hat, steht auch die Rezeptionshaltung der Vertreter der gegenwärtigen „Kultur des Narzissmus“, die Richard Schuberth in seinem aufschlussreichen Buch Narzissmus und Konformität aufs Korn nimmt. Diese empfinden schon den Gedanken, auf ein Kunstwerk zuzugehen, als Zumutung, erwarten vielmehr vom Kunstwerk, dass es auf sie zukomme, um sie genau dort abzuholen, wo sie sich zufällig gerade befinden. Bilder, Filme, Texte oder Musik, die sie nicht „verstehen“, erleben sie als narzisstische Kränkung. 

„Eine Frage der Zeit nur“, so Schuberth, „bis die seelische Kränkung, die durch das Unverständnis eines Textes erfahren wird und eben nichts anderes als eine narzisstische ist, klagbar wird und sprachliche Brillanz als sozial schädliches Verhalten gerichtliche Verfolgung oder Zwangstherapie nach sich zieht.“37 

Auch der von Verlagslektoren, Zeitungsredakteuren, Radio- und Fernsehjournalisten regelmäßig an die Adresse von Autoren gerichtete Appell, „dass man sich bitte so ausdrücken sollte, dass es einfache Menschen auch verstünden“, fällt in die Kategorie „gekränkter Narzissmus“, lässt er doch „reale Halbbildung eine fiktive Unbildung missbrauchen, um fiktive Eliten zu düpieren. Am schlimmsten gebärden sich jene selbsternannten Volkstribunen, welche die imaginäre Demarkationslinie zwischen dem, was alle verstehen, und dem, was sie gerade nicht mehr verstehen, gegen vermeintliche Bildungsarroganz verteidigen und ihren eigenen permanent gekränkten Narzissmus als Volonté générale behaupten. Der einfache Mann von der Straße, dem sie sich als Mediatoren zwischen bodenständig und abgehoben ja doch überlegen wähnen, dient ihnen als Ausrede, um ihre eigene Denk- und Sprachfaulheit zu monopolisieren gegen die geistige Filiale eines numinosen Die da oben.“ 38 

*

Die Rede war von Adornos Plädoyer, auf den Anspruch, vom Kunstwerk „etwas haben zu wollen“, zu verzichten – Askese als Bedingung der Möglichkeit einer geglückten Kunstrezeption. „Askese“ sollten wir hier aber nicht undialektisch und ergo allzu wörtlich auffassen. Stellt doch die asketische Rezeptionshaltung, die Adorno hier im Blick hat, die Voraussetzung für jenes – letztlich „anasketische“ – Glück dar, für jenen Genuss, den das Kunstwerk dem Subjekt immer dann zu schenken vermag, wenn dieses bereit ist, sich seinerseits dem Kunstwerk zu schenken.

Dass es falsch wäre, diese Askese im Dienste des Kunstglücks mit einer asketischen Haltung im „Diesseits des Leben“ zu verwechseln, zeigt Adornos bereits zitiertes Plädoyer für das üppige Leben („Umgekehrt wäre es besser“), das er jenen entgegenschleudert, die sich „die Kunst üppig und das Leben asketisch“ wünschen.

Üppiges Leben. Das schöne Wort wirft uns unversehens auf den von Freud – und Goethe – geäußerten Verdacht von dessen (Beinahe-)Unmöglichkeit zurück. Auf die Befürchtung, dass „unsere Glücksmöglichkeiten schon durch unsere Konstitution beschränkt“ sind. Und auf die Hypothese, dass, so gesehen, der „Kultur“, insbesondere auch der Kunst, die Rolle einer Glückspädagogin zukommt. So schließt sich der Kreis, und wir können von hier aus die Beziehung zwischen dem Glück in der Kunst und jenem im Alltag noch einmal in den Blick nehmen und uns fragen: Lassen sich unsere Überlegungen zum Kunstglück auch mit der Sphäre diesseits der Kunst in Beziehung setzten? Genauer: Kann uns – über das Glück, das uns Kunst als Kunst zuteil werden lassen kann hinaus – das Verständnis der beschriebenen Voraussetzungen des Kunstglücks helfen, auch im Alltag glücklich(er) zu sein? 

Der Mensch als Schauspieler 

In Montesquieus Briefroman Persische Briefe, einem Schlüsseltext der Aufklärung, halten zwei fiktive Bewohner der persischen Stadt Isphahan, die nach Frankreich reisen, ihren französischen Zeitgenossen einen fremden, satirisch-kulturkritischen Spiegel vor. Im 18. Kapitel des Romans

„findet sich eine wunderbare Schilderung, wie der Held des Buches [eigentlich einer der beiden Helden, Anm. von mir] eines Abends in die Comédie Francaise spaziert und nicht unterscheiden kann, wer eigentlich auf der Bühne steht, und wer zuschaut. Alles stolziert herum, posiert, läßt es sich wohl sein. Unterhaltung, spöttische Toleranz und Vergnügen an der Gesellschaft der Freude – diese Stimmungslage war in der Alltagsvorstellung vom Menschen als Schauspieler enthalten.“39 

„Der Mensch als Schauspieler“ ist ein Begriff mit dem Richard Sennett in seinem 1974 publizierten Klassiker Verfall und Ende des öffentlichen Lebens die Öffentlichkeit des Ancien Régimes zu charakterisieren versucht. The Fall of Public Man, so der Originaltitel, beklagt das Absterben der theatralischen Dimension der Öffentlichkeit, die in den urbanen Gesellschaften Europas um 1750 ihren Höhepunkt erreichte, und die – seit dem  bürgerlichen 19. Jahrhundert – zunehmend um sich greifende „Tyrannei der Intimität“.

„Der Schauspieler in der Öffentlichkeit“, schreibt Sennett, „ist derjenige, der Emotionen darstellt. Tatsächlich ist Ausdruck als Darstellung von Emotion ein sehr grundlegendes Prinzip [...] Nehmen wir an, jemand erzählt einem anderen von den Tagen, da sein Vater im Krankhaus gestorben ist. Heute würde die bloße Nacherzählung aller Einzelheiten ausreichen, um beim anderen Mitleid zu wecken. Starke Eindrücke, genau beschrieben, sind für uns identisch mit Ausdruck. Aber man stelle sich eine Situation oder eine Gesellschaft vor, in der die bloße Wiedergabe der Einzelheiten des Leidens für den anderen nichts bedeutet. Der, der diese Augenblicke nacherzählt, müßte sie nicht nur vergegenwärtigen, er müßte sie auch formen, müßte einiges hervorheben, anderes zurückdrängen, müßte seinen Bericht womöglich sogar verfälschen, um ihn in eine Form zu bringen, [...] [die] der Zuhörer mit dem Sterben verbindet. Unter diesen Bedingungen will der Sprecher seinem Zuhörer den Tod in seinen Einzelheiten so darstellen, daß sich das Bild eines mitleiderregenden Ereignisses ergibt. In diesem Sinn ist die Reaktion ‚Mitleid’ losgelöst von dem besonderen Todesfall, um den es geht. Mitleid existiert als unabhängige Emotion, die sich keineswegs mit der Lage, in der man sich befindet, wandelt [Hervorhebungen von mir].“40 

In der öffentlichen Sphäre urbaner europäischer Gesellschaften um 1750 ging es den Menschen Sennett zufolge nicht um den unmittelbaren Ausdruck je eigener „authentischer“ Gefühle. Sondern um die Darstellung allgemein anerkannter Formen. In seiner schockierenden Fremdheit – auch bei der Mitteilung einer derart „existentiellen“ Erfahrung wie die des Todes seines Vater ist es dem Mitteilenden um die richtige Darstellung einer allgemeinen, konventionellen Form zu tun, nicht um den unmittelbaren Ausdruck des eigenen Leids – ist Sennetts Beispiel geeignet, unsere gewohnten, von den Imperativen der „Authentizität“ geprägten, Vorstellungen von Kommunikation radikal zu dekonstruieren.

Mit der Klage über den Verfall dieser Kultur der öffentlichen Darstellung will Sennett freilich nicht der Restauration der gesellschaftlichen und politischen Zustände vor der Französischen Revolution das Wort reden. Er weist vielmehr mit einer beeindruckenden Fülle von Material nach, dass das Ende jener – für das aristokratisch geprägte 18. Jahrhundert – spezifischen Form von Öffentlichkeit mit dem Verfall der öffentlichen Sphäre als solcher einherging. Und der zunehmenden Dominanz des Privaten über das Öffentliche. Eben mit der „Tyrannei der Intimität“, die sich heute, in der Digitalmoderne, massiv verstärkt hat. Zwar sind die Sorgen um den Schutz unserer Privatsphäre angesichts des Umgangs von Facebook, Google, Twitter und Co. mit den Daten ihrer Nutzer berechtigt. Weniger Beachtung schenken wir aber dem – umgekehrt scheinenden – Prozess der Privatisierung von Öffentlichkeit, ihrem zunehmenden Zerfall in private Mikro-Öffentlichkeiten in den sozialen Medien und anderen Internetdiensten, deren Nutzern tendenziell jene Informationen angezeigt werden, die ihren je eigenen, privaten Vorlieben, Interessen, Bedürfnissen und Ansichten entsprechen. Fakten und Positionen, die ihrem „Weltbild“ widersprechen, werden hingegen ausgeblendet. In diesen Filterblasen des Internets – wo die ohnehin schon privatisierte „öffentliche“ Sphäre weiter zurechtgestutzt und der Gesichtskreis von deren Nutzern immer enger wird, werden die an den Mikro-Öffentlichkeiten teilnehmenden Subjekte ihrerseits gleichsam „privatisiert“. 

„Der Iran ist mir wurscht!“ 

Um zu verstehen, was Sennetts Analysen mit der Frage zu tun haben, ob uns das Verständnis jener Strategien des Kunstglücks helfen mag, auch im Alltag glücklicher zu sein, wollen wir uns vor Augen halten, was jene von Adorno zum Erlangen von Kunstglück empfohlene Haltung mit Sennetts Konzept des „Menschen als Schauspieler“ verbindet. In beiden Fällen handelt es sich um dasselbe antinarzisstische Prinzip, das bei Adorno das Subjekt, die Grenzen seines Selbst zu transzendieren auffordert. Während sie den Sennettschen „Menschen als Schauspieler“ verbietet, ihre je eigenen „authentischen“ Gefühle auszudrücken – und ihnen gebietet, sich an gesellschaftsweit gültigen, quasi-objektiven Formen zu orientieren. An rituellen Formen des affektiven Austauschs, denen als Bedingung der Möglichkeit von Gesellschaft eine ähnlich grundlegende Bedeutung zukommen dürfte wie Sprache: Die (fiktive) Ansammlung von Subjekten mit je eigener Privatsprache ergäbe noch keine Gesellschaft.41 

Dass die Kultur der öffentlichen Darstellung nicht notwendigerweise soziale Kälte produziert – wie das Beispiel Sennetts suggerieren mag –, dass, umgekehrt, gerade das heute dominierende narzisstische Gebot der „authentischen“ Kommunikation regelmäßig zu seelischen Verletzungen führt, soll die folgende persönliche Erfahrung demonstrieren.

Vor einigen Jahren diskutierte ich mit einem Sozialwissenschaftler aus meinem linken Bekanntenkreis über Begriffe wie „Islamophobie“ und „antimuslimischer Rassismus“, in denen sich, aus meiner Sicht, die Kategorien Rassismus, religiöser Hass und Religionskritik in falscher und fataler Weise vermischen. Ich wies darauf hin, dass der Diskurs der islamischen Herrscher im Iran diese Begriffe verwendet, um KritikerInnen zu diskreditieren und erwähnte dabei unter anderem auch den Kopftuchzwang. Mein Gesprächspartner reagierte mit dem Satz: „Der Iran ist mir wurscht!“

Diese – ohne Zweifel einem authentischen Impuls geschuldete – Aussage machte mich, auch wenn ich es mir nicht anmerken ließ, sehr betroffen (ich stamme aus dem Iran, habe als Nervenarzt über die Jahre etliche schwer traumatisierte Opfer der islamischen Regimes in Teheran behandelt, habe iranische Freunde, deren Angehörige von den islamischen Machthabern inhaftiert, gefoltert, ermordet wurden usw.) und erstickte die Freundschaft, die sich aus der Begegnung mit einem sympathischen und gebildeten Menschen entwickeln hätte können, im Keim.

In jenen „linken Kreisen“, in denen der Sozialwissenschaftler verkehrt, und in denen auch ich oft verkehre, kräht, aus Gründen, denen wir hier nicht nachgehen werden, seit Jahren kein Hahn mehr nach dem Iran. Davon, dass die Reaktionen in diesem Milieu, wann immer etwa von der katastrophalen Menschenrechtssituation in Saudi-Arabien die Rede ist, ganz andere sind, einmal abgesehen, scheint die Kategorie „Internationale Solidarität“ als solche – einst Grundprinzip von Linken jeder Couleur – heute, in Zeiten des allgemeinen Narzissmus, aus der Mode gekommen zu sein.

Gut möglich, dass auch damals, in den Hochzeiten jener „Zärtlichkeit der Völker“, wie Che Guevara sie nannte, die Solidaritätsbekundungen vieler Linker für unterdrückte Menschen in fernen Ländern hohle Phrasen, ihre Demonstrationen mitunter leere Gesten waren. Aber Phrasen sind niemals ganz hohl, Gesten niemals ganz leer. Einer Unterschrift unter eine Petition kommt nicht weniger Gewicht und reale Wirkkraft zu, wenn die Unterzeichnende im Augenblick des Unterzeichnens jene „Zärtlichkeit“ nicht „wirklich spürt“ und nur deshalb unterschreibt, weil auch ihre Freunde es tun. Das Gleiche gilt – mutatis mutandis – für eine Demonstration. Ein Teilnehmer mehr ist ein Teilnehmer mehr, unabhängig von der Frage, ob er – sollte es sich etwa um eine Demonstration gegen den Kopftuchzwang im Iran handeln – aus „authentischer Begeisterung“ für das Anliegen der Demonstration mitmarschiert oder weil er die hübsche iranische Kommilitonin beeindrucken will.

Jener Sozialwissenschaftler ist offenbar einem momentanen, „authentischen“ Impuls gefolgt. Hätte er eine Sekunde lang innegehalten, hätte er sich – im Sinne der antinarzisstischen Maxime der Kultur der öffentlichen Darstellung – sagen können: „Es gehört sich nicht, einem politisch engagierten Iraner zu sagen: ‚Der Iran ist mir wurscht!’, auch wenn mir das gerade genau so einfällt, und es aufrichtig wäre, es so zu sagen, will ich lieber – dem Prinzip der Internationalen Solidarität gemäß – Anteilnahme bekunden. Auch wenn es nicht meiner momentanen Empfindung entspricht. Wenn ich mich später näher mit dem Iran befasst habe, könnten sich meine Position und auch meine Emotionen in Bezug auf dieses Land ja ändern. Und ich wäre dann froh, dass ich nicht einer momentanen Laune nachgegeben und gesagt habe: ‚Der Iran ist mir wurscht!’“ 

Antinarzissmus 

Das antinarzisstische Moment, das ich in jener Begegnung vermisste, charakterisiert Sennetts Kultur der öffentlichen Darstellung und die von Adorno empfohlene subjektive Haltung der Kunst gegenüber gleichermaßen. Während aber Adorno dem Rezipienten empfiehlt, auf seine narzisstischen Ansprüche dem Kunstwerk gegenüber zu verzichten, um sich ganz dem objektiven Sinnzusammenhang des Kunstwerks zu überlassen, verzichten die Träger von Sennetts Kultur der öffentlichen Darstellung auf den – mit dem unmittelbaren Ausdruck „authentischer“ Gefühle verbundenen – narzisstischen Gewinn, um Emotionen so darzustellen, dass man sie „in der Gesellschaft“ versteht – sie verzichten, anders gesagt, auf „Authentizität“ zugunsten von Geselligkeit.

Allerdings haben wir es auch bei der Kultur der öffentlichen Darstellung, so wie in der Kunst, mit (quasi-)objektiven – schauspielerischen – Formen zu tun. Und auf der anderen Seite ist Kunst, jedenfalls im Verständnis Adornos, eine durch und durch gesellschaftliche Kategorie.

„Man kann vielleicht sagen, daß der Geist, der aus dem Kunstwerk spricht, wenn er sich wahrhaft objektiviert hat, immer der Geist der Gesellschaft und zugleich der Geist der Kritik an der Gesellschaft ist, aber daß die Dignität des Kunstwerks geradezu daran haftet, wie weit diese sedimentierte Gesellschaft, die im Kunstwerk steckt, nun hinausgeht über die Kontingenz des bloß darin sich mitteilenden Einzelnen.“42 

Der Verzicht auf Narzissmus in der Begegnung mit Kunst (Adorno) und jener auf den – narzisstisch motivierten – Ausdruck „authentischer“ Gefühle (Sennett) gehen beide sowohl mit einem Gewinn an Objektivität einher (mit der Möglichkeit des Nachvollzugs des objektiven Sinnzusammenhangs des Kunstwerks bei Adorno, der Möglichkeit der Kommunikation über gesellschaftsweit anerkannte, quasi-objektive Darstellungsformen bei Sennett) – als auch mit einem Gewinn an „Gesellschaft“.

Bei Adorno ist der Verzicht auf Narzissmus Voraussetzung für das Kunstglück. Und weil sich das antinarzisstische Prinzip bei Sennetts „Menschen als Schauspieler“ ähnlich auswirkt wie beim idealen Kunst rezipierenden Subjekt in der Theorie Adornos, drängt sich die Frage auf, ob der Gewinn an „Gesellschaft“ und Objektivität qua Verzicht auf Narzissmus auch Sennetts „Menschen als Schauspieler“ glücklich(er) zu machen vermag. Und wenn ja, ob sich dieses Glückskonzept auch auf andere Bereiche des Alltags – und  der Gesellschaft – übertragen lässt. 

„Ihre Naturtendenz ist freilich nicht geselliger Art“ 

Im Beispiel Sennetts mögen uns die Anforderungen, welche die Kultur der öffentlichen Darstellung an den vom Sterben des Vaters Berichtenden stellt, als Bürde erscheinen.

„Der, der diese Augenblicke nacherzählt, müßte sie nicht nur vergegenwärtigen, er müßte sie auch formen, müßte einiges hervorheben, anderes zurückdrängen, müßte seinen Bericht womöglich sogar verfälschen, um ihn in eine Form zu bringen, [...] [die] der Zuhörer mit dem Sterben verbindet. 

Stellen wir uns aber eine Situation vor, in der jemand in einem – im weitesten Sinne – öffentlichen Rahmen (bei einer Geburtstagsfeier, nach einer künstlerischen Darbietung, einem wissenschaftlichen Vortrag etc.) überschwänglich gelobt wird. Würde sie oder er in Reaktion auf dieses Lob, den Geboten der narzisstisch geprägten Gegenwartskultur folgend, seine Gefühle aufrichtig ausdrücken, könnten peinliche Situationen entstehen. Er könnte das Lob triumphierend bestätigen und selbstverliebt ausrufen: „Ich wusste schon immer dass ich der Beste bin!“ Andererseits: Wenn das Publikum überschwänglich applaudiert, die Solistin aber das Gefühl hat, sie hätte ausgesprochen schlecht gespielt, müsste sie, den besagten Authentizitätsvorgaben gemäß, die Begeisterung im Saal mit dem Geständnis belohnen, sie hätte seit Langem nicht so schlecht gespielt, und dem Publikum zu verstehen geben, wie dumm und banausisch es sei.

Auch wenn Sennetts „Menschen als Schauspieler“ dem 18. Jahrhundert angehören, stehen uns auch heute gesellschaftsweit anerkannte Rollen und Formen zur Verfügung – Rollen und Formen der Höflichkeit etwa, die, sofern wir gelernt haben, ihnen zu entsprechen, uns helfen, Situationen dieser Art glücklich zu meistern. In unserem Fall, indem wir uns den Lobenden gegenüber dankbar zeigen ohne selbstverliebt oder größenwahnsinnig zu erscheinen. Als Ressourcen des Glücks erweisen sich diese Formen und Rollen, sofern sie es dem Einzelnen ermöglichen, auch noch etwas anderes zu sein als immer nur „ich“. Und ihm gestatten – nicht bloß weil es sich situationsbedingt dazu verpflichtet fühlt, sondern auch mal „aus Jux und Tollerei“ – in alle möglichen fremden Rollen zu schlüpfen. Das befreit ihn aus dem Gefängnis der vollen Identifizierung mit seinem – imaginären – „Ich“. Und macht ihn gesellschaftsfähig.

Ein Analysand von mir, ein belesener, „kunstsinniger“ Jurist, bildete sich zu Beginn der Analyse viel darauf ein, dass seine sozialen Kontakte außerhalb der Familie sich auf zwei Freunde beschränkten, die „ganz genauso ticken wie ich“. Seine Frau, eine Kunstmanagerin, würde ihn aber ständig auf „langweilige Gesellschaften schleppen“ wollen, wo er gezwungen wäre, „mit irgendwelchen Idioten Smalltalk“ zu treiben. Diese Haltung hat er mittlerweile zwar nicht aufgegeben, aber ein gutes Stück weit relativiert, nicht zuletzt aufgrund der Lektüre von Richard Sennett, Richard Schuberth – und Goethe.

„[Als] Johann Peter Eckermann gegenüber Goethe bekannte: ‚[...] Ich suche eine Persönlichkeit, die meiner eigenen Natur gemäß sei; dieser möchte ich mich ganz hingeben und mit den anderen nichts zu tun haben.’ [...], erteilte ihm der alte Goethe, der noch einer anderen Zeit angehörte, folgenden Rüffel: ‚Diese Ihre Naturtendenz ist freilich nicht geselliger Art; allein was wäre alle Bildung, wenn wir unsere natürlichen Richtungen nicht wollten zu überwinden suchen. Es ist eine große Torheit zu verlangen, daß die Menschen zu uns harmonieren sollen, ich habe es nie getan. Dadurch habe ich es dahin gebracht, mit jedem Menschen umgehen zu können, und dadurch allein entsteht die Kenntnis menschlicher Charaktere, sowie die nötige Gewandtheit im Leben. Denn gerade bei widerstrebenden Naturen muß man sich zusammennehmen, um mit ihnen durchzukommen. So sollten sie es auch machen. Da hilft nun einmal nichts, Sie müssen in die große Welt hinein. Sie mögen sich stellen, wie Sie wollen.’“43 

„Vom Kopf her“, meinte mein Analysand neulich, habe er inzwischen eingesehen, dass Smalltalk eine unentbehrliche „soziale Kulturtechnik“ sei. Weshalb er sich mittlerweile mehrmals – widerwillig, aber doch – von seiner Frau auf irgendwelche Gesellschaften habe „mitschleppen lassen“, wo er immerhin einige wenige, überraschend positive Erfahrungen gemacht habe. Gelegentlich würde er sich – wie er, auf seine Sorge vor Smalltalk „mit irgendwelchen Idioten“ anspielend, sagte – nun fragen, ob nicht „ich selbst der Idiot bin“. Idiotes (ἰδιώτης), fügte er hinzu, nannte man im alten Griechenland Personen, die sich nicht am gesellschaftlichen und politischen Leben beteiligten, sich bloß um ihre eigenen privaten Angelegenheiten kümmerten. 

wird fortgesetzt 

37 Richard Schuberth, Narzissmus und Konformität. Selbstliebe als Illusion  und Befreiung, Berlin 2018, S.150 

38 Ebd., S. 150 f 

39 Richard Sennett, Verfall und Ende des öffentliche Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Berlin 2013, S. 201 

40 Ebd., S.196 f 

41 Mehr noch als für die Signifikanten der Sprache gilt für diese Formen des affektiven Austauschs, dass sie natürlich nicht bloß der Übermittlung von Information dienen und viele andere (soziale, spielerische, künstlerische etc.) Funktionen haben. 

42 Theodor W. Adorno, Ästhetik (Vorlesungen 1958/59), Frankfurt am Main 2017, S. 338 

43 Schuberth, Narzissmus und Konformität, S. 20

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