Sonntag, 27. November 2011

Wunderland 35








Oskar Kokoschka, Selbstbildnis mit Geliebter (1913)






Da dämmerte es uns, wie mächtig der Militärschneider war, den wir für einen Clown gehalten hatten. Einmal ließ er mich in sein Büro kommen, das unordentlich und elegant war, wie das Atelier eines Künstlers. Er empfing mich sitzend, an einem länglichen Tisch, auf dem sich Modemagazine stapelten sowie Aktenordner, die aber nicht aussahen wie Aktenordner, sondern wie Folianten. Einen der Folianten öffnete er, und begann zu lesen, d.h. er murmelte, und das Murmeln war bei genauerem Hinhören ein Singen.

Sie beschäftigen sich mit Freud, sagte er, und lächelte, gütig und ein wenig dümmlich. Ich sah, daß er eine Wollmütze trug, und schon alt war, eine Schlafmütze oder die phrygische Mütze der Jakobiner und der Magier im alten Teheran, und statt Angst zu empfinden, empfand ich Mitleid und Sympathie, wie für Vater. Eine Zeit lang wurde er wieder ganz unverständlich. Dann sagte er: Das gefällt mir.
Was?, fragte ich, woraufhin er wieder ganz unverständlich wurde, und hin und wieder schmunzelte.
Was gefällt Ihnen?, fragte ich.
Daß Du diesem Pfaffen die Leviten gelesen hast.
Er meinte offenbar die Episode in der Buchhandlung.
- Gehören Sie nicht zu den religiösen Faschisten?
Der Militärschneider lachte. I wo. Zu den religiösen jedenfalls nicht.
- Aber – zum Apparat der klerikalen Republik?
- Das wohl. Das hat aber mit Religion nichts zu tun. Wenn Du es genau wissen willst, Junge: Ich scheiße sowohl auf den Gott als auch auf die Religion Teherans.
Dann fragte er nach meinem Berufswunsch. Da ich noch immer unter dem Eindruck des Gebäudes des Instituts für Religionssexologie stand, sagte ich wahrheitsgemäß: Architekt.
Da kann ich Dir helfen, sagte der Militärschneider, der, wenn er mit uns ‚Mädchen‘ sprach, immer zwischen dem Du und dem Sie wechselte, wir haben die besten Kontakte zu den Universitäten in Amerika. Und in Paris. Und in den Deutschsprachigen Bergen. Ich werde mich um das Stipendium kümmern. Und um die Sicherheit Deiner Eltern. Du kennst ja die Gerüchte.
Er meinte die Grüchte über die Repressalien, die den Angehörigen jener Lagerbewohner drohten, die sich, ohne ein Entlassungszertifikat erhalten zu haben, aus dem Lager entfernten.
Das irritierte mich. Ich hatte die Professorin und Feministin so verstanden, daß die Teilnahme am Mädchenweihe-Projekt den Erhalt eines Entlassungszertifikates ersetzte, und daß man - hatte man sich entschlossen, sich von den religiösen Faschisten zum ‚Mädchen‘ machen zu lassen - das Lager verlassen konnte, ohne Konsequenzen für seine Angehörigen befürchten zu müssen. Offenbar reichte die Teilnahme an der Mädchenweihe aber nicht. Sie wollten noch etwas anderes.

Der Militärschneider zeigte mir eine Schwarzweiß- und eine
Farbfotografie, die beide den selben Mann zeigten. Auf dem Farbbild war er als Cowboy auf einem Pferd zu sehen. Auf dem Schwarzweißbild trug er einen Trilby-Hut, saß im Führerhaus eines LKW‘s, und hatte, wie beim Singen, den Mund offen.
Paskarani, schoß es aus mir, als handelte es sich um einen Quiz. Paskarani“, der Junge wandte sich wieder an mich, „Paskaran-e-i eigentlich - aber in der Umgangssprache lassen wir das e gerne weg -, war der beliebteste Schauspieler und Sänger unter dem Kaiser. Bekannt wurde er durch eine Reihe von populären Teherano-Western sowie als Sänger klassisch-teheranischer Lieder.

In den Filmen spielte er immer den brutalen Bösewicht, v.a. im Umgang mit Frauen. Das hat aber seiner Popularität bei den Frauen von Teheran keinen Abbruch getan, im Gegenteil wurde er, und wird er noch immer, von den Teheranerinnen verehrt wie ein Gott. In einem Interview für das Zweite Teheraner Fernsehen antwortete er auf die Frage, wie er es erkläre, daß ihn ausgerechnet die Frauen, die er in seinen Filmen auf das brutalste mißhandle, so liebten, mit den Worten: Oskar Kokoschka: Mörder, Hoffnung der Frauen, und verweigerte jede weitere Antwort. Seitdem nennt man ihn in Teheran Oskar, der Mörder.

Nach der Revolution der religiösen Faschisten ging Oskar, der Mörder in die Politik. Wie es hieß, mit der Begründung, daß er als brutaler Bösewicht besser in der Politik der klerikalen Republik Teheran aufgehoben sei als im Film, denn - im Unterschied zu den Filmen unter dem Kaiser - sind die Filme unter den religiösen Faschisten bekanntlich frei von Sex und Gewalt.

Gefällt er Dir?, fragte mich der Militärschneider.

wird fortgesetzt

Samstag, 12. November 2011

Wunderland 34





Alles wird von der Mode geregelt, sagte der Militärschneider










"Zehn Tage später hatte ich den ersten Teil meines Trainings beendet, und durfte das Lager, oder mußte es, verlassen. Ich marschierte mit anderen Kandidaten der Mädchenweihe zu jener Schleuse, die wir nach einem halben Tagesmarsch erreichten. Unsere Trainer – Visagisten, Kleidermacher, Psychoanalytiker, ein Masseur sowie die Professorin und Teheraner Feministin höchstpersönlich – hatten uns empfohlen, uns nach dem Betreten der Schleuse die Augen zu verbinden, was wir auch taten.

Der Abschied von der Professorin und Teheraner Feministin gestaltete sich ganz unzeremoniös, wie man in den Bergen gesagt haben würde, noch unzeremoniöser gestaltete sich der Abschied von dem Mädchen“, der Junge schaute, ganz angestrengt, in sein Bier, als könnte er im Bier seine Vergangenheit sehen, „als sich das Mädchen auf den Weg in das Lager machte, d.h. in das Zentrum des Lagers, hatten wir überhaupt nicht an Abschied gedacht, und schon gar nicht für immer.

Man brachte uns Kandidaten, mit verbundenen Augen, in die besagte Kaserne in Nord-Teheran, in dem das Pilotprojekt stattfinden, und welches das erste der Mädchenhäuser beherbergen sollte - dazu kam es aber nicht.
In der Kaserne ging es wie in einer Kaserne zu, mit Tagwachen, Stockbetten, Schlafsälen, und Spinden, die man regelmäßig inspizierte. Außer uns ‚Mädchen‘ gab es nur ‚Trainer‘, die Soldaten zu sein schienen, sie trugen jedenfalls Uniformen, auch wenn ihr Benehmen alles andere als soldatisch erschien. Mal feierten sie - teils für sich, teils mit uns – die Nacht, oder mehrere Nächte hindurch, tanzten, sangen, und sauften vor allem, und kifften auf Teufel komm raus. Es gab das Gerücht, daß sie, wenn sie für sich feierten, die besten Huren Teherans kommen ließen. Daß sie die Huren vor uns geheim hielten, war wohl ihrem Bemühen geschuldet, unsere keimende Identität als Mädchen nicht zu gefährden. Dann legten sie wieder die scheußlichste Kasernenpedanterie an den Tag, und drohten bei der geringsten Unordnung in unseren Spinden mit grausamen Strafen durchwegs körperlicher Natur, aber sie rührten uns niemals an, als wären wir schon Mädchen, die man mit Zartgefühl zu behandeln hat, und die man notfalls bedrohen, aber nicht anfassen darf.

Auch verfügten die ‚Trainer‘ in unserer Kaserne über keine der Kompetenzen der Trainer im Lager. Weder gab es Psychoanalytiker unter ihnen, noch Kleidermacher, noch Visagisten, oder doch einen Kleidermacher, den sie Militärschneider nannten, und der wie der schnauzbärtige Athletische aussah (der nun mein Kurs- und Schlafsaal-Kollege war) ohne aber athletisch zu sein. Der Militärschneider hatte den Auftrag Uniformen für uns zu entwerfen, welche zwar einerseits - weiß Gott warum - als Militäruniformen erkennbar sein sollten, sich andererseits aber von den Militäruniformen der ‚Trainer‘ unterscheiden sollten. Das alles wußten wir, weil uns der Militärschneider regelmäßig in Werkstattgesprächen, wie er sie nannte, Einblicke in seine Arbeit zu geben versuchte. Er saß in einer Art Klassenzimmer auf einem Tisch, neben sich einen Stapel Modezeitschriften aus Teheran und Paris. Wir hegten den Verdacht, daß er vom Schneidern und von der Mode keine Ahnung hatte, aber er redete viel, und schien belesen zu sein. Alles wird von der Mode geregelt war sein Lieblingszitat, das er einem Pariser Schriftsteller des 17. Jahrhunderts zuschrieb. Und am Ende eines jeden Werkstattgesprächs mußten wir ihm die folgenden Zeilen oder Verse nachsagen:

Es gibt keine Mode außer der Mode

Beständig in der Unbeständigkeit

Vollkommen in der Unvollkommenheit

Macht der Modische, was die Anderen machen, um anders zu sein als die Anderen


Diese Zeilen oder Verse nannten meine Mit-Kandidaten das Bekenntnis des Militärschneiders resp. das Mode-Gebet, und als einer der Kameraden sich über das Mode-Gebet einmal lustig machte, wurde uns tags darauf mitgeteilt, daß wir nach dem Aufstehen und vor dem zu Bett gehen das Mode-Gebet aufzusagen hatten, so wie wir im Lager nach dem Aufstehen und vor dem zu Bett sagen mußten, daß wir es liebten, Mädchen zu sein. Da dämmerte es uns, wie mächtig der Militärschneider war, den wir für einen Clown gehalten hatten".

wird fortgesetzt