Dienstag, 12. März 2013

Santo Spirito - von Gerhard Hammerschmied

Ein durchaus liebenswürdiger alter Herr durchkämmte mit seiner messerscharfen Bügelfalte die unüberschaubare kniende Menschenmenge, die sich vor den Toren der Peterskirche versammelt hatte, bewegte sich zügig, amtshandelnd, auf einen Mann zu, der sich aller Kleider entledigt hatte. Einsam stand er da, eingezwängt in blasse und zitternde Haut, aus der kümmerliches Körperhaar hervorragte, sprach mit ruhigem, klaren Ton: Ihr Narren, steht auf. Dunkler Rauch stieg auf wie in den vielen Tagen zuvor. Dies hier ist kein heiliger Ort, die Vogelscheiße gar wird hier zu Gold. Ihr liegt auf Betten aus Elfenbein und grölt fromme Lieder. Niemand hörte zu, keiner nahm Anstoß.

Der alte Herr hatte ihn erreicht, steckte seinen Rosenkranz in die Hosentasche, hinter dem Kollar tanzte ein nervöser Adamsapfel. Mein Guter, ich bitte Sie. Nicht einmal Er hat sich so entblößt, seinen Blick senkte er zum Boden, nicht ohne mit seinen Augen das Geschlecht des Eiferers zu streifen. Am sechsten Tag erschuf Gott den Menschen, am siebenten war Ruhe und Keuschheit. Die Scham ist dem, der reinen Herzens ist, keine Angelegenheit des Gewandes. Er weiß doch, wie du aussiehst, raunte er ihm zu, wem hier willst du etwas zeigen, ließ seine Augenbrauen emporeilen, bedeutete der Garde, dass sie sich fernhalten solle.
Und du, mein Bruder, gibst dem Papst, was des Papstes ist.
Ja, das mag sein, aber wie du siehst, haben wir noch keinen. Zieh dich wieder an, es ist kalt.

Staatliche Kameras schwenkten weg, private nahmen sie ins Visier.
Monsignore entfernte sich einige Schritte, aus Ratlosigkeit, aber auch um keine Intimität zur Schau zu stellen. Auch du musst knien, rief ihm eine junge Ordensschwester zu, lass ihn doch, er stört uns nicht, er ist so schön, der heilige Franziskus würde das auch tun. Nun, runter mit dir, wenn du einen Papst willst, oder brauchst du gar einen Polster.
Es gibt und es gab nur einen Poverello, nur einen. Und das war es dann.
Die Mädchen ringsum konnten nicht anders, tuschelten, und ihre Blicke erregten das gefürchtete Ärgernis.

Das Feingefühl hieß den Monsignore, sich knapp vor den Nackten zu stellen, ein Gedankenblitz durchzuckte seinen hoch erröteten Kopf, wir sind im Stand der Sünde, und so sprach er mit sanfter Stimme, breitete einen unsichtbaren Mantel um die Katastrophe: Wie heißt du mein Sohn. Niemand konnte die Antwort hören, der dunkle, trostreiche und zersungene Klangteppich der  vatikanischen Kapelle deckte alles zu. Weißer Rauch stieg auf, die Türen wurden geöffnet, die Menschen bekreuzigten sich, blickten empor zum Balkon.

Er kam nicht, niemand kam.

Die Betenden erhoben sich. Der Nackte zog sich wieder an, verlief sich in den Wamst eines Gardisten, dem ein Blitz entfuhr, der ihn zu Boden streckte. Man brachte ihn in die Wachstube, die braven Schweizer berieten noch darüber, ob sie nicht doch einen Krankenwagen herbeirufen sollten, ja einen Arzt jedenfalls, er tat ihnen leid. Sorgsam betteten sie ihn auf eine Bank, hielten ihm dann und wann eine Hand auf seine Stirn, zogen ein Augenlid hoch und leuchteten ihm in die Pupille. Keinen Puls spürten sie mehr, nicht an der Hand, nicht am Hals. Ratlos gingen sie auf und ab, manch einer stocherte mit seiner Hellebarde an seiner Kutte herum, so als wäre einem römischen Legionär daran gelegen, den toten Christus zum Leben zu erwecken. Der Arzt kam nach einer Ewigkeit, ein junger, gründlicher, mit feinen Brillen und kurzem Haar, applizierte einen feinen, roten Defibrillator. Dieser arme Amos aus Trastevere zuckte wie ein Aal, der die Köche das Schaudern lehrt. Vergebens. Ich muss das melden, meinte der Mediziner, ich muss.

Der Balkon war noch immer leer.

Sie nehmen ihn doch mit, in das Krankenhaus, damit er dort versterben kann, laut Papier und offiziell. Eine Bahre wurde herbeigebracht, der Tote an Armen und Beinen hochgehoben, verlegt und hinaus getragen.
Amos öffnete die Augen.

Wir müssen weiter, es weiß doch keiner, dass er tot war, murmelte der Fahrer der Ambulanz. Scheintot, mein Guter, scheintot, meinte der alte Herr, der lautlos die Stube betreten hatte. Erleichterung kam auf, doch keine Freude. Amos erhob sich von der Bahre, schüttelte den Kopf, setzte sich auf die Bank, nestelte an seiner Kutte, das grobe Leinen schmerzte an der Wunde.

Lasst mich gehen, ich bitte euch.

Monsignore setzte sich dazu, holte seinen Rosenkranz aus der Tasche, ließ ihn um die Finger kreisen, suchte nach Worten.
Damit du dich wieder ausziehst, sagte er.
Also Amos heißt du, das ist doch nicht dein wirklicher Name.
Andere Zeiten, andere Opfer.
Am besten gar keines, das ist das Opfer des Opfers.
Du warst drüben.
Du hast nichts zu berichten.

Monsignore öffnete die Tür einen Spalt breit, um einen Blick auf den Balkon zu werfen, sein blankes Haupt war getaucht in mildes Abendlicht, das noch kurz auf ihm ruhte wie eine Aura der Arglosen, als er sich wieder zu dem armen Teufel setzte. Der Doktor packte seine Tasche mit großer Sorgfalt. Ja, es geschehen noch Zeichen und Wunder, entkam es den zugespitzten Lippen des Klerikers, man gewöhnt sich nie daran. Die Ambulanz fuhr ab, die Gardisten nahmen ihren Dienst wieder auf, lockerten ihre vom Stillstand versteiften Gelenke, spreizten ihre Waffen, als ob es gälte, einen kaiserlichen Soldaten aufzuspießen, öffneten einige Dosen Bier und prosteten einander zu, wohl bekomm’s euch, ihr Papistenschweine.

Du willst nicht erzählen. Nun gut, dann tue ich es. Ein Verrückter wie du einer bist, wird das aushalten.

Du glaubst, es war wie in diesem Film, ein Papst von Bescheidenheit und einfacher Würde, du täuschst dich, es fehlte diesem Kinohelden die wahre Demut, und ich sage dir, Herr Moretti war da selbst voll von Eitelkeit, wie sie unsere Kardinäle so nicht besitzen.

Mit dem Heiligen Geist schwebten sie in die Sixtinische Kapelle, alles was ihn am Wehen hätte hindern können, hatten sie in den Gemächern gelassen. Wer auch wollte ihn mit solch irdischen Dingen belästigen.

Er ist überall, sagst du, alles ist Gottes, das ist wahr, doch die Kirche ist ein Schiff mit mächtigen Segeln, die man setzen muss. Er weht wie er will und wo er will. Der erste Wahlgang, das ist nur eine heilige Übung, die man vollbringt, um sich einzustimmen. Doch Merkwürdiges geschah. Bei der Auszählung der Stimmen ergab es sich, dass jeder Kardinal sich selbst wählte. Das Gremium zog sich zurück um sich zu beraten.

Fast unbemerkt sammelten sich die Gardisten um die beiden.
Amos und der alte Herr verließen die Stube, gingen, an den Kolonnaden entlang, in eine Seitenstraße und suchten ein kleines Espresso auf. Erschöpfte Pilger saßen dort bei Wasser und Tramezzini, die Besitzerin brachte ihnen Caffé, Amos bedankte sich höflich, lächelte seinem Begleiter aufmerksam zu.

Nun gut, ich fahre fort. Auch der zweite und der dritte Urnengang erbrachte dasselbe Ergebnis, bis dann endlich einer verzichtete. Die Kardinäle verfielen in heftigen Streit, um sich endlich darauf zu einigen, diesen einen zum Papst zu wählen.

Die Besitzerin hatte ihre Ohren gespitzt, sie kannte diese Geschichte schon.
Warum er nicht kommt? Der Heilige Geist war nicht zufrieden, sage ich dir. Man legte dem Armen die päpstlichen Kleider zurecht, sie wollten nicht passen, er wehrte sich mit Händen und Füßen, obwohl er ja eben noch die Wahl angenommen hatte. Wie ein kleines Kind brüllte er, das nackt bleiben will.

Einige Studenten kamen die Straße herunter, lebhaft miteinander diskutierend, blieben an den Tischen stehen, Amos stand auf, begrüßte sie herzlich, sank ihnen erschöpft in die Arme. Jubel brandete auf, ein Habemus Papam stieg zum Himmel auf, der so keusch war wie einst in den Tagen der kapitolinischen Wölfin.
Die Massen strömten der Piazza zu.
Ein Skelett rief einer, der Sensenmann.
Ein Kind, ein anderer.
Eine Frau.
Alle Päpste der langen Geschichte der Kirche erschienen am Balkon, grüßten huldvoll, die französischen, nicht, und Petrus auch nicht, aber doch so viele, als in der Peterskrypta Platz hatten.

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