Donnerstag, 25. August 2011
Mittwoch, 24. August 2011
Benjamins Thesen. Zu Band 19 der Kritischen Gesamtausgabe*
Der folgende – sehr erhellende – Artikel, den er mir nach der Lektüre meines Artikels „Emma und die Revolution im Iran“ (ebenfalls in diesem blog) zugeschickt hat, stammt aus der Feder von Prof. Dr. Helmut Dahmer, Soziologe, langjähriger leitender Redakteur der psychoanalytischen Monatszeitschrift Psyche und Spiritus rector des Zirkels Kritische Freunde der Freud’schen Psychoanalyse.
Helmut Dahmer lebt als freier Publizist in Wien. Veröffentlichungen u. a. "Libido und Gesellschaft" (1973, 1982), "Pseudonatur und Kritik" (1994), "Soziologie nach einem babarbarischen Jahrhundert"
(2001), "Divergenzen" (2009).
„Vergangenes historisch artikulieren heißt […], sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt“, schrieb der Mitte März 1933 aus Hitlerdeutschland nach Paris geflohene Philosoph und Literaturkritiker Walter Benjamin in der sechsten seiner achtzehn Thesen „Über den Begriff der Geschichte“. Nach dem Verlust der Publikationsmöglichkeiten bei deutschen Zeitungen und Verlagen in dürftigen Verhältnissen lebend, in steter Sorge um das Stipendium, das er von dem in die USA emigrierten (Frankfurter) „Institut für Sozialforschung“ erhielt, arbeitete Benjamin in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre vor allem an einer großen Studie über Baudelaire und (im Zusammenhang damit) an seinem unvollendet gebliebenen „Passagen-Werk“ . Der kampflose Sieg Hitlers über die deutsche Arbeiterbewegung und die Verleugnung dieser Niederlage durch die stalinisierte Komintern, der „Große Terror“ in der Sowjetunion mit den Moskauer Schauprozessen gegen die alten Bolschewiki, der Niedergang der „Volksfront“ in Frankreich und die Niederlage der Republikaner im spanischen Bürgerkrieg machten die Hoffnung des Emigranten auf eine europäische Arbeiterrevolution, die einen zweiten Weltkrieg verhindern könnte, zunichte. 1937/38 begann er, sich der „theoretischen Armatur“ zu vergewissern, die seinen historischen Arbeiten (über das deutsche Trauerspiel der Barockzeit und die Kunstkritik der deutschen Romantik) ebenso wie seinem ‚work in progress’ (der „Passagenarbeit“) zugrunde lag. In der Folge des Hitler-Stalin-Pakts vom 23. August 1939, der Hitler die Möglichkeit gab, halb Polen zu besetzen und sodann in rascher Folge auch Dänemark, Norwegen, die Niederlande und Belgien, geriet Benjamin – wie viele andere deutsche Flüchtlinge in Frankreich – in einen tödlichen Malstrom. Zunächst wurde er ins Olympia-Stadion von Colombes (bei Paris) beordert, das als Sammelplatz für „feindliche Ausländer“ diente, dort zehn Tage lang festgehalten und dann für drei Monate in einem anderen Auffanglager (in einem heruntergekommenen Schloß bei Nevers) interniert. Als er, gesundheitlich angeschlagen, Ende November endlich nach Paris zurückkehren konnte und seine Arbeit in der Nationalbibliothek wieder aufnahm, blieb ihm noch ein gutes halbes Jahr, ehe die deutschen Truppen (am 14. 6. 1940) Paris besetzten. Benjamin floh rechtzeitig mit Zehntausenden südwärts, über Lourdes nach Marseille. Max Horkheimer und anderen Freunden gelang es schließlich, ihn mit den erforderlichen Papieren auszustatten, die es ihm ermöglichen sollten, den Menschenfängern „Vichy“-Frankreichs und der Gestapo zu entkommen und über Franco-Spanien die Vereinigten Staaten zu erreichen. Doch der Alkalde von Port Bou, das Benjamin mit einer kleinen Gruppe von Flüchtlingen nach einem beschwerlichen Fußmarsch erreicht hatte, drohte, sie über die Grenze zurückzuschicken. Daraufhin endete Benjamin in der Nacht vom 26. auf den 27. September 1940 sein Leben mit Hilfe von Morphium-Tabletten.
In seine „Geschichtsphilosophischen Thesen“ nahm er Bruchstücke aus früher geschriebenen, veröffentlichten und unveröffentlicht gebliebenen Texten ebenso wie Zitate aus neueren Lektüren auf. Ihre definitive Gestalt erhielten sie erst in den Monaten, die auf den Schock des Hitler-Stalin-Paktes und der Internierung folgten, also zwischen Dezember 1939 und Mai 1940. Benjamin sorgte dafür, daß dies „Vermächtnis“ – das Legat einer „geschlagenen Gene-ration“ – in unterschiedlichen Versionen an einige wenige gute Freunde ging: Ein Exemplar erreichte über Hannah Arendt Theodor W. Adorno, ein anderes übermittelte seine Schwester Dora Benjamin mit Hilfe von Martin Domke eben-falls Adorno; der für Gershom Scholem bestimmte Text ging verloren, und das von Georges Bataille (mit anderen Manuskripten Benjamins) in der „Bibliothèque Nationale“ versteckte „Handexemplar“ der Thesen übergab dessen Witwe erst 1981 unter dem Siegel der Verschwiegenheit Giorgio Agamben...
Benjamin markierte drei Grundfehler „unserer linken Führer“: ihren Fort-schrittsoptimismus, das Vertrauen auf ihre „Massenbasis“ und „ihre servile Ei-nordnung in einen unkontrollierbaren Apparat“. Besonders dem „frömmelnden Optimismus“ galt (wie er Mitte Dezember 1939 an Horkheimer schrieb) sein „unerbittlicher Haß“. Einflußreiche Historiker des 19. Jahrhunderts wie Leopold von Ranke oder Fustel de Coulanges hatten die Geschichtsschreibung dem Modell der Naturwissenschaft anzunähern gesucht. „Geschichte“ imaginierten sie als eine Kette von Ereignissen, die in einer leeren, homogenen Zeit aufei-nander folgen und sich dann nacherzählen lassen. Benjamin schrieb, bei der Einfühlung dieser Historiker in vergangene Epochen handele es sich allemal um eine Identifikation mit den Siegern, und diese sei eine Folge von „Herzens-trägheit“ (acedia), nämlich der Weigerung, sich der namenlosen Fronsklaven, der Unterlegenen, der Opfer der Kultur zu erinnern und deren Perspektive ein-zunehmen. Unter dem Einfluß neukantianischer Philosophen (wie Paul Natorp und Karl Vorländer) zeichneten sozialdemokratische Ideologen (Benjamin nennt unter anderen Josef Dietzgen und Robert Schmidt) ein Bild der historischen Entwicklung, auf dem diese einer Rolltreppe glich, die die Menschheit langsam, aber unaufhaltsam ihrem „Ideal“, der Zukunftsgesellschaft, näherbrachte. Angesichts der Katastrophen seit 1914, der Greuel des Faschismus und des Umschlags der russischen Revolution in eine despotische Schreckensherrschaft plädierte Benjamin, der in den Thesen als der „historische Materialist“ (oder „Dialektiker“) auftritt, für einen radikalen Bruch mit der Vorstellung von Geschichte und Geschichtsschreibung, wie sie dem Historismus ebenso wie dem Vulgärmarxismus der Sozialdemokraten zugrunde lag.
„Die Gegenstände, die die Klosterregel den Brüdern zur Meditation anwies“, schrieb er, „hatten die Aufgabe, sie der Welt und ihrem Treiben abhold zu ma-chen. Der Gedankengang, den wir hier verfolgen, ist aus einer ähnlichen Be-stimmung hervorgegangen. Er beabsichtigt in einem Augenblick, da die Politi-ker, die solange das große Wort geführt haben, am Boden liegen und ihre Niederlage mit dem Verrat an der eigenen Sache bekräftigen, das politische Weltkind aus den Netzen zu lösen, mit denen sie es umgarnt hatten.“ (X. These)
Seinen „Brüdern“ im Geiste und in der Politik riet Benjamin, radikal mit liebge-wordenen Denkgewohnheiten zu brechen und ein neuartiges Geschichtsverständnis – das Faschismus wie Stalinismus Rechnung trägt – demjenigen ent-gegenzusetzen, an dem die (von ihm nicht genannten) Partei-Führer und -Ideologen festhielten, die aus ihren Niederlagen nichts gelernt hatten. In seinen Thesen umriß er die ihm vorschwebende gründliche Revision des vulgarisierten, konformistisch gewordenen historischen Materialismus. Weder Max Horkheimer, noch Gretel Adorno mochte er sie in ihrer provisorischen Fassung vorlegen, schon gar nicht wollte er sie veröffentlicht sehen. Er fürchtete das „enthusiastische Mißverständnis“ und hatte bei der Redaktion mindestens einer der überlieferten sechs Varianten auch die (französische) Zensur im Sinn. So ließ er fort, was er bei den wenigen guten Freunden, die seinen Text lesen sollten, glaubte voraussetzen zu können. Dieser elliptische („knappe“, „redu-zierte“) und darum enigmatische Charakter seiner Thesen hat, seit sie (1942 beziehungsweise 1950) veröffentlicht wurden, nicht wenig zu Fehldeutungen beigetragen. Günther Stern-Anders hielt sie (laut Brecht) für „dunkel und ver-worren“, Brecht selbst aber (1941) für „klar und entwirrend“; Adorno und Hork-heimer sahen, daß Benjamins „letzte Konzeption“ ihren eigenen Intentionen nahekam, bemängelten aber „eine gewisse Naivität in den Partien, in denen von Marxismus und Politik die Rede ist“, beziehungsweise die allzu „unverhüllte“ Terminologie. Hannah Arendt und Heinrich Blücher wiederum hielten die Thesen für eine Art Abrechnung mit der Philosophie Horkheimers und Adornos, und Arendt fürchtete gar, diese „Schweinebande“ werde den Text „einfach un-terschlagen“: „Die werden sich rächen, wie sich Benji im Grunde durch Schrei-ben dieser Sache gerächt hat.“ Jüngst noch meinte ein Rezensent, vor vier, fünf Jahrzehnten habe Benjamins „rätselhafte Orakelrede“ als eine Art „heiliger Text“ gegolten, nun aber – in der neuen Edition – erwiesen sich seine Thesen als ein weit überschätzter, widersprüchlicher und „diffuser Komplex von Papieren“.
Die früheste (H. Arendt übergebene) wie die späteste Fassung der Thesen (in Benjamins „Handexemplar“) nimmt im Druck nur 12 oder 13 Seiten ein. In dem von Gérard Raulet herausgegebenen Band 19 der Kritischen Gesamt-ausgabe der Werke und des Nachlasses von Benjamin umfassen die sechs verschiedenen, chronologisch angeordneten Versionen der Thesen (samt Faksimiles) etwa 100 Druckseiten. Sie werden ergänzt durch 50 Seiten Ben-jaminscher Entwürfe, und darauf folgt erst der Kommentar, der (31 Briefe aus den Jahren 1940-1967 eingeschlossen) 200 Seiten umfaßt. Vor dem Hintergrund all’ dieser Materialien wird deutlich, warum Benjamins Reflexionen schon bei den ersten Lesern so unterschiedliche Reaktionen hervorriefen. Der Versuch, den gesamten Thesen-Komplex, wie ihn die neue Edition präsentiert, aus den Fragmenten, die Benjamin seinen Freunden übermittelt hatte, zu erschließen, mußte scheitern. Denn Benjamin hatte gerade diejenigen Notate, in denen er das „Programm“ der Thesen formulierte , zurückbehalten (oder schon im Entwurf gestrichen), so als folge er der Maxime „Das Beste, was du wissen kannst, darfst du den Buben doch nicht sagen.“
Erst die Reunion der verstreuten Versionen und Entwürfe zeigt, daß es sich bei den Thesen um die Disposition zu einem theologisch-politischen Traktat handelt. Dessen Thema ist die ausstehende Revolution, eine, die dem ruinösen „Fortschritt“, wie er im Rahmen von Ausbeutungsverhältnissen gedeiht, „Trümmer auf Trümmer häuft“ und Massaker auf Massaker, ein Ende setzt. Der Leser meint, einem Gespräch der unterschiedlichen Personen beizuwohnen, die Walter Benjamin in sich vereinigte, oder hört aus diesem Symposion die einander widerstreitenden Stimmen seiner Freunde Bertolt Brecht und Gershom Scholem heraus. Auch andere seiner literarischen Favoriten kommen zu Wort: Marcel Proust bringt die Lehre von der unwillkürlichen Erinnerung einer verlorenen Zeit als einer „Jetztzeit“ ein, Schlegel und Novalis mahnen, „wir sind auf der Erde erwartet worden“, und Franz Kafka gibt zu bedenken: „Die frohe Botschaft, die der Historiker der Vergangenheit mit fliegenden Pulsen bringt, kommt aus einem Munde, der vielleicht schon im Augenblick, da er sich auftut, ins Leere spricht“…
„Das Subjekt historischer Erkenntnis ist die kämpfende, unterdrückte Klasse selbst“, heißt es (im Anschluß an Georg Lukács) in der XII. These. Der revolutionäre Historiker ist deren Mandatar. Im Unheil der Gegenwart manifes-tiert sich ihm die Quintessenz (oder „Abbreviatur“) der gesamten Klassenge-schichte. Wo andere dem technischen Fortschritt huldigen, erblickt er dessen Nachtseite, den gesellschaftlichen Rückschritt. Wo andere die Kulturgüter feiern, erinnert er sich mit Grausen der Generationen von Fronarbeitern, die ver-nutzt wurden, um sie zu schaffen.
Mit Rosa Luxemburg (im Text ist von „Spartacus“ die Rede) erkennt Benjamin in der Katastrophe die wahre „Daseinsform“ des Kapitalismus , in der vermeintlichen Ausnahme die Regel. Weder die Führer, Ideologen und Anhänger der sozialdemokratisch-reformistischen noch die der stalinisierten kommunistischen Parteien haben dem sich gewachsen gezeigt; ihr Fort-schrittsoptimismus schlug sie mit Blindheit. 1914 wie 1933 und 1939 wurden sie von den „Ereignissen“ überrascht.
Benjamin war – wie Sigmund Freud – vor allem am „Problem der Erin-nerung (und des Vergessens)“ interessiert, und wie dieser überzeugt, daß stets das Beste vergessen wird, das nämlich, was, zur Erinnerung gebracht, aus dem Irrgarten des Seelen- und Soziallebens herausführen kann. In scheinbar aussichtslosen Situationen erschließt oft nur der Rückweg einen Ausweg. So drängen sich Individuen wie Kollektiven in Augenblicken äußerster Gefährdung unwillkürlich Erinnerungsbilder (Szenen) aus ihrer Geschichte auf. Ein verborgener – ebenso bedrückender wie befreiender – Zusammenhang zwischen einer bestimmten historischen Situation und der aktuellen wird plötzlich kenntlich und eröffnet dem Mann der Feder wie dem Mann der Tat eine „revolutionäre Chance im Kampfe für die unterdrückte Vergangenheit“ und gegen eine Zukunft, die ihr gleicht. Vergangenheit und Gegenwart finden zu einer flüchtigen, höchst bedeutsamen Konstellation zusammen. So war, schreibt Benjamin, für Robespierre und die Seinen das antike Rom „eine mit >Jetztzeit< geladene Vergangenheit“, und so verstanden sich (fügen wir hinzu) die Bolschewiki als neue Jakobiner (und fürchteten einen russischen „Thermidor“). Benjamin, der historische Materialist, holte sich bei Fortschritts-Skeptikern (wie Baudelaire), utopischen Sozialisten (wie Fourier) und intransigenten Revolutionären (wie Blanqui) Rat, vor allem aber bei Marx selbst, dessen kritische Begriffe von Arbeit, Natur und klassenloser Gesellschaft er sich zu eigen machte. Im Hintergrund der modernen Konzeptionen der Weltgeschichte steht noch immer die Heilsgeschichte. „Marx hat in der Vorstellung der klassenlosen Gesellschaft die Vorstellung der messianischen Zeit säkularisiert“, schrieb Benjamin im Handexemplar seiner Thesen. Eben dies haben die Marx-Epigonen verdrängt. Die „messianische“ Zeit beginnt, wenn der Krieg aller gegen alle entbehrlich wird und die „freie Assoziation der Produzenten“ aufhört, ihre Naturbasis zu verwüsten. Der „Messias“ aber wird erst kommen, wenn wir ihn nicht mehr brauchen. Die klassenlose Gesellschaft wird von leidenden und denkenden Menschen herbeigeführt; sie löst die blutige Ära der Klassengesellschaften ab. Daran muß das Denken und Handeln der Revolutionäre sich messen lassen. Denn daß alles so weitergeht wie jetzt und immer schon, ist die eigentliche Katastrophe. War die Geschichte der Klassenkämpfe eine endlose Folge von Massakern, so kommt alles darauf an, diese verhängnisvolle „Kontinuität“ aufzusprengen, also einen „wirklichen Ausnahmezustand“ (Benjamin) herbeizu-führen. „Die klassenlose Gesellschaft ist nicht das Endziel des Fortschritts in der Geschichte sondern dessen so oft mißglückte, endlich bewerkstelligte Unterbrechung.“ Hatte Marx im Rahmen der Eisenbahn-Metaphorik des 19. Jahrhunderts in den Revolutionen noch „Lokomotiven“ gesehen, die den langsamen Zug der gesellschaftlichen Entwicklung beschleunigen können, so hatte Benjamin, ein halbes Jahrhundert später, eine ganz andere Funktion der Revolutionen im Sinn: „Vielleicht sind [sie] der Griff des in diesem Zug reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.“
Benjamins Thesen haben der Lektüre von Trotzkis Revolutionsgeschich-te vielleicht ebensoviel zu verdanken wie der Kabbala. Diese seine „Quellen“ aber teilen inzwischen das Schicksal der Schriften Auguste Blanquis, von dem Benjamin sagte, es sei der „Sozialdemokratie“ gelungen, seinen Namen, „des-sen Erzklang das [19.] Jahrhundert erschüttert hat“, „fast auszulöschen“. In tiefer Vergessenheit harren sie einer Generation, die sie wieder herbeizitiert, weil sie verzweifelt nach einem Ausweg sucht. Denn auch nach dem Untergang Hitlers und Stalins hinterläßt uns der „Fortschritt“ allenthalben verbrannte Erde, Ruinen und Massengräber.
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* Benjamin, Walter (2010): Über den Begriff der Geschichte. Werke und Nachlaß, Kritische Gesamtausgabe, Bd. 19. Herausgegeben von Gérard Raulet. Berlin (Suhrkamp), 380 Seiten, 34.80 Euro.
1) Benjamin (1974): Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus. In: Benjamin, Gesam-melte Schriften, Bd. I. 2, Frankfurt, S. 509-690.
2) Benjamin (1982): Das Passagen-Werk. Ges. Schr., Bd. V. 1 und 2, Frankfurt.
3) Matz, Wolfgang (2010): „Der Engel der Philologie muß so aussehen.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. 8. 2010, S. 32.
4) Es handelt sich dabei vor allem um das Konvolut IV mit dem Entwurf einer These XVII a (messianische Zeit und klassenlose Gesellschaft, S. 152 f.) und um die (nur im Handexemplar enthaltene) These XVIII (über Neu-kantianismus und Sozialdemokratie, S. 42 f.).
5) „Der Imperialismus führt […] die Katastrophe als Daseinsform aus der Peripherie der kapitalistischen Entwick-lung nach ihrem Ausgangspunkt zurück. Nachdem die Expansion des Kapitals vier Jahrhunderte lang die Exis-tenz und die Kultur aller nichtkapitalistischen Völker in Asien, Afrika, Amerika und Australien unaufhörlichen Konvulsionen und dem massenhaften Untergang preisgegeben hatte, stürzt sie jetzt die Kulturvölker Europas selbst in eine Serie von Katastrophen, deren Schlußergebnis nur der Untergang der Kultur oder der Übergang zur sozialistischen Produktionsweise sein kann.“ Luxemburg, Rosa ([1915] 1919): Die Akkumulation des Kapitals oder Was die Epigonen aus der Marxschen Theorie gemacht haben. Eine Antikritik. In: Luxemburg (1975): Gesammelte Werke, Bd. 5, Berlin, S. 521.
6) „Aber das Vergessen betrifft immer das Beste, denn es betrifft die Möglichkeit der Erlösung.“ Benjamin ([1934] 1955): „Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages.“ In: Benjamin (1977): Ges. Schr., Bd. II.2, Frankfurt, S. 434.
7) Die Folge dieser Säkularisierung veranschaulichte er in der I. seiner Thesen mit Hilfe einer Parabel: Im 18. Jahrhundert trat der Baron von Kempelen mit einem unschlagbaren Schachspiel-Automaten auf. Es handelte sich dabei um „eine Puppe in türkischer Tracht“, die – wie eine Marionette – von einem „buckligen Zwerg“ mit Hilfe von verborgenen Schnüren gelenkt wurde, der sich im Inneren des Schachtischs verbarg und ein wirklicher Großmeister war. Benjamin schreibt, zum Verhältnis von Puppe und Zwerg finde sich eine Art „Gegenstück in der Philosophie“: Die Puppe „historischer Materialismus“ könne es „ohne weiteres mit jedem aufnehmen, wenn sie die Theologie in ihren Dienst nimmt, die heute bekanntlich klein und häßlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen.“
8) Vgl. Kafka, Franz (1953): Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß. Ge-sammelte Werke, hg. von Max Brod. („Das dritte Oktavheft“, Eintrag vom 4. 12. 1917.) Frankfurt, S. 90.
9) „Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privat-eigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert.“ Marx, Karl (1867): Das Kapital. Kritik der politi-schen Ökonomie. Marx-Engels-Werke, Bd. 23, Berlin 1962, Kap. 24, S. 791.
10) „Im übrigen war ich vierzehn Tage ganz im Russischen versunken: ich habe erst die Geschichte der Februar-revolution von Trotzki gelesen und bin jetzt im Begriff, seine Autobiographie zu beendigen. Seit Jahren glaube ich nichts mit so atemloser Spannung in mich aufgenommen zu haben.“ Benjamin an Gretel Karplus, Mitte Mai 1932. In: Benjamin (1998): Gesammelte Briefe, Bd. IV (1931-1934), Frankfurt, S. 97.
Helmut Dahmer lebt als freier Publizist in Wien. Veröffentlichungen u. a. "Libido und Gesellschaft" (1973, 1982), "Pseudonatur und Kritik" (1994), "Soziologie nach einem babarbarischen Jahrhundert"
(2001), "Divergenzen" (2009).
„Vergangenes historisch artikulieren heißt […], sich einer Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt“, schrieb der Mitte März 1933 aus Hitlerdeutschland nach Paris geflohene Philosoph und Literaturkritiker Walter Benjamin in der sechsten seiner achtzehn Thesen „Über den Begriff der Geschichte“. Nach dem Verlust der Publikationsmöglichkeiten bei deutschen Zeitungen und Verlagen in dürftigen Verhältnissen lebend, in steter Sorge um das Stipendium, das er von dem in die USA emigrierten (Frankfurter) „Institut für Sozialforschung“ erhielt, arbeitete Benjamin in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre vor allem an einer großen Studie über Baudelaire und (im Zusammenhang damit) an seinem unvollendet gebliebenen „Passagen-Werk“ . Der kampflose Sieg Hitlers über die deutsche Arbeiterbewegung und die Verleugnung dieser Niederlage durch die stalinisierte Komintern, der „Große Terror“ in der Sowjetunion mit den Moskauer Schauprozessen gegen die alten Bolschewiki, der Niedergang der „Volksfront“ in Frankreich und die Niederlage der Republikaner im spanischen Bürgerkrieg machten die Hoffnung des Emigranten auf eine europäische Arbeiterrevolution, die einen zweiten Weltkrieg verhindern könnte, zunichte. 1937/38 begann er, sich der „theoretischen Armatur“ zu vergewissern, die seinen historischen Arbeiten (über das deutsche Trauerspiel der Barockzeit und die Kunstkritik der deutschen Romantik) ebenso wie seinem ‚work in progress’ (der „Passagenarbeit“) zugrunde lag. In der Folge des Hitler-Stalin-Pakts vom 23. August 1939, der Hitler die Möglichkeit gab, halb Polen zu besetzen und sodann in rascher Folge auch Dänemark, Norwegen, die Niederlande und Belgien, geriet Benjamin – wie viele andere deutsche Flüchtlinge in Frankreich – in einen tödlichen Malstrom. Zunächst wurde er ins Olympia-Stadion von Colombes (bei Paris) beordert, das als Sammelplatz für „feindliche Ausländer“ diente, dort zehn Tage lang festgehalten und dann für drei Monate in einem anderen Auffanglager (in einem heruntergekommenen Schloß bei Nevers) interniert. Als er, gesundheitlich angeschlagen, Ende November endlich nach Paris zurückkehren konnte und seine Arbeit in der Nationalbibliothek wieder aufnahm, blieb ihm noch ein gutes halbes Jahr, ehe die deutschen Truppen (am 14. 6. 1940) Paris besetzten. Benjamin floh rechtzeitig mit Zehntausenden südwärts, über Lourdes nach Marseille. Max Horkheimer und anderen Freunden gelang es schließlich, ihn mit den erforderlichen Papieren auszustatten, die es ihm ermöglichen sollten, den Menschenfängern „Vichy“-Frankreichs und der Gestapo zu entkommen und über Franco-Spanien die Vereinigten Staaten zu erreichen. Doch der Alkalde von Port Bou, das Benjamin mit einer kleinen Gruppe von Flüchtlingen nach einem beschwerlichen Fußmarsch erreicht hatte, drohte, sie über die Grenze zurückzuschicken. Daraufhin endete Benjamin in der Nacht vom 26. auf den 27. September 1940 sein Leben mit Hilfe von Morphium-Tabletten.
In seine „Geschichtsphilosophischen Thesen“ nahm er Bruchstücke aus früher geschriebenen, veröffentlichten und unveröffentlicht gebliebenen Texten ebenso wie Zitate aus neueren Lektüren auf. Ihre definitive Gestalt erhielten sie erst in den Monaten, die auf den Schock des Hitler-Stalin-Paktes und der Internierung folgten, also zwischen Dezember 1939 und Mai 1940. Benjamin sorgte dafür, daß dies „Vermächtnis“ – das Legat einer „geschlagenen Gene-ration“ – in unterschiedlichen Versionen an einige wenige gute Freunde ging: Ein Exemplar erreichte über Hannah Arendt Theodor W. Adorno, ein anderes übermittelte seine Schwester Dora Benjamin mit Hilfe von Martin Domke eben-falls Adorno; der für Gershom Scholem bestimmte Text ging verloren, und das von Georges Bataille (mit anderen Manuskripten Benjamins) in der „Bibliothèque Nationale“ versteckte „Handexemplar“ der Thesen übergab dessen Witwe erst 1981 unter dem Siegel der Verschwiegenheit Giorgio Agamben...
Benjamin markierte drei Grundfehler „unserer linken Führer“: ihren Fort-schrittsoptimismus, das Vertrauen auf ihre „Massenbasis“ und „ihre servile Ei-nordnung in einen unkontrollierbaren Apparat“. Besonders dem „frömmelnden Optimismus“ galt (wie er Mitte Dezember 1939 an Horkheimer schrieb) sein „unerbittlicher Haß“. Einflußreiche Historiker des 19. Jahrhunderts wie Leopold von Ranke oder Fustel de Coulanges hatten die Geschichtsschreibung dem Modell der Naturwissenschaft anzunähern gesucht. „Geschichte“ imaginierten sie als eine Kette von Ereignissen, die in einer leeren, homogenen Zeit aufei-nander folgen und sich dann nacherzählen lassen. Benjamin schrieb, bei der Einfühlung dieser Historiker in vergangene Epochen handele es sich allemal um eine Identifikation mit den Siegern, und diese sei eine Folge von „Herzens-trägheit“ (acedia), nämlich der Weigerung, sich der namenlosen Fronsklaven, der Unterlegenen, der Opfer der Kultur zu erinnern und deren Perspektive ein-zunehmen. Unter dem Einfluß neukantianischer Philosophen (wie Paul Natorp und Karl Vorländer) zeichneten sozialdemokratische Ideologen (Benjamin nennt unter anderen Josef Dietzgen und Robert Schmidt) ein Bild der historischen Entwicklung, auf dem diese einer Rolltreppe glich, die die Menschheit langsam, aber unaufhaltsam ihrem „Ideal“, der Zukunftsgesellschaft, näherbrachte. Angesichts der Katastrophen seit 1914, der Greuel des Faschismus und des Umschlags der russischen Revolution in eine despotische Schreckensherrschaft plädierte Benjamin, der in den Thesen als der „historische Materialist“ (oder „Dialektiker“) auftritt, für einen radikalen Bruch mit der Vorstellung von Geschichte und Geschichtsschreibung, wie sie dem Historismus ebenso wie dem Vulgärmarxismus der Sozialdemokraten zugrunde lag.
„Die Gegenstände, die die Klosterregel den Brüdern zur Meditation anwies“, schrieb er, „hatten die Aufgabe, sie der Welt und ihrem Treiben abhold zu ma-chen. Der Gedankengang, den wir hier verfolgen, ist aus einer ähnlichen Be-stimmung hervorgegangen. Er beabsichtigt in einem Augenblick, da die Politi-ker, die solange das große Wort geführt haben, am Boden liegen und ihre Niederlage mit dem Verrat an der eigenen Sache bekräftigen, das politische Weltkind aus den Netzen zu lösen, mit denen sie es umgarnt hatten.“ (X. These)
Seinen „Brüdern“ im Geiste und in der Politik riet Benjamin, radikal mit liebge-wordenen Denkgewohnheiten zu brechen und ein neuartiges Geschichtsverständnis – das Faschismus wie Stalinismus Rechnung trägt – demjenigen ent-gegenzusetzen, an dem die (von ihm nicht genannten) Partei-Führer und -Ideologen festhielten, die aus ihren Niederlagen nichts gelernt hatten. In seinen Thesen umriß er die ihm vorschwebende gründliche Revision des vulgarisierten, konformistisch gewordenen historischen Materialismus. Weder Max Horkheimer, noch Gretel Adorno mochte er sie in ihrer provisorischen Fassung vorlegen, schon gar nicht wollte er sie veröffentlicht sehen. Er fürchtete das „enthusiastische Mißverständnis“ und hatte bei der Redaktion mindestens einer der überlieferten sechs Varianten auch die (französische) Zensur im Sinn. So ließ er fort, was er bei den wenigen guten Freunden, die seinen Text lesen sollten, glaubte voraussetzen zu können. Dieser elliptische („knappe“, „redu-zierte“) und darum enigmatische Charakter seiner Thesen hat, seit sie (1942 beziehungsweise 1950) veröffentlicht wurden, nicht wenig zu Fehldeutungen beigetragen. Günther Stern-Anders hielt sie (laut Brecht) für „dunkel und ver-worren“, Brecht selbst aber (1941) für „klar und entwirrend“; Adorno und Hork-heimer sahen, daß Benjamins „letzte Konzeption“ ihren eigenen Intentionen nahekam, bemängelten aber „eine gewisse Naivität in den Partien, in denen von Marxismus und Politik die Rede ist“, beziehungsweise die allzu „unverhüllte“ Terminologie. Hannah Arendt und Heinrich Blücher wiederum hielten die Thesen für eine Art Abrechnung mit der Philosophie Horkheimers und Adornos, und Arendt fürchtete gar, diese „Schweinebande“ werde den Text „einfach un-terschlagen“: „Die werden sich rächen, wie sich Benji im Grunde durch Schrei-ben dieser Sache gerächt hat.“ Jüngst noch meinte ein Rezensent, vor vier, fünf Jahrzehnten habe Benjamins „rätselhafte Orakelrede“ als eine Art „heiliger Text“ gegolten, nun aber – in der neuen Edition – erwiesen sich seine Thesen als ein weit überschätzter, widersprüchlicher und „diffuser Komplex von Papieren“.
Die früheste (H. Arendt übergebene) wie die späteste Fassung der Thesen (in Benjamins „Handexemplar“) nimmt im Druck nur 12 oder 13 Seiten ein. In dem von Gérard Raulet herausgegebenen Band 19 der Kritischen Gesamt-ausgabe der Werke und des Nachlasses von Benjamin umfassen die sechs verschiedenen, chronologisch angeordneten Versionen der Thesen (samt Faksimiles) etwa 100 Druckseiten. Sie werden ergänzt durch 50 Seiten Ben-jaminscher Entwürfe, und darauf folgt erst der Kommentar, der (31 Briefe aus den Jahren 1940-1967 eingeschlossen) 200 Seiten umfaßt. Vor dem Hintergrund all’ dieser Materialien wird deutlich, warum Benjamins Reflexionen schon bei den ersten Lesern so unterschiedliche Reaktionen hervorriefen. Der Versuch, den gesamten Thesen-Komplex, wie ihn die neue Edition präsentiert, aus den Fragmenten, die Benjamin seinen Freunden übermittelt hatte, zu erschließen, mußte scheitern. Denn Benjamin hatte gerade diejenigen Notate, in denen er das „Programm“ der Thesen formulierte , zurückbehalten (oder schon im Entwurf gestrichen), so als folge er der Maxime „Das Beste, was du wissen kannst, darfst du den Buben doch nicht sagen.“
Erst die Reunion der verstreuten Versionen und Entwürfe zeigt, daß es sich bei den Thesen um die Disposition zu einem theologisch-politischen Traktat handelt. Dessen Thema ist die ausstehende Revolution, eine, die dem ruinösen „Fortschritt“, wie er im Rahmen von Ausbeutungsverhältnissen gedeiht, „Trümmer auf Trümmer häuft“ und Massaker auf Massaker, ein Ende setzt. Der Leser meint, einem Gespräch der unterschiedlichen Personen beizuwohnen, die Walter Benjamin in sich vereinigte, oder hört aus diesem Symposion die einander widerstreitenden Stimmen seiner Freunde Bertolt Brecht und Gershom Scholem heraus. Auch andere seiner literarischen Favoriten kommen zu Wort: Marcel Proust bringt die Lehre von der unwillkürlichen Erinnerung einer verlorenen Zeit als einer „Jetztzeit“ ein, Schlegel und Novalis mahnen, „wir sind auf der Erde erwartet worden“, und Franz Kafka gibt zu bedenken: „Die frohe Botschaft, die der Historiker der Vergangenheit mit fliegenden Pulsen bringt, kommt aus einem Munde, der vielleicht schon im Augenblick, da er sich auftut, ins Leere spricht“…
„Das Subjekt historischer Erkenntnis ist die kämpfende, unterdrückte Klasse selbst“, heißt es (im Anschluß an Georg Lukács) in der XII. These. Der revolutionäre Historiker ist deren Mandatar. Im Unheil der Gegenwart manifes-tiert sich ihm die Quintessenz (oder „Abbreviatur“) der gesamten Klassenge-schichte. Wo andere dem technischen Fortschritt huldigen, erblickt er dessen Nachtseite, den gesellschaftlichen Rückschritt. Wo andere die Kulturgüter feiern, erinnert er sich mit Grausen der Generationen von Fronarbeitern, die ver-nutzt wurden, um sie zu schaffen.
Mit Rosa Luxemburg (im Text ist von „Spartacus“ die Rede) erkennt Benjamin in der Katastrophe die wahre „Daseinsform“ des Kapitalismus , in der vermeintlichen Ausnahme die Regel. Weder die Führer, Ideologen und Anhänger der sozialdemokratisch-reformistischen noch die der stalinisierten kommunistischen Parteien haben dem sich gewachsen gezeigt; ihr Fort-schrittsoptimismus schlug sie mit Blindheit. 1914 wie 1933 und 1939 wurden sie von den „Ereignissen“ überrascht.
Benjamin war – wie Sigmund Freud – vor allem am „Problem der Erin-nerung (und des Vergessens)“ interessiert, und wie dieser überzeugt, daß stets das Beste vergessen wird, das nämlich, was, zur Erinnerung gebracht, aus dem Irrgarten des Seelen- und Soziallebens herausführen kann. In scheinbar aussichtslosen Situationen erschließt oft nur der Rückweg einen Ausweg. So drängen sich Individuen wie Kollektiven in Augenblicken äußerster Gefährdung unwillkürlich Erinnerungsbilder (Szenen) aus ihrer Geschichte auf. Ein verborgener – ebenso bedrückender wie befreiender – Zusammenhang zwischen einer bestimmten historischen Situation und der aktuellen wird plötzlich kenntlich und eröffnet dem Mann der Feder wie dem Mann der Tat eine „revolutionäre Chance im Kampfe für die unterdrückte Vergangenheit“ und gegen eine Zukunft, die ihr gleicht. Vergangenheit und Gegenwart finden zu einer flüchtigen, höchst bedeutsamen Konstellation zusammen. So war, schreibt Benjamin, für Robespierre und die Seinen das antike Rom „eine mit >Jetztzeit< geladene Vergangenheit“, und so verstanden sich (fügen wir hinzu) die Bolschewiki als neue Jakobiner (und fürchteten einen russischen „Thermidor“). Benjamin, der historische Materialist, holte sich bei Fortschritts-Skeptikern (wie Baudelaire), utopischen Sozialisten (wie Fourier) und intransigenten Revolutionären (wie Blanqui) Rat, vor allem aber bei Marx selbst, dessen kritische Begriffe von Arbeit, Natur und klassenloser Gesellschaft er sich zu eigen machte. Im Hintergrund der modernen Konzeptionen der Weltgeschichte steht noch immer die Heilsgeschichte. „Marx hat in der Vorstellung der klassenlosen Gesellschaft die Vorstellung der messianischen Zeit säkularisiert“, schrieb Benjamin im Handexemplar seiner Thesen. Eben dies haben die Marx-Epigonen verdrängt. Die „messianische“ Zeit beginnt, wenn der Krieg aller gegen alle entbehrlich wird und die „freie Assoziation der Produzenten“ aufhört, ihre Naturbasis zu verwüsten. Der „Messias“ aber wird erst kommen, wenn wir ihn nicht mehr brauchen. Die klassenlose Gesellschaft wird von leidenden und denkenden Menschen herbeigeführt; sie löst die blutige Ära der Klassengesellschaften ab. Daran muß das Denken und Handeln der Revolutionäre sich messen lassen. Denn daß alles so weitergeht wie jetzt und immer schon, ist die eigentliche Katastrophe. War die Geschichte der Klassenkämpfe eine endlose Folge von Massakern, so kommt alles darauf an, diese verhängnisvolle „Kontinuität“ aufzusprengen, also einen „wirklichen Ausnahmezustand“ (Benjamin) herbeizu-führen. „Die klassenlose Gesellschaft ist nicht das Endziel des Fortschritts in der Geschichte sondern dessen so oft mißglückte, endlich bewerkstelligte Unterbrechung.“ Hatte Marx im Rahmen der Eisenbahn-Metaphorik des 19. Jahrhunderts in den Revolutionen noch „Lokomotiven“ gesehen, die den langsamen Zug der gesellschaftlichen Entwicklung beschleunigen können, so hatte Benjamin, ein halbes Jahrhundert später, eine ganz andere Funktion der Revolutionen im Sinn: „Vielleicht sind [sie] der Griff des in diesem Zug reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.“
Benjamins Thesen haben der Lektüre von Trotzkis Revolutionsgeschich-te vielleicht ebensoviel zu verdanken wie der Kabbala. Diese seine „Quellen“ aber teilen inzwischen das Schicksal der Schriften Auguste Blanquis, von dem Benjamin sagte, es sei der „Sozialdemokratie“ gelungen, seinen Namen, „des-sen Erzklang das [19.] Jahrhundert erschüttert hat“, „fast auszulöschen“. In tiefer Vergessenheit harren sie einer Generation, die sie wieder herbeizitiert, weil sie verzweifelt nach einem Ausweg sucht. Denn auch nach dem Untergang Hitlers und Stalins hinterläßt uns der „Fortschritt“ allenthalben verbrannte Erde, Ruinen und Massengräber.
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* Benjamin, Walter (2010): Über den Begriff der Geschichte. Werke und Nachlaß, Kritische Gesamtausgabe, Bd. 19. Herausgegeben von Gérard Raulet. Berlin (Suhrkamp), 380 Seiten, 34.80 Euro.
1) Benjamin (1974): Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus. In: Benjamin, Gesam-melte Schriften, Bd. I. 2, Frankfurt, S. 509-690.
2) Benjamin (1982): Das Passagen-Werk. Ges. Schr., Bd. V. 1 und 2, Frankfurt.
3) Matz, Wolfgang (2010): „Der Engel der Philologie muß so aussehen.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. 8. 2010, S. 32.
4) Es handelt sich dabei vor allem um das Konvolut IV mit dem Entwurf einer These XVII a (messianische Zeit und klassenlose Gesellschaft, S. 152 f.) und um die (nur im Handexemplar enthaltene) These XVIII (über Neu-kantianismus und Sozialdemokratie, S. 42 f.).
5) „Der Imperialismus führt […] die Katastrophe als Daseinsform aus der Peripherie der kapitalistischen Entwick-lung nach ihrem Ausgangspunkt zurück. Nachdem die Expansion des Kapitals vier Jahrhunderte lang die Exis-tenz und die Kultur aller nichtkapitalistischen Völker in Asien, Afrika, Amerika und Australien unaufhörlichen Konvulsionen und dem massenhaften Untergang preisgegeben hatte, stürzt sie jetzt die Kulturvölker Europas selbst in eine Serie von Katastrophen, deren Schlußergebnis nur der Untergang der Kultur oder der Übergang zur sozialistischen Produktionsweise sein kann.“ Luxemburg, Rosa ([1915] 1919): Die Akkumulation des Kapitals oder Was die Epigonen aus der Marxschen Theorie gemacht haben. Eine Antikritik. In: Luxemburg (1975): Gesammelte Werke, Bd. 5, Berlin, S. 521.
6) „Aber das Vergessen betrifft immer das Beste, denn es betrifft die Möglichkeit der Erlösung.“ Benjamin ([1934] 1955): „Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages.“ In: Benjamin (1977): Ges. Schr., Bd. II.2, Frankfurt, S. 434.
7) Die Folge dieser Säkularisierung veranschaulichte er in der I. seiner Thesen mit Hilfe einer Parabel: Im 18. Jahrhundert trat der Baron von Kempelen mit einem unschlagbaren Schachspiel-Automaten auf. Es handelte sich dabei um „eine Puppe in türkischer Tracht“, die – wie eine Marionette – von einem „buckligen Zwerg“ mit Hilfe von verborgenen Schnüren gelenkt wurde, der sich im Inneren des Schachtischs verbarg und ein wirklicher Großmeister war. Benjamin schreibt, zum Verhältnis von Puppe und Zwerg finde sich eine Art „Gegenstück in der Philosophie“: Die Puppe „historischer Materialismus“ könne es „ohne weiteres mit jedem aufnehmen, wenn sie die Theologie in ihren Dienst nimmt, die heute bekanntlich klein und häßlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen.“
8) Vgl. Kafka, Franz (1953): Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere Prosa aus dem Nachlaß. Ge-sammelte Werke, hg. von Max Brod. („Das dritte Oktavheft“, Eintrag vom 4. 12. 1917.) Frankfurt, S. 90.
9) „Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privat-eigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert.“ Marx, Karl (1867): Das Kapital. Kritik der politi-schen Ökonomie. Marx-Engels-Werke, Bd. 23, Berlin 1962, Kap. 24, S. 791.
10) „Im übrigen war ich vierzehn Tage ganz im Russischen versunken: ich habe erst die Geschichte der Februar-revolution von Trotzki gelesen und bin jetzt im Begriff, seine Autobiographie zu beendigen. Seit Jahren glaube ich nichts mit so atemloser Spannung in mich aufgenommen zu haben.“ Benjamin an Gretel Karplus, Mitte Mai 1932. In: Benjamin (1998): Gesammelte Briefe, Bd. IV (1931-1934), Frankfurt, S. 97.
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