Samstag, 28. April 2012

Wunderland 42

"Ja", sagte der Feine. "Als ich ... mit dem Mädchen, in der Villa von Sam, ich meine mit dem Mann ... da lief ein Video. Irgendwo im Zimmer stand ein Fernsehgerät, ich konnte es nicht sehen, aber ich hörte die Stimmen. Als ich das Mädchen, ich meine den Mann ... lief die ganze Zeit dieser dämliche Film."

Während der Feine diese seine letzten Worte sagte, beobachtete ich den Jungen. Dessen Augen blitzten, als der Feine in der Villa von Sam sagte. Dann schloß er sie.

„Ein scharfes Messer“, sagte er, zu der Kellnerin, die mich - blond, wie gesagt, und ein wenig drall - an eine Isabella erinnerte. Sie hatte sich, während der Feine diese seine letzten Worte gesagt hatte, auf den Tisch zubewegt, und stand hinter dem Jungen, so daß er sie, zumal mit geschlossenen Augen, nicht wahrgenommen haben konnte.

Die Kellnerin nickte - und war sofort wieder da, während ihrer Abwesenheit hatte keiner etwas zu sagen, und legte das Messer auf den Tisch. Ich kannte das Messer. Natürlich. Es war das Messer, das japanische Messer, das die Eltern aus Japan mitgebracht hatten, und das die Mutter Mein bestes Stück genannt hatte.

Was jetzt passiert, soll schnell passieren. Ich hatte einmal ein Krimi gelesen. Auf Deutsch natürlich, die Sprache Teherans habe ich vergesssen, ich sagte es schon, d.h. nicht ich habe den Krimi gelesen, sondern ein Freund, ein Schräger, von dem sie sagen, er hatte nie eine Frau. Nicht, daß er nicht gewollt hätte. Mein Freund hat mir wiederholt die Schlußszene jenes Krimis erzählt. Die Geliebte eines Kommissars, oder Detektivs, erweist sich als Verbrecherin. Er muß sie totschießen, und während er sie totschießt, spricht er mit ihr. Der Schlußsatz des Krimis, den der Schräge, wie einen heiligen Text, immer wieder wiederholte, lautete: Es dauerte Sekunden bis er zu einer Leiche sprach.

So soll es sein. D.h. Nein. Eben nicht. Nur das Messer soll sein, das japanische, auf dem Tisch der Deutschsprachigen Gemütlichkeit, das die Eltern aus Japan mitgebracht haben. Dann die Leiche. Ohne Übergänge. Das Messer, die Leiche - die Zeit dazwischen aber nicht.

„Das wünschst Du Dir?“, sagte das Frauengesicht, von der ich sagte: „Aber hätte es nicht sein können, daß ich, sobald ich aus der Fahne heraus war, statt jenem Frauengesicht drei Männern begegnet wäre - den Brüdern -, die mich gefragt hätten: ‚Ist alles in Ordnung?‘“

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Donnerstag, 26. April 2012

Wunderland 41

„Es dauerte lange bis ich unser Namenschild fand, so kam es mir jedenfalls vor, obwohl ich das Gefühl hatte - oder gerade weil -, ich befände mich außerhalb der Zeit.“

Der Junge wandte sich an mich, „Auf unserem Namensschild stand unser Nachname“, der Junge nannte einen Teheraner Namen, „dann der Name der Mutter“, der Junge nannte wieder einen Teheraner Namen „dann der Name des Vaters.“ Jetzt nannte der Junge einen Namen, den ich erinnere: Kaveh. Kaveh ging mir nach meinem Aufenthalt in jener Provinzstadt nicht aus dem Kopf, ich weiß nicht warum, im Internet fand ich den folgenden Eintrag:

'Kaveh, der Schmied, eine Gestalt der Teheraner Mythologie. Der Sage nach soll er den Aufstand gegen den grausamen arabischen Fürsten Hamadom angeführt haben. Die Geschichte des Aufstands wurde im Buch der Elefanten verewigt. Kaveh benutzte seine Schmiedeschürze als Flagge des Aufstands.

Das Schurzfell, womit sich die Füße decken
Die Schmiede, wenn sie das Eisen strecken,
Das steckte der Kav' auf ein Lanzenrohr,
Da stieg vom Markte der Staub empor ...'

„Als ich läuten wollte“, sagte der Junge „bemerkte ich, daß der Name der Mutter auf dem Namensschild durchgestrichen war“.

In der Deutschsprachigen Gemütlichkeit war es still, der Junge sah den Feinen an, dann den Groben, ganz still aber nicht - es gab vereinzelt Geräusche, als befände sich auch die Deutschsprachige Gemütlichkeit außerhalb der Zeit, wie die Straße des Jungen.

Die Stille war mir peinlich und wurde umso peinlicher, je länger sie anhielt. Auf einmal fiel mir meine Frage über Teheran ein.

„Ich erinnere mich“, sagte ich - an Teheran.“

Der Feine sah mich wie aufmunternd an, wie man ein Kind aufmunternd anschaut, hätte ich vorhin etwas derartiges gesagt, auf der Straße, wäre es nicht der Feine gewesen, der mich wie aufmunternd angeschaut hätte, sondern der Junge, aber dieses vorhin schien nicht Stunden her, sondern Jahre.

„Ich erinnere mich“, sagte ich, „an Teheran. D.h. ich erinnere mich nicht. In den 70er Jahren gab es eine Fernehserie, aus Amerika, Sarsamine Ajayeb“, die einzigen Worte der Sprache Teherans übrigens, die ich erinnere, das S am Anfang von Sarsamin ist stimmlos, das in der Mitte stimmhaft, das A am Anfang von Ajayeb ist hell, das in der Mitte dunkel. Sarsamine Ajayeb: Wunderland.

„Wir haben keine Fernsehserien aus Amerika geschaut“, sagte der Feine, wie stellvertretend für seine Brüder. Wie der Grobe und der Feine, während der Junge gesprochen hatte, in Trance versunken schienen, erschienen mir jetzt, während der Feine sprach, der Grobe und der Junge erstarrt.

„Eigentlich kann ich mich nur an eine - einzige - Folge erinnern, d.h. an einen Teil einer Folge, aber dieser Teil einer Folge geht mir nicht aus dem Kopf. Ich möchte wissen, wie sie weitergeht.“

Ich wunderte mich über mich, daß ich meine Frage endlich gestellt hatte. Und ausgerechnet während des peinlichen Schweigens. Aber warum es überhaupt des Mutes bedurft haben sollte, eine solche Frage zu stellen, war mir nicht klar.

„Soweit ich mich erinnere“, sagte ich, „ist Wunderland die Geschichte eines Raumschiffs, das sich im Weltall verirrt, und auf einem Planeten landet, dessen Bewohner Riesen sind, wie die Bewohner von Brobdingnag in Gullivers Reisen. Wunderland heißt im Original Land of the Giants.

In der Folge, an die ich mich erinnere, resp. nicht erinnere, entdecken die Besatzungmitglieder jenes Raumschiffs eine verlassene Stadt, im Maßtab einer Stadt der Erde. Die Stadt ist eine Spielzeugstadt, die ein alter Mann, ein Riese, gebaut hat. Der Alte lädt die Erdenbewohner ein, seine Spielzeugstadt zu bewohnen, aber seine Enkelin quält unsere Helden und will sie töten. Mehr erinnere ich nicht. Ich wollte fragen, ob Ihr wißt, wie die Folge weitergeht. Aber wenn Ihr sagt, daß Ihr keine amerikanischen Serien geschaut habt -“

„Moment“, sagte der Feine, „diese Folge habe ich … wie hieß die Serie?“

Wunderland“, sagte ich.

„Ja.“ sagte er. „Als ich ... mit dem Mädchen, in der Villa von Sam, ich meine mit dem Mann … da lief ein Video. Irgendwo in dem Zimmer stand ein Fernsehgerät, ich konnte es nicht sehen, aber ich hörte die Stimmen. Als ich das Mädchen, ich meine den Mann … lief die ganze Zeit dieser dämliche
Film.

wird fortgesetzt

Sonntag, 15. April 2012

Wunderland 40

„Irgendwann hatte ich den Park, ohne es zu bemerken, verlassen, oder den Garten, oder was immer es war, mir war klar, daß ich in Teheran war, die Menschen und die Straßen waren die Menschen und die Straßen Teherans, aber etwas war anders, auch der Himmel schien der gleiche - und doch ein anderer zu sein. Wie lange war ich im Lager, resp. im Militärgebäude gewesen? Zwei Wochen? Zwei Monate? Ich wußte es nicht, aber es war, als seien nicht Monate oder Wochen sondern Jahre vergangen.

Als Kind hatte ich auf Anregung unserer Mutter eine aus dem Amerikanischen in die Sprache Teherans übersetzte Erzählung gelesen: Zwanzig Jahre unter dem Bett. Die Handlung hatte ich schon damals, als ich aus dem Modesalon flüchtete, fast vergessen, ich erinnere mich nur an einen Jungen, dessen Eltern am Abend fortgehen, er bleibt mit seinen Geschwistern alleine zuhause, sie streiten - die Geschwister sind älter - und der Junge verkriecht sich einem Zimmer des weitläufigen Hauses, unter dem Bett einer schlafenden Oma oder Tante, ich weiß es nicht mehr, und wartet bis die Eltern zurückkommen, um ihn zu befreien, er wartet, und das Warten erscheint ihm unendlich - Zwanzig Jahre unter dem Bett.

Ohne es angesteuert zu haben, stand ich auf einmal vor dem Tor unseres Hauses. Ich erschrack. Ich hatte unsere Straße nicht wiedererkannt. Ich sage Straße, aber hier, in den Deutschsprachigen Bergen, hätte man zu unserer Straße Gasse gesagt, eine Sackgasse, am Ende eine Ziegelsteinmauer, und dahinter ein Garten mit Zypressen und hohen Platanen. Die Mauer gab es nicht mehr. Wo der Garten gewesen war, standen, statt den Zypressen und den hohen Platanen, Baumaschinen und Kräne, dicht aneinander gedrängt, auf unserer Straße standen ebenfalls Baumaschinen und Kräne, aber hintereinander, und bildeten eine Schlange.

Obwohl unsere Straße, und das Gelände, auf dem sich der Garten befunden hatte, jetzt eine Baustelle waren, war es in unserer Straße ganz still, im Unterschied zu den lauten und lebendigen Straßen, die ich wie ein Schlafwandler auf dem Weg vom Modesalon zu unserer Straße zurückgelegt hatte. Die Baustelle war verlassen. Die Baumaschinen wirkten wie Teile einer gigantomanen Installation eines Teheraner Künstlers oder wie Abbilder von vielen - trotz ihres Aneinander-Gedräntseins - einsamen Göttern. Weder Bauarbeiter noch Passanten waren zu sehen, und wenn ich mich richtig erinnere, sah ich nicht einmal parkende Autos. Ganz still stimmt aber nicht. Es gab vereinzelt Geräusche, die mir - als ich unseren Namen auf der Gegensprechanlage suchte, als sei ich ein Fremder - rhythmisch erschienen, wie das Ticken einer Uhr.

Dennoch hatte ich das Gefühl, ich befände mich außerhalb jeder Zeit, und die Stille zwischen den Ticks sei die Stille eines aus der Ordnung der Zeit gefallenen Ortes.“

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