Samstag, 17. Juli 2010

Wunderland 5. Teil

Scham in der Kühlschrank-Straße


„Während der Ferien versuchte ich mit dem Mädchen in Kontakt zu treten, ich schrieb ihr Briefe an die Adresse der Buchhandlung ihrer Eltern, und gab als Absender den Club der Toten Dichter an. Das Mädchen ließ meine Briefe unbeantwortet – ich vermutete daß ihre Eltern trotz des unverfänglichen Absenders Verdacht geschöpft und die Briefe abgefangen hatten.

Schräg vis à vis des Hauses, in dem sich die Buchhandlung der Eltern des Mädchens befand, und dessen ersten Stock sie mit ihren Eltern bewohnte, oder den zweiten, ich weiß es nicht mehr, war ein Kiosk, da konnte man Zeitungen oder Snacks kaufen, Bücher, kalte und heiße Getränke, im Sommer standen neben dem Kiosk Tische und Stühle, an denen aber nie jemand saß, und, weil ich dem Mädchen auflauern wollte, wurde ich der erste Gast dieses, wie man in der Deutschsprachigen Provinz gesagt haben würde, Schanigartens. Ich saß dort, Tag für Tag, und Stunde für Stunde, als einziger Gast, und wie ich es aus Agentenfilmen kannte, versteckte ich mein Gesicht hinter einer schwarzen Sonnenbrille, die ich von unserem Vater ausgeborgt hatte, aus den Fünfziger Jahren, sowie hinter großformatigen Teheraner Zeitungen, von denen es in jenem Sommer täglich neue gab – der Kioskbesitzer war schließlich gezwungen, die Zeitungen vor dem Kiosk auf dem Trottoir aufzulegen.

Die Zeitungen waren in jenem Sommer voll von Revolution und forderten die politische Öffnung Teherans und soziale Reformen, immer dreister wurden auch die Repräsentanten des Regimes kritisiert, und oft diffamiert, wie jener Ministerpräsident, Gott habe ihn selig, er wurde nämlich von den Klerikalen später erschossen, die Zeitungen unterstellten ihm damals - wie es sich herausstellen sollte, völlig zu Unrecht -, er wäre ein Anhänger jener Glaubensgemeinschaft, die seit der Revolution von den Klerikalen in Teheran verfolgt wird, wie seinerzeit jene Glaubensgemeinschaft in den Deutschsprachigen Bergen von jenem Mörderregime verfolgt und fast vernichtet wurde.

Mein Interesse an den Zeitungen und was sie über die Revolution zu berichten hatten, erleichterte das Sitzen in jenem Schanigarten ein wenig, und das Warten, das mir peinlich war, weil ich mich genierte. Ich genierte mich vor dem Kioskbesitzer - was mochte er sich denken, über einen Achtzehnjährigen, der in den Ferien nichts anderes zu tun wußte, als Tag für Tag stundenlang in der prallen Sonne zu sitzen, Zeitungen lesend, und Coca Cola zu trinken? Ich schämte mich vor dem Mädchen, wenn sie mich entdecken sollte, ohnehin wird sie mich von ihrem Fenster aus irgendwann einmal entdeckt haben, ich schämte mich vor den Anrainern der Yachtschal-Straße, in der sich der Kiosk und das Gymnasium und die Buchhandlung und die Wohnung des Mädchens befand“, der Feine wandte sich an mich „Yachtschal heißt Kühlschrank, Kühlschrank-Straße also – ich schämte mich also vor den Anrainern der Yachtschal-Straße, die hinter ihren Fenstern stehen und auf mich herabschauen mochten, tatsächlich gab es niemanden, der an seinem Fenster gestanden und auf mich herabgeschaut hätte“, der Feine wandte sich wieder an mich, „es war damals in Teheran nicht üblich, im Unterschied zu den Deutschsprachigen Bergen hier, sich ans Fenster zu stellen und stundenlang auf die Straße zu schauen, was sich nach der Revolution aber änderte - nach der Revolution, resp. der Installierung der Instanzen der Sondermoral hatten die Mädchen und Jungen in Teheran keine Möglichkeit mehr, sich zu treffen und kennenzulernen, weder gab es Diskos noch Parties, noch war es möglich, wie unter dem Kaiser der Fall, einander in Parks zum Beispiel kennenzulernen, das Kennenlernen wurde zum Problem, und in den auf die klerikale Revolution folgenden Jahren wurde es üblich, daß sich die Jungen an das Fenster stellten und stundenlang auf die Straße herabschauten und vorbeigehende Mädchen herbeipfiffen - folgte das Mädchen dem Pfiff kam es zu einem kurzen Gespräch, und bevor die Sittenpatrouille auftauchte, wurden Telefonnummern ausgetauscht. Diese Praxis änderte sich erst als das Internet“, der Feine zeigte auf den Jungen als wäre dieser das Internet, „eingeführt wurde.“

wird fortgesetzt

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