Samstag, 19. Juni 2010

Voltaires Candide (2) oder "Wo bleibt das Positive, Herr Kästner?"


The Stranglers

Ab jener Stelle, in der Candide ausruft: „Wenn das hier die beste aller Welten ist, wie muß es erst auf den anderen zugehen?“ – hatte Heinrich zu summen begonnen, und das, was er summte, kam mir bekannt vor. Ich fragte: „Was summst Du?“, woraufhin er, erst leise und dann immer lauter, zu singen begann:

Always look on the braaaaaaight side of life,
dadumm - dadumm, dadumm, dadumm,
Always look on the …

Seinerzeit, im Gymnasium, hatte Heinrich Schlagzeug und Baß-Gitarre gespielt, und in seiner Band, die sich Jupiter nannte, wenn ich mich richtig erinnere, auch gesungen. Ich glaube, er hatte ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, Rockmusiker zu werden.

Always look on the braaaaaaight side of life
dadumm …

Heute ist Heinrich Jurist, und die meiste Zeit arbeitslos, und ich weiß nicht, warum ich, obwohl ich weder singe noch ein Instrument spielen kann, in sein

Always look on the braaaaaaight side of life


miteinstimmte, zuerst leise, dann immer lauter, und Candide, ich meine das Taschenbuch, wie einen Dirigierstab hin und her zu schwingen begann. Die Buchhandlungskunden, jene nämlich, die vorhin in ihren – von oder über deutsche Philosophen verfaßten - Büchern geblättert, und mich argwöhnisch angeschaut hatten, diese Buchhandlungskunden saßen jetzt alle um uns herum, und schauten noch immer auf mich, oder schon wieder, ihren Gesichtern fehlte aber der Ausdruck von Argwohn, sie wirkten interessiert, wenn auch ratlos.

Ich versuchte sie zu ignorieren und mich auf Heinrich zu konzentrieren. „Monty Python“ sagte ich. Heinrich hörte auf zu singen. „Ja“, sagte er, „Das Leben des Brian“, und nachdenklich, als wäre ihm über das, was er gerade gesagt hatte, ein Zweifel gekommen, schaute er durch das Fenster auf die größte aller Einkaufsstraßen der Stadt. „Allerdings“, sagte er, „scheinen die Pythons mit diesem Lied doch etwas anderes sagen zu wollen, als dieser … dein … Pangloß. Der sagt nämlich: Alles ist gut, resp. alles ist bestens. Und Punkt. Hingegen sagen die drei Typen am Kreuz, im Leben des Brian - d.h. daß sie eigentlich singen:

Always look on the braaaaight side of life …

Das heißt: die Welt mag gut sein oder schlecht, das Wetter trüb oder sonnig - es liegt an dir, das Wetter resp. die Welt als gut und als schön zu empfinden. Always look on the bright side – und das Leben ist schön! Always look on the bright side und wenn Du es schaffst, immer nur die Sonnenseite zu sehen, dann fühlst du dich wohl, und fühlst du dich wohl, dann hast Du Erfolg, und hast Du Erfolg, dann ist alles gut. Das heißt aber auch: Bist du arbeitslos, unglücklich, arm, dann bist du selbst schuld - oder du hast ein Problem, oder eine Persönlichkeitsstörung …“

Heinrich, mein Freund, war schon im Gymnasium alles andere als ein normaler Rockmusiker, und Jupiter alles andere als eine normale Band. Jupiter und Heinrich machten spontanes Rockmusik-Kabarett, d.h. sie versuchten mit ihrem Publikum irgendwie ins Gespräch zu kommen, befragten es über Alltäglichkeiten etc., irgendetwas, was irgendwer im Publikum sagte, gab ihnen dann den Anstoß für das jeweilige Programm, bestehend aus Rockmusik und direkt auf der Bühne kreierten Texten, für die Heinrich zuständig war.
Nachdem Heinrich seine Ambitionen, Rockmusiker zu werden, aufgegeben hatte, verlegte er seine kabarettistisch-rockmusikalische Improvisations-Aktivitäten in den Alltag hinein, und seither versucht er aus irgendwelchen mehr oder weniger alltäglichen Situationen eine Szene zu machen, wie er es nennt, und aus irgendwelchen Fremden ein Publikum - was er aber eigentlich auch schon im Gymnasium gemacht – und, wenn ich mich richtig erinnere, Situationismus genannt hat.

Always look on the braaaaaaight side of life


Heinrich war aufgestanden und sang jetzt mit seiner sonoren, das ganze Café der größten Buchhandlung erfüllenden Stimme das Abschlußlied des Leben des Brian. Mir war das unendlich peinlich, wie mir Heinrich schon immer unendlich peinlich gewesen ist, und auch schon im Gymnasium, wie er aus irgendeiner Situation eine Szene machen konnte und aus irgendwelchen Fremden ein Publikum, ich habe Heinrich seit Jahren gemieden, eben weil er so peinlich werden kann, und nur weil er heute plötzlich vor meiner Türe gestanden war, und gesagt hatte, er käme von einer Motorradtour, quer durch die Alpen, und ich gesagt hatte, ich müßte zur größten Einkaufsstraße, einen Kühlschrank kaufen, nur deshalb kam es heute dazu, daß er mich in die größte aller Einkaufsstraßen begleiten hat dürfen, wo wir auf einmal über Voltaire zu diskutieren begannen.

Heinrich war aufgestanden, und sang, mit seiner das ganze Café, und womöglich das ganze Stockwerk, erfüllenden Stimme, mir war das peinlich, und ich versuchte wegzuschauen, überall aber die Blicke der Buchhandlungskunden, mit ihren – von oder über deutsche Philosophen verfaßten – Büchern, eine von ihnen, eine Mittelgroße mittleren Alters, stand auf, mit brünetten, mittellangen Haaren, und einem mittelstrengen Gesicht. Sie kam auf uns zu, d.h. auf mich, was mein ohnehin unendlich großes Peinlichkeitsgefühl weiter steigerte, ich rückte mit meinem Sessel nach hinten, vor mir stehend erschien mir die Dame keineswegs mittelgroß, sondern hochgewachsen und ihre von einer blauen Anzughose bedeckten Beine unendlich lang. „Sie tun den deutschen Philosophen Unrecht", sagte sie, "wenn Sie behaupten, sie alle hätten die Welt nur beschönigt.“
Hätten jene unendlich große Peinlichkeit sowie die ohrenbetäubend laute Stimme von Heinrich mich nicht gänzlich erfüllt, und meine Willens- und Denkkraft nicht lahmgelegt - ich hätte aufstehen und der Hochgewachsenen entgegentreten und sagen wollen: „Ich habe das niemals behauptet!“, und daß meine Kenntnisse der deutschen Philosophen im übrigen mehr als lückenhaft wären, und ich mich generelle Behauptungen dieser Art aufzustellen ohnehin niemals anmaßen würde … Die Hochgewachsene hielt ein Taschenbuch in ihrer Rechten, mit dem Titel „Nietzsche für Dummköpfe - Also sprach Zarathustra“, ein Buch, das ich kenne, und wegen seiner Verständlichkeit übrigens schätze, aber mit den Büchern von - oder wie in diesem Fall über - deutsche Philosophen ist es so eine Sache. Glaubt man, sie endlich verstanden zu haben, ist man auch nicht zufrieden, oder erst recht nicht, wie bei einer Unerreichbaren, die man begehrt und lange zu erobern versucht hat, und hat man sie endlich …

Von der mich zur Gänze erfüllenden Peinlichkeit und der mittlerweile ohrenbetäubend lauten Stimme Heinrichs abgesehen, hielt mich noch etwas davon ab, aufzustehen und mit der Dame Klartext zu reden - irgendetwas stimmte nicht an ihrer Stimme, oder an der Art, wie sie sprach, und dieses Etwas wurde deutlicher sobald sie aus „Nietzsche für Dummköpfe - Also sprach Zarathustra“ vorzutragen begann. Im übrigen fiel mir, trotz meiner lückenhaften Kenntnisse über deutsche Philosophen, sofort auf, daß die Stelle, die sie vortrug, nicht aus „Also sprach Zarathustra“ stammt - sondern aus „Die Fröhliche Wissenschaft“:

"Wie, wenn dir eines Nachts, ein Dämon in deine Einsamkeit nachschliche und dir sagte: ‚Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du
noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und jeder Schmerz und jede Lust deines Lebens muß dir wiederkommen und ebenso dieses Mondlicht zwischen den Bäumen, und ebenso dieser Augenblick und ich selber … Würdest du dich nicht niederwerfen und mit den Zähnen knirschen und den Dämon verfluchen, der so redete? …
… Oder wie würdest du dir selber und dem Leben gut werden, um nach Nichts mehr zu verlangen, als nach dieser letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung?"

„Sie sehen“, sagte, mit einem Anflug von Empörung, die Dame, „Sie sehen hier wahrscheinlich Ihre Behauptung bestätigt, die deutschen Philosophen hätten nichts anderes getan, als die Welt zu beschönigen.“ Ich hätte sagen, resp. fragen wollen, wie Sie auf die Idee käme, ich hätte derartiges jemals behauptet - und daß ich angsichts der mittlerweile ohrenbetäubenden Stimme von Heinrich, und meines mich gänzlich erfüllenden Gefühls von Peinlichkeit das Nietzsche-Zitat zwar akustisch verstanden, aber seinen Sinn nicht zu erfassen vermochte - brachte aber nicht mehr heraus als ein Ja in Form eines Stöhnens. Warum gerade ein Ja und nicht zum Beispiel ein Nein, kann ich nicht sagen, Nein zu sagen hätte womöglich - weil Nein ja das längere Wort ist - mehr Kraft gekostet.

Wie gesagt - irgendetwas stimmte nicht an ihrer Stimme, oder an der Art, wie sie sprach, und dieses Etwas wurde, als sie aus „Nietzsche für Dummköpfe“ vorzulesen begann, immer deutlicher - sie sprach, resp. las nämlich gar nicht - sie schien vielmehr zu singen, ein Singen war es aber auch wieder nicht, sondern, wie soll ich sagen, ein Sprechgesang.

„Allerdings“, sagte die Dame - obwohl ich meinen Sessel weiter und weiter nach hinten gerückt hatte, schien sie mir immer näher und näher zu kommen -, „allerdings befinden Sie sich mit Ihrer Behauptung, die Philosophen in Deutschland hätten die Welt nur beschönigt, in bester Gesellschaft, zumindest was Nietzsche betrifft. Theodor Adorno“, die Hochgewachsene hielt jetzt ein anderes Buch, Theodor W. Adornos „Vorlesung über Negative Dialektik“, in der Hand, das ich natürlich kenne – ungeachtet meiner lückenhaften Kenntnisse der deutschen Philosophen –, und schätze, und da es mir für das Werk eines deutschen Philosophen ungewöhnlich verständlich erscheint, möchte ich es auf das Wärmste empfehlen. Woher die Hochgewachsene auf einmal die „Vorlesung über Negative Dialektik“ her hatte, war mir nicht klar, und wohin „Nietzsche für Dummköpfe“ auf einmal verschwunden war, auch nicht – als hätte die mittelgroße, mittlerweile hochgewachsene Dame das eine weg- und das andere hergezaubert.
„Theodor Adorno“, die Hochgewachsene tippte ein paar Mal mit dem Finger, wie man sich auf die Stirn tippt, um seinem Gegenüber zu bedeuten, er sei ein Dummkopf, auf die „Negative Dialektik“, „Theodor Adorno hat Nietzsche aber mißverstanden. Nietzsche sagt nämlich gar nicht, daß die Welt gut sei, sondern es geht aus der Stelle, die ich gelesen habe, hervor: Du sollst Ja zur Welt sagen, egal, ob sie gut oder schlecht ist.“
Ich weiß nicht warum, aber ich hatte das Gefühl, daß die Hochgewachsene mich meinte, als sie „Du sollst Ja zur Welt sagen“ sagte, und wieder hätte ich aufstehen und der Hochgewachsenen entgegentreten, und sagen wollen: „Warum sagen Sie das mir?“ Und daß im übrigen nicht Adorno Nietzsche, sondern sie, die Mittelgroße bzw. Hochgewachsene, Adorno mißverstanden hätte – und ich hätte in diesem Moment der Dame die „Negative Dialektik“ aus den Händen gerissen, um darin fieberhaft nach jener Stelle zu suchen, in der Adorno auf dieses Ja zum Leben von Nietzsche Bezug nimmt:

„Es muß eben gefragt werden, was bejaht wird, was zu bejahen sei, und was nicht zu bejahen sei, anstatt daß das Ja als solches schon zum Wert erhoben wird, wie es leider schon bei Nietzsche, in dem ganzen Pathos des Jasagens zum Leben angelegt ist …“

„Aber wie immer das sei, mit Adorno und Nietzsche“, während ich mich im Geiste aufstehen und der Hochgewachsenen mit Entschiedenheit entgegenwerfen sah, hatte sie wieder - mit erhobenem Zeigefinger und Daumen, als wollte sie mit ihren Fingern eine Pistole simulieren - zu reden begonnen, „Wie immer das sei, Adorno selbst ist immerhin auch ein deutscher, oder zumindest deutschsprachiger Philosoph, und bevor Sie wieder behaupten, die deutschen Philosophen hätten die Welt nur beschönigt, schauen Sie, resp. hören Sie sich bitte an, was er sagt:

„Bei den Nazis, da war es noch die Rasse, an die unterdessen nun schon wirklich der Dümmste nicht mehr glaubt. Ich würde denken, daß in der nächsten Stufe der regressiven Ideologie es dann einfach das Positive sein wird, an das die Menschen glauben sollen etwa in dem Sinn, wie man in Heiratsannoncen die Formulierung ‚positive Lebenseinstellung‘ als etwas ganz besonders Empfohlenes empfindet … Heute, in einem Zustand, den die Menschen einerseits … alle als tief fragwürdig empfinden und der auf der anderen Seite, so stark ist, daß sie glauben, nichts dagegen zu vermögen … herrscht nun … so etwas wie das Ideal der abstrakten Positivität vor, in jenem Sinn, der Ihnen allen … von Kästner geläufig ist, der da in einem Gedicht schrieb: ‚Wo bleibt das Positive, Herr Kästner?‘“

Im Café der größten aller Buchhandlungen ist es jetzt still und Heinrich singt immer leiser, bis man ihn nicht mehr hört. Die Hochgewachsene schaut, an mir vorbei, in die größte aller Einkaufsstraßen. Es hat zu regnen begonnen. „Wo bleibt das Positive“, sie wiederholt sich, „Herr Kästner?“, und wieder: „Wo bleibt das Positive ...?“. Es ist kein Sprechgesang mehr, sondern ein reines, immer lauter und eindringlicher werdendes Singen: „Wo bleibt das Positive ...?“ Ich kenne die Melodie. Von früher, aus den Achtzigern, oder Siebzigern: The Stranglers, „No more heroes“, erste Liedzeile:

http://www.youtube.com/watch?v=Pg2np37JNEg&feature=related

Whatever happened to - the heroes? /Wo bleibt das Positive - Herr Kästner? …

Whatever happened toooo - the heroes/ Wo bleibt das Po-si-tiveeee - Herr Kästner …

Whatever happened tooooo -/
Wo bleibt das Po-si-tiveeeee -

- the heroes …/
- Herr Kästner …

Statt auf mich schauen die Buchhandlungskunden jetzt in ihre Bücher, und als würden sie der Hochgewachsenen zustimmen wollen, nicken sie, wie synchronisierte Puppen, im Rhythmus des immer lauter und eindringlicher werdenden Singens.
"Wo bleibt das Positive - Herr Kästner?"

Ende - bzw. der Anfang eines Romans?
***
P.S.: Hier noch Auszüge aus dem Gedicht von Kästner, auf das Adorno Bezug nimmt:

Und immer wieder schickt Ihr mir Briefe,
in denen Ihr, dick unterstrichen, schreibt:
»Herr Kästner, wo bleibt das Positive?«
Ja, weiß der Teufel, wo das bleibt.

[…]

Ihr braucht schon wieder mal Vaseline,
mit der Ihr das trockene Brot beschmiert.
Ihr sagt schon wieder, mit gläubiger Miene:
»Der siebente Himmel wird frisch tapeziert!«

Ihr streut euch Zucker über die Schmerzen
und denkt, unter Zucker verschwänden sie.
Ihr baut schon wieder Balkons vor die Herzen
und nehmt die strampelnde Seele aufs Knie.

Die Spezies Mensch ging aus dem Leime
und mit ihr Haus und Staat und Welt.
Ihr wünscht, daß ich's hübsch zusammenreime,
und denkt, daß es dann zusammenhält?

Ich will nicht schwindeln. Ich werde nicht schwindeln.
Die Zeit ist schwarz, ich mach euch nichts weis.
Es gibt genug Lieferanten von Windeln.
Und manche liefern zum Selbstkostenpreis.

Habt Sonne in sämtlichen Körperteilen
und wickelt die Sorgen in Seidenpapier!
Doch tut es rasch. Ihr müßt euch beeilen.
Sonst werden die Sorgen größer als Ihr.
[…]

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