Dienstag, 19. März 2013

Zizek in Teheran (34)

Es gibt Situationen im Leben, in denen es Gott, den es nicht gibt, doch zu geben scheint. Als Retter vor der inzwischen mehr als peinlichen Snack, wenn auch unendlich erotisch, betritt, rechts hinten, eine Glastür durchschreitend, ein Mittelalter den Raum. Für Teheran relativ Hochgewachsener. Träger einer - sehr - weißen, Nehru-Jacke, aus festerem Stoff. Hinter ihm ein Rattenschwanz von Männern. Im Gänsemarsch. Jeder ein wenig kleiner als der Vorangehende. Auch sie Nehru-Jacken-Träger. Jedoch aus dünnerem Stoff.

Durch die Polizeiambulanz geht ein Ruck. Ich und die anderen PolizeipatientInnen in den orangen Sitzschalen sitzen kerzengerade. Als der Hochgewachsene Träger der Nehru-Jacke, im Folgenden Nehru oder Die Jacke genannt, sich vor mir postiert. Links und rechts die Immerkleinerwerdenden. Die – unendlich erotische - Snack hat sich respektvoll verzogen, befindet sich aber irgendwo in der Tiefe des Raumes.

Die Schrift, sagt Nehru und nickt. Und nickt. Nicken heißt: Ja. Wollen wir jedes einzelne Nicken des Nehru in Worte übersetzen? Das ergäbe folgendes, LeserIn:

Die Schrift.
Ja, die Schrift.
Ja, ja die Schrift.
Ja, die Schrift.

Die Schrift, sagt Nehru, ist eine merkwürdige. Nicht nur ihr Inhalt, Daumen und Zeigefinger des Nehru streicheln ihm über den Hals, sondern merkwürdig sind auch die Umstände ihres Erscheinens.

Ihres Erscheinens?, sage ich, als wäre es das normalste, daß ich am Tag, an dem ich im Gelände meiner Deutschen Schule, jetzt das Internat Islamischer Mädchen, Zeuge eines Mordes wurde, sehr vermutlich begangen von Schirin, dem süßen islamischen Mädchen (Nein, ich bin kein sexistisches Schwein, LeserIn, sondern Schirin heißt in der Sprache Teherans süß), daß ich in der Ambulanz einer Teheraner Polizeistube vor dem Träger einer Nehru-Jacke sitze. Und er spricht ohne Gruß und Übergang von der Schrift, als setzte er ein vor kurzem unterbrochenes Gespräch fort, ein vertrautes Gespräch, unter Freunden.

Der Jacken-Nehru hat im Unterschied zu dem Echten

- eine immens hohe Stirn
- buschige Augenbrauen (schwarz)
- Hakennase

Nicht zu vergessen: Den weiß gesprenkelten Bart und das Lächeln eines Franziskaners aus dem Süden Italiens macht ihn sympathisch,

Liebe Deine Feinde, sagt, der sich selbst haßt. Wie Dich selbst.

Es liegt uns fern, sagt Nehru, die Schrift - und die Urheber der Schrift - gering zu schätzen. Das sind keine Handwerker. Sondern Künstler. Daß ein einzelner Künstler die Schrift verfaßt haben könnte, will ich aber nicht glauben. Es sind mehrere, und ihre Kunst zeigt sich nicht bloß im Verfassen der Schrift, sondern in der Art der Verbreitung.

Sie erscheint. Sie beschäftigt uns. Wir rätseln. Wir haben Angst. Und voller Sehnsucht erwarten wir ihre Rückkunft. Wir kennen nur Bruchteile. Sie kommt nicht. Sie wird kommen. Das wissen wir, dennoch überrascht sie uns. In der Zeitung, die ein Gemüsehändler zu einer Tüte formt. Jene Zeitung ist niemals erschienen, in Werbespots, im Fernsehen und Radio, in Kochbüchern, Kontaktanzeigen in Kontaktmagazinen, zur Stoßzeit, in den Anzeigetafeln der
U-Bahn. In Postwurfsendungen, sozialen Netzwerken, Rundmails, Massen-sms-en. Die Schrift, Daumen und Zeigefinger am Hals des Nehru-Jacken-Trägers stehen jetzt still. Will er sich würgen? Die Schrift, sagt Nehru, ist ein Gerücht. Φημη. 

Zwischen der Erd' und dem Meer und den himmlischen Höhen gelegen
Mitten im Raum ist ein Ort, wo was irgend sich zeigt,
sei noch so groß die Entfernung, ist zu erspähn
und jeglicher Laut zum gehöhleten Ohr dringt.

wird fortgesetzt

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