Dienstag, 28. April 2020

"Exekution ist keine Kunst!" (6)


Adolph Reed: There is no American Left, but after Bernie, there is ...
Adolph L. Reed
Magisch und magisch 

Das Glückskonzept, das wir der Rezeptionstheorie Adornos und der Sennettschen Kultur der öffentlichen Darstellung zuschreiben, ist – als antinarzisstisches Prinzip – negativ bestimmt. Zwar würden Versuche, die rituellen Formen des affektiven Austauschs, die Sennett bei der Beschreibung des „Menschen als Schauspieler“ im Blick hat, für die Gegenwart konkreter zu bestimmen, gar der Versuch, aristokratisch geprägte, im 18. Jahrhundert gepflegte Formen der öffentlichen Darstellung wiederzubeleben, Gefahr laufen, lächerlich zu wirken. Es lohnt aber, bei der von Adorno empfohlenen Rezeptionshaltung zu Kunstwerken und bei der diesseitigen, schauspielerischen Kunst der öffentlichen Darstellung im Sennettschen Sinn den Mechanismus jener „Glücksproduktion“ genauer anzusehen.

Wir gehen ja, Adorno folgend, davon aus, dass der Verzicht auf narzisstische und „grobsinnliche“ Kunstbeute die Voraussetzung für Kunstglück bildet. Was aber, wenn überhaupt etwas, unterscheidet das Glück, das diesem Verzicht folgen soll, von jenem, das etwa aus der Hingabe an Wissenschaft oder Philosophie resultieren mag – falls wir Philosophie und Wissenschaft überhaupt das Potential zuschreiben wollen, uns so etwas wie Glück zu bescheren?

Mit Adorno hatten wir oben die Kunst als eine „aus der Sphäre des bloßen empirischen Daseins herausgegliedert[e]“ bestimmt. In der folgenden Vorlesungssitzung nennt er den Bereich der Kunst einen „säkularisiert magischen Bereich, das [sic]44 mit der empirischen Realität zwar durch seine Elemente zusammenhängt und auf sie auch schließlich [...], kritisch oder utopisch, sich bezieht, das aber nicht unmittelbar, soweit es ein ästhetisches ist [...] selbst als ein Stück der leibhaftigen Wirklichkeit erfahren wird [Hervorhebung von mir].“45 

Die Charakterisierung der Sphäre der Kunst als eine

(säkularisiert-)magische impliziert das Tabu, sich dem Kunstwerk gegenüber so zu verhalten „wie wir uns einer guten Speise – oder lassen Sie mich sagen: einem sehr guten Wein – gegenüber verhalten.“46 Magisch ist hier ein Äquivalent von sakral. Angesichts des historischen Ursprungs der Kunst im Bereich des Sakralen und des Magischen, und der Verknüpfung des Heiligen mit dem Unantastbaren, wie sie im Begriff Tabu begegnet, geht es Adorno um die, diesem „Ursprung im Heiligen“ geschuldete, Distanz und Ehrfurcht gebietende, mitunter gefährliche47 Kraft, die von Kunst als einem magischen – mittlerweile aber säkularisiert-magischen – Bezirk noch heute ausgeht. Dieser Tabu-Aspekt der Kunst, auf den der Begriff magisch hier verweist, entspricht der erwähnten negativen Bestimmung von Adornos antinarzisstischem Kunstglück-Konzept.

Bei der Suche nach dem Mechanismus der „Produktion“ von Kunstglück bei Adorno scheint es aber aufschlussreicher, sich an der alltagssprachlichen Bedeutung von magisch zu halten und an Assoziationen aus der Welt der Kindheit und der Märchen – unter der Überschrift Zauberei. Scheint uns doch die Unterscheidung zwischen magisch und magisch – dem Magischen, das die Grenze zwischen der Sphäre der Kunst und der des Empirischen anzeigt, und jenem Magischen andererseits, das uns am Kunstwerk zu verzaubern und zu beglücken vermag – der Antwort auf die Frage, was das für ein Glück sein soll, das die Kunst uns beschert, und wie sie es uns beschert, näher zu bringen. Auch indem sie auf die oben entwickelte erste Paradoxie des Kunstglücks (erst der Verzicht auf narzisstische und „grobsinnliche“ Kunstbeute ermöglicht Kunstglück) ein neues Licht wirft: Nur wer jene magische Grenze (magisch im ersteren Sinn), die den Bereich der Kunst von dem empirischen trennt, anzuerkennen bereit ist, kann am magischen Glück teilhaben (magisch im zweiten Sinn), das Kunst zu schenken vermag. Und es ist der seit Jahrzehnten um sich greifende Verlust der Fähigkeit – und der Bereitschaft – zu dieser ästhetischen Distanz, der jene konkretistische „Kunstauffassung“ gebiert, die uns in Zusammenhang mit den Debatten um Scaffold und den Forderungen nach Trigger Warnings begegnet. Und die ihre Träger die Kategorie des „Kunstschrecklichen“ verfehlen und Kunstwerke wie Scaffold als etwas real Schreckliches wahrnehmen lässt. 

Die Kunstfremdheit Hegels 

Bevor wir den gesellschaftspolitischen Kontext dieser – die Kultur der Gegenwart prägenden – „Kunstauffassung“ näher in den Blick nehmen, ein Wort noch zu der eben entwickelten, zweiten Bedeutung von magisch als einem für das Kunstglück wesentlichen Begriff. Ich sagte, dass uns die Unterscheidung dieser zweiten Bedeutung des Magischen von der ersten der Frage, was das für ein Glück sein soll, das die Kunst uns beschert, näher zu bringen scheint – mit Betonung auf scheint: Jeder Versuch dies Magische im zweiten, „naiven“ Sinn über die mehr oder weniger diffusen Assoziationen, die das Wort in jedem von uns auslösen mag, hinaus, näher zu bestimmen, stößt auf jene Grenze des „je ne sais quoi“ („ich weiß nicht, was“), die Marivaux schon 1734 zog, um Versuche, das Kunstschöne zu objektifizieren, in die Schranken zu weisen. Auch sein Zeitgenosse, Johann Mattheson, der große Musiktheoretiker des Barock, schlägt in eine ähnliche Kerbe, wenn er in seinem Standardwerk „Der vollkommene Capellmeister“ zu Beginn des Kapitels „Von der melodischen Erfindung“ schreibt: „Das ist ein herrlicher Titel, wird mancher dencken [sic]: da muß es lauter schöne Einfälle regnen!“,48 um dann die Frage der Lehrbarkeit der „Erfindung und Verfertigung solcher singbarer Sätze“49, also von Melodien, grundsätzlich zu verneinen – auch wenn er seinem Grundsatz in weiterer Folge dann untreu wird. 

Hatte dies „je ne sais quoi“ bei der Bestimmung des Kunstschönen schon im 18. Jahrhundert Geltung beansprucht, gilt es seit der radikalen Abkehr der Kunst des 20. Jahrhunderts von konventionellen Formen umso mehr.

„Nun ist es aber bei der Kunst ganz sicher so, oder bei der Frage nach dem Schönen überhaupt, daß sie gerade an diesem Moment des [...] nicht ganz zu Greifenden, des nicht dingfest zu machenden ihr Lebenselement hat.“50 

sagt Adorno in der dritten Sitzung jener 1958/59 abgehaltenen Vorlesungen zur Ästhetik, um in Folge auf die Begriffe „Kultwert“ und „Aura“ bei Walter Benjamin zu verweisen. Und der ästhetischen Theorie Hegels, dem er wesentliche Anregungen für seine eigene verdankt, vorzuwerfen, sie würde, eben weil sie dieses Moment des Unbestimmten nicht würdige, die Dimension der Erfahrung des Kunstwerks zu verfehlen:

„Und es ist vielleicht doch gut, wenn ich schon jetzt sage, daß – so groß auch der Fortschritt ist, den Hegel in der Ästhetik durch die Subjekt-Objekt-Dialektik und das Hineinnehmen inhaltlicher Bestimmungen über den ästhetischen Formalismus des 18. Jahrhunderts gemacht hat –, daß doch dieser Fortschritt [...] bezahlt wird durch einen Moment [...] des Kunstfremden, mit einem Überschuß von Stofflichkeit, der manchmal dazu führt, daß man den Verdacht hegt, bei aller ihrer Großartigkeit ist diese Kunstphilosophie eigentlich der Erfahrung des Kunstwerks selber, die nun gerade in diesem Ephemeren besteht, gar nicht so ganz mächtig.“51 

Während aber die tatsächliche oder vermeintliche Kunstfremdheit Hegels auf dem tatsächlichen oder vermeintlichen Verfehlen jenes magisch-ephemeren Moments am Kunstwerk gründet, also des magischen Moments im zweiten Sinn, fehlt Trägern der heute verbreiteten konkretistischen „Kunstauffassung“ die Fähigkeit, jenes Moment des Magischen am Kunstwerk zu erkennen, das die Grenze zwischen Kunst und dem Bereich des Empirischen anzeigt. So gehen sie der Teilhabe am magischen Moment der Kunst auch noch im zweiten Sinne verlustig. 

Narzissmus und Identitätspolitik 

Proteste wie jene gegen Scaffold oder gegen Dana Schutz’ Gemälde Open Cascet,52 aber auch ein großer Teil der Forderungen nach Trigger Warnings erfolgen aus identitätspolitischen Positionen heraus. Um Missverständnisse rund um einen, oft diffus verwendeten Begriff zu vermeiden: Identitätspolitik ist kein anderer Name für den Kampf gegen die Unterdrückung von marginalisierten gesellschaftlichen Gruppen und für deren Rechte. Vertretern von Identitätspolitik ist es, im Gegenteil, um den – narzisstischen – Gewinn zu tun, den die Unterdrückung „ihres“ jeweiligen Kollektivs abwirft. So gründet die afroamerikanische Autorin Debra Dickersen Identität, Stolz und Selbstachtung „ihres“ Kollektivs auf dessen Abstammung (sic!) von westafrikanischen Sklaven. Weshalb sie Barack Obama, dem Sohn eines Kenianers und einer weissen US-Amerikanerin, das „Schwarzsein“ abspricht.53 Und die – schwarze – britische Künstlerin Hannah Black forderte, Open Cascet, ein Bild der – weissen – Künstlerin Dana Schutz, inspiriert von der Fotografie der Leiche des 15-jährigen 1955 von Weissen gelynchten schwarzen Jungen, Emett Till, nicht nur zu entfernen, sondern auch zu zerstören. Denn: „[T]he subject matter“, schreibt Black, „is not Schutz’“.54 Auch hier geht es nicht um die Beseitigung von Ungerechtigkeit und Unterdrückung. Sondern um den Gewinn, der sich aus der bloßen Thematisierung der Unterdrückung eines Kollektivs ergibt, ein Thema, das IdentitätspolitikerInnen vom Schlage Blacks eifersüchtig hüten wie einen Schatz. Die triviale Frage, woher Vertreter der Identitätspolitik (in diesem Fall die zum Zeitpunkt der Kontroverse in Berlin lebende Britin Hannah Black) die Legitimation beziehen, für die Angehörigen „ihres“ Kollektivs (in diesem Fall für Millionen von AfroamerikanerInnen in den USA) zu sprechen, wird meines Wissens kaum je gestellt.

Zu Ende gedacht, läuft Identitätspolitik auf die Festschreibung von Diskriminierung hinaus. In der Theorie – oft auch in der sozioökonomischen Praxis, wie der afroamerikanische politische Theoretiker Adolph L. Reed, eindrücklich gezeigt hat. Reed schreibt seit Jahrzehnten gegen den „race reductionism“ und jene Identitätspolitik an, die Schwarze unter Ausblendung der Klassenfrage als homogene Masse darstellt, und deren Nutznießer, wie er schon 1979 für den Zeitraum zwischen den (späten) 1960ern und dem Ende der 1970er Jahre nachweisen konnte, schwarze Eliten waren – und heute noch sind. Während sich die soziale und ökonomische Lage unterprivilegierter Afroamerikaner (Reed zieht die Parameter Beschäftigung, Kaufkraft, Wohnqualität und Lebenserwartung heran) im selben Zeitraum weiter verschlechterte.55 

Der Narzissmus der Vertreter der Identitätspolitik, der sie die Kategorie Politik verfehlen lässt – politische Politik, die reale Verhältnisse im Blick hat, nicht bloß imaginäre Identitätskonstruktionen –, derselbe Narzissmus macht es denselben IdentitätspolitikerInnen – qua konkretistischer Kunstauffassung – unmöglich, Kunstwerke als Kunstwerke wahrzunehmen.

Um es in der Sprache der Psychoanalyse, genauer der zweiten Freudschen Triebtheorie, zu sagen: Identitätspolitik beschert ihren Vertretern einen Zugewinn an narzisstischer Libido, also an Stolz und Selbstachtung, auf Kosten von Objektlibido, also des Interesses an real existierenden Objekten und Strukturen – auf genau diesen Zusammenhang scheint ja Reeds Befund zu verweisen. Auch in ihrer Begegnung mit Kunst bleiben AnhängerInnen der Identitätspolitik, sofern das Dargestellte bestimmte in Zusammenhang mit „ihrem“ Kollektiv stehende Emotionen zu triggern scheint, an ihrem Ich fixiert (Stichwort narzisstische Libido), das seinerseits mit einem – imaginären – Kollektiv identifiziert ist, ohne bereit oder in der Lage zu sein, die Grenzen dieses ihres „identitären“ Ichs zu überschreiten. Und den objektiven (Stichwort Objektlibido) Sinnzusammenhang des Kunstwerks wahrzunehmen. Von einer Hingabe an das Kunstwerk, im Sinne Adornos ganz zu schweigen. So verfehlen sie das magische Moment in der Kunst, wie gezeigt, im doppelten Sinn. 

wird fortgesetzt 

44 Laut Duden sind sowohl der als auch das Bereich richtig, im heutigen Sprachgebrauch überwiegt jedoch der Gebrauch des Maskulinums. 

45 Theodor W. Adorno, Ästhetik (Vorlesungen 1958/59), Frankfurt am Main 2017, S. 187 

46 Adorno, Ästhetik (Vorlesungen 1958/59), S. 178 

47 Vgl. Sama Maani, Warum wir über den Islam nicht reden können. In ders., Warum wir fremde Kulturen nicht respektieren sollten. Und die eigene auch nicht, Klagenfurt 2015, S. 14 

48 Ebd.Johann Mattheson, Der vollkommene Capellmeister, Kassel 1995, S. 121

49 Ebd., S. 133 

50 Adorno, Ästhetik (Vorlesungen 1958/59), S. 43 

51 Ebd., S. 133 



53 Vgl. Sama Maani, „Obama ist nicht schwarz“ – oder die Krux mit der Identitätspolitik. In ders., Warum wir Linke über den Islam nicht reden können, Klagenfurt 2019, S. 58 


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