Donnerstag, 20. März 2008

Wo ich herkomme


Wo ich herkomme, behaupten die Menschen, ihre Sprache sei Deutsch. Aber schon damals als ich dort, wo ich herkomme, ankam, wurde mir klar, daß die Menschen dort, wo ich herkomme, nicht wirklich ein Deutsch sprechen. Was die Menschen dort, wo ich herkomme, sprechen, war damals - und ist auch heute - nur scheinbar ein Deutsch, in Wahrheit war es – und ist es auch heute - ein falsches, verrenktes, verzogenes Deutsch, einmal fragten sich plötzlich drei meiner seinerzeit pubertierenden Schulkameraden - es waren der Ehrenfried, der Kurt, der Leopold, die allesamt von dort, wo ich herkomme, gebürtig waren - in der Nacht während eines Schulskikurses, in den Stockbetten der Jugendherberge von F., einmal fragten sich plötzlich drei meiner seinerzeit pubertierenden Schulkameraden, wie sie denn als zukünftiger Mann im Deutsch der Menschen von dort, wo ich herkomme, einer Frau sagen können würden, daß sie sie liebten. Meine seinerzeit pubertierenden Schulkameraden versuchten, ein jeder ein Kopfkissen in Vertretung seiner zukünftigen Geliebten vor sich haltend, mehrere Varianten des Liebesbekenntnisses im Deutsch der Menschen von dort, wo ich herkomme. Alle Varianten waren verrenkt, verzogen und falsch, sodaß alle drei meiner damals pubertierenden Schulkameraden begriffen, daß man im Deutsch der Menschen von dort, wo ich herkomme, niemandem sagen könne, daß man ihn liebe, und schon gar keiner Frau.

[...]

Dort, wo ich herkomme, schützen sie sich mit dem Gallert ihrer Sprache vor aller Welt - schlimm ist die Welt für die Menschen dort, wo ich herkomme, vor allem jenseits ihrer Landesgrenzen - man kommt aber, wenn man, wie ich, irgendwann einmal dort, wo ich herkomme, angekommen und aus Gründen, die man wieder vergessen hat, geblieben ist, und man hin und wieder, in den Ferien wenigstens, von den Menschen dort, wo ich herkomme seine Ruhe haben will – man kommt aber in keinem Land dieser Welt um die Begegnung mit den Menschen von dort, wo ich herkomme, herum.

[...]

Ich behaupte: Dort, wo ich herkomme, täten die Menschen besser daran, zu verstummen. Das Verstummen der Menschen dort, wo ich herkomme, würde mehr bedeuten, behaupte ich, als ihr Reden, da die Menschen dort, wo ich herkomme, wenn sie reden, doch nicht sagen, was sie wollen - im Gegenteil wollen die Menschen dort, wo ich herkomme, wenn sie reden, das, was sie wollen, am Verlassen ihrer Mundhöhlen hindern: Zum einen will das, was die Menschen dort, wo ich herkomme, wollen, aus ihren Mündern hinaus und in das Ohr ihres Gegenübers hinein, zum anderen wollen die Menschen dort, wo ich herkomme, wenn sie schon einmal etwas wollen, ihr Wollen auf keinen Fall auslassen, dort, wo ich herkomme, bringt man den Kindern schon bei, ja nichts auszulassen:

Wenn man Dir gibt,
Dann nimm,
Wenn man Dir nimmt,
Dann schrei.
Was Du hast,
das laß nie aus.

[...]

Man kann auch sagen: Der Mensch von dort, wo ich herkomme, kotzt, wenn er redet, unter vorgehaltener Hand.
Nur wenn er ordentlich auf die Schnauze gefallen ist, kotzt der Mensch von dort, wo ich herkomme, ohne die Hand vor dem Mund zu halten, im hohen Bogen, um vielleicht eine Brücke zum Nebenmenschen zu schlagen, in der Regel ist der Angekotzte ein Fremder oder Minderheitenangehöriger.
Dort, wo ich herkomme, kommt der Fremde resp. der Minderheitenangehörige in der Regel aus dem Lappland oder aus Honolulu. Die Menschen dort, wo ich herkomme, bezeichnen aber die Fremden nicht als lappländische oder als honoluluische Mitbürger, wie es sich gehörte, sondern als Läppische oder Honoluluische, und bringen ihren Kindern bei, daß alles Übel der Welt von den Honoluluischen käme resp. von den Läppischen, und daß die Läppischen und die Honoluluischen es sich in Wahrheit immer richteten und das Volk von dort, wo ich herkomme, übervorteilen würden. Dort, wo ich herkomme, leben die Menschen in der aufrichtigen Sorge, daß ihr Leben von der fremden Art der Läppischen und Honoluluischen nach und nach überwuchert werden könnte, manche behaupten, der Atem und die Gerüche der Läppischen und der Honoluluischen würden die heimatlichen Winde und Lüfte und Sonnenstrahlen und Wolken verändern, so daß das Klima dort, wo ich herkomme, seinen Eigencharakter zu verlieren drohte, wofür sie den Ausdruck Umwolkung geschaffen haben, auch ich bin, wenn ich es recht bedenke, seinerzeit als Läppischer oder als Honoluluischer dort hin gekommen, wo ich jetzt her komme, aber so wie sie dort, wo ich herkomme, behaupten, das Wetter habe sich dort, wo ich herkomme, durch das Fremde verwandelt, so habe auch ich mich im Laufe der Jahre verwandelt, und habe über die Zeit bevor ich dort, wo ich herkomme, ankam, nichts mehr zu sagen.

Dienstag, 19. Februar 2008

Der, der sterben wird




Der folgende Text entstand knapp vor der Jahrtausendwende.

Der, der sterben wird

Der, der sterben wird, steht neben mir am Grab. Wir sprechen über den, der schon tot ist. Den, der sterben wird, kenne ich kaum. Fünf oder sechs Mal habe ich mit ihm gesprochen, immer im Café C., immer in Gesellschaft anderer, Älterer. Ich hatte angenommen, der, der sterben wird, habe Familie, Kinder, vielleicht Enkelkinder.
Der, der sterben wird, hat die Stimme eines Jungen. Er ist groß und kräftig gebaut, die Frauen sagen, er sei schön. Beim Begräbnis dessen, der schon tot ist, glänzt seine hellbraune Halbglatze in der Sonne. Der, der sterben wird hat silbergraue Haare und einen schwarzgrauen Schnurrbart.
„Wie kann man nur im Mai sterben?”, fragt er mich, als sei ich dafür verantwortlich, daß der, der schon tot ist, im Mai gestorben ist. Der, der sterben wird, wird im Juni sterben.

Meine Schwester, die Biologin, spricht über Mai- und Junikäfer. Beim Begräbnis dessen, der schon tot ist, steht sie in der Schlange derer, die warten, um eine Blume auf den Sarg werfen zu können, hinter mir. Ich stehe hinter dem, der sterben wird. Um die Maikäfer von den Junikäfern zu unterscheiden, brauche man keinen geschulten Blick, sagt meine Schwester, die Biologin. Die Farbe des Junikäfers sei goldbraun, die des Maikäfers hingegen rotbraun.
Der, der schon tot ist, war mit dem Fahrrad in der Mittagshitze zu einem Badesee unterwegs. Es war ein für dieses Land ungewöhnlich heißer Maitag gewesen. Niemand wüßte, woran der, der schon tot ist, gestorben sei, sagt sein Chef, der Primarius, bei der Grabrede. Der, der schon tot ist, war Arzt im Landeskrankenhaus in D. Immer hat er sich abfällig über die Patienten geäußert, sagt meine Schwester, die Biologin. Er sei der alten, häßlichen, chronisch kranken Patienten überdrüssig, habe er immer wieder gesagt, er wünsche sich nur junge und hübsche Patienten. In den Zeitungen steht, der, der schon tot ist, sei bei den Patienten äußerst beliebt gewesen. Gerade die Älteren, berichtet auch meine Schwester, die Biologin, hätten ihn in Wahrheit geliebt.

Ich denke, vielleicht hat den, der schon tot ist, ein Insekt gestochen. Selbstmord oder Mord seien unwahrscheinlich, sagt sein Chef, der Primarius vom Landeskrankenhaus in D. Die Eltern dessen, der schon tot ist, hätten ihn gebeten, bei seiner Grabrede etwas über die Todesursache zu sagen. Im Moment könne man über die Todesursache noch gar nichts sagen, sagt der Primarius, man müsse auf den Befund der Gerichtsmediziner warten.

Der, der schon tot ist, war dreißig Jahre jünger, als der, der sterben wird. Meine Schwester, die Biologin meint, der, der sterben wird, sei über Ecken mit dem, der schon tot ist verwandt.
Ich kenne den, der schon tot ist, von früher. Seitdem ich in W. bin, habe ich ihn aus den Augen verloren. Mit zwanzig - der, der schon tot ist, war zweiundzwanzig - war ich mit ihm, seiner hübschen jüngeren Schwester und einigen jungen hiesigen Menschen, eine Woche Skifahren in F. Während der Skiwoche hatte ich mit dem, der schon tot ist, ständig Streit. Er verspottete und kränkte mich in einem fort. Bei jeder Gelegenheit hat er mich gekränkt und verspottet, denke ich, als der Regionalsender meldet, ein Arzt, ein Landsmann, 37, der in G. wohnt und im Landeskrankenhaus D. arbeitet, sei tot in seiner Wohnung aufgefunden worden.
Die Provinzzeitungen, auch die fremdenfeindliche, schreiben gut über den, der schon tot ist. Der, der schon tot ist, schreiben sie, stamme aus M. und sei bei seinen Patienten äußerst beliebt gewesen. Sie hätten schreiben wollen: Der, der schon tot ist stammt aus M. und sei dennoch bei seinen Patienten äußerst beliebt gewesen.

Dem der sterben wird, ist zu Ohren gekommen, daß ich, der ich das Land verlassen werde, über die Menschen dieses Landes zu klagen gewohnt sei. Daß ausgerechnet ich über die Menschen dieses Landes zu klagen gewohnt sei, habe ihn überrascht, sagt der, der sterben wird - ich, der ich hier geboren und aufgewachsen sei. Es trennen uns drei Grabsteine vom Grab dessen, der schon tot ist. Gefreut habe er sich, sagt der, der sterben wird, daß ich, der ich hier geboren und aufgewachsen sei, gewohnt sei, mich über die Menschen dieses Landes abfällig zu äußern. In seinen Augen, sagt der, der sterben wird, sei mein Wert, jetzt, da er wüßte, daß ich mich über die Menschen dieses Landes abfällig zu äußern gewohnt sei, außerordentlich gestiegen. Er, der hier wirklich fremd sei, hätte üble Erlebnisse mit den hiesigen Menschen gehabt. Er hätte es mir gegenüber aber nie gewagt, davon zu sprechen, weil er angenommen hätte, daß ich, der ich hier geboren und aufgewachsen sei, zu den Menschen dieses Landes gehöre.
Ich lache. Wir sind jetzt nur mehr einen Grabstein vom Grab dessen, der schon tot ist, entfernt. Sie irren sich, korrigiere ich den, der sterben wird. Nie und nimmer werde ich mich hier zugehörig fühlen, sage ich. Auf Schritt und Tritt, sage ich, weisen sie einen darauf hin, daß man nicht zu ihnen gehöre. Die Sache sei nicht etwa die, flüstere ich, wir stehen jetzt am Grab dessen, der schon tot ist, die Sache sei nicht etwa die, daß es in diesem Land keine guten Menschen gäbe. Gar nicht wenige der Menschen dieses Landes seien durch und durch gute Menschen - bessere Menschen jedenfalls als die Menschen aus M. Die Sache sei die, daß ich den Menschenschlag dieses Landes nicht schmecken könne, sage ich und rümpfe die Nase, die Sache sei die, daß ich den Menschenschlag dieses Landes nicht riechen könne, lache ich, ich stehe am Grab dessen, der schon tot ist und kann nicht mehr aufhören zu lachen.

Der, der sterben wird, wird in der Fremde sterben. Sein Körper wird sich in der Erde des fremden Landes auflösen. Mit der Zeit wird sich die Erde, in der er sich aufgelöst haben wird, mit der Erde, in der die Körper der Menschen dieses Landes sich aufgelöst haben werden, vermischen. Die Lippen, die Augen, die Zunge, die Nase, das Kinn dessen, der sterben wird, wird sich mit den Gesichtern der Menschen des Landes vermischen. Nie hätte sich der, der sterben wird, gedacht, daß sein Körper und sein Gesicht für immer in dem fremden Land bleiben könnten. Nie hätte sich der, der sterben wird, gedacht, daß seine Nase und seine Zunge irgendeinmal ein Stück des Landes werden könnten, das er nicht riechen und nicht schmecken konnte.

Das Gesicht dessen, der streben wird, ist ein Widerspruch. Seine hohe Stirn, die langgezogene Nase, die tiefliegenden Augen, der zornige Blick gehören zu einem starken Gesicht, einem Männergesicht, rauh. Noch die Oberlippe dessen, der sterben wird, ist hart. Aber schon die Unterlippe ist sanfter, ragt aus dem Männergesicht heraus, hängt weich, ratlos, wie erwartungsvoll herab. Der, der sterben wird, hat das Gesicht eines Mädchens, ein zartes Mädchengesicht, ein Gesicht, an dem man mit feiner Klinge geschnitzt hat. Der, der sterben wird, hat das Gesicht eines großen, verzärtelten Mädchens.

Der, der sterben wird, wird im Juni sterben. Im Café C., wo ich den, der sterben wird, über den väterlichen Freund kennengelernt habe, wird der väterliche Freund vor dem Rotweinglas sitzen und auf den Boden starren. Als er mich sehen wird, wird er aufstehen und wie immer über das ganze Gesicht zu strahlen versuchen. Die Augen des väterlichen Freundes werden jedoch glanzlos sein.

Ich will eine Parte aufgeben, wird der väterliche Freund sagen und mich länger anschauen als sonst. Ich spreche die Sprache des Landes nicht gut, wird er in unserer Heimatsprache sagen. Es ist nicht selbstverständlich, daß mich der väterliche Freund in der Sprache unserer Heimat anspricht. Oftmals, wenn der väterliche Freund über ein Buch, das er gelesen hat, dozieren möchte, verfällt er in die Sprache dieses Landes. Auch wenn er mir einmal ein neues Buch in der Sprache unserer Heimat auseinanderlegen will, bringt er die Höhepunkte seiner Rede – Worte und Sätze, die man, wenn sie sie geschrieben wären, mit Leuchtschrift markiert hätte - in der Sprache dieses Landes. Auch bei unserem ersten Treffen nach dem Tod dessen, der sterben wird, wird der väterliche Freund in der Sprache unserer Heimat beginnen, das Wesentliche aber in der Sprache des Landes sagen, in dem der, der sterben wird, zu liegen gekommen sein wird. Ich möchte eine Parte schreiben, wird der väterliche Freund sagen und meinen Blick festzuhalten versuchen. Tu mir, wird der väterliche Freund sagen, einen Gefallen. Du bist hier geboren - schreib mir doch eine Parte in der Sprache des Landes.
Ich werde mich verwirrt zeigen. Wie soll ich, werde ich fragen. Ich kannte den, der sterben wird nicht.
Schreib, wird der väterliche Freund sagen, „in tiefer Trauer”, schreib „mit Bestürzung”, schreib „mein bester Freund”, schreib „mein politischer Kampfgefährte”. Obwohl der väterliche Freund in der Sprache unserer Heimat begonnen haben wird, wird er die Worte in Anführungszeichen in der Sprache dieses Landes sagen. Die letzte Silbe eines jeden Wortes wird er dehnen und, während er seine Laute dehnt, mich noch eindringlicher ansehen als ohnehin schon. Nach der letzten Silbe eines jeden Satzteils, wird er seine Hände bogenförmig krümmen und vor seiner Brust halten, als wäre er eine Frau, die ihren großen Busen mit den Händen umfaßt und abschirmt.

Nach dem Tode dessen, der sterben wird, werde ich mich an eine Episode erinnern, die ich schon für vergessen gehalten haben werde. Im Regen, an einer befahrenen Kreuzung im Zentrum, wo die Autos, rücksichtslos schnell von der B.- in die K.-Straße hineineinbiegen, war der, der sterben wird, das Fahrrad mit der Rechten schiebend, und in der Linken einen rotweißrot gestreiften Familienschirm, über den Schutzweg gegangen. Ich stand, um mich vor dem Regen zu schützen, unter den Kolonnaden des Postamts und beobachtete ihn. Ein weißer Ford mit einem Provinzkennzeichen war rasant von der B.- in die
K.-Straße eingebogen und hatte keinerlei Anstalten gemacht, vor dem Schutzweg, den der, der sterben wird, schon betreten hatte, anzuhalten. Der, der sterben wird, hatte so getan, als hätte er das Provinzauto nicht bemerkt. Dann, als das Auto vor ihm gebremst hatte, abrupt und wie unwillig, knapp bevor er den, der sterben wird, überfahren hätte, hatte sich der, der sterben wird umgedreht und das Provinzauto angestarrt. Dann hatte er eine Kopfbewegung nach oben gemacht und dem Fahrer etwas mir Unverständliches zugerufen. Der Fahrer, ein weißhaariger Provinzler, seine Frau neben sich im Beifahrersitz, hatte ebenfalls eine Kopfbewegung gemacht, eine weiche, wiegende Bewegung nach links, als hätte er dem, der sterben sagen wollen: „Verputz Dich!“
Der, der sterben wird, war weitergegangen und hatte den Provinzler vorbeifahren lassen. Dann hatte er sich, abrupt wie zuvor, nach rechts gedreht, die Faust in die Höhe gestreckt - und „Arschloch!“ gebrüllt.
Der, der sterben wird, hatte das „Arschloch!” in der Art der Menschen des Landes, gebrüllt, aus dem er herkommt (und aus dem auch ich herkomme). Ein „Arschloch!“ mit einem dunklen A, einem rollenden R und einer über alle Maßen gedehnten zweiten Silbe, die sekundenlang, trotz des heftiger werdenden Regens, nachzuhallen schien. Den ganzen „Arschloch!“ hatte der, der sterben wird, so weich ausgesprochen, und so warm, das es wie eine Liebkosung geklungen hatte, die einer mitten auf der Straße steht und hinausbrüllt, damit alle Welt weiß, daß er liebt.

Sonntag, 27. Januar 2008

Hegel und die Geheimnisse der alten Ägypter





Ganz unerwartet bringe ich doch wieder einen Teil meines Romans Ungläubig (Arbeitstitel).

Um ein Minimum an Zusammenhang mit den im Dezember veröffentlichten Passagen herzustellen sei angemerkt:

Arman Kalami
ist ein im Grazer Exil wohnhafter altlinker Berufsrevolutionär, der mithilfe seines Freundes und Hausgenossen
Danusch Bastani, dem charismatischen, zeitweise psychotischen Onkel von
Arasch Bastani
die Teheraner Revolution von 1979 "auf den Kopf stellen" möchte.
D.h., er will den Prozeß, der 1979 eine ursprünglich säkulare Revolution in eine religiöse verwandelte, umdrehen: Mit einer religiösen Revolution beginnen, die der charismatische Danusch Bastani als eine Art Messias anführen soll, und diese in weiterer Folge in eine "normale marxistisch-säkulare" Revolution überführen.
Als sich Danusch endlich bereit erklärt, an Kalamis revolutionärem Projekt mitzuwirken, ist seine Mitarbeit an eine Bedingung geknüpft: Kalami soll Danuschs Neffen Arasch - der ebenfalls in Graz lebt - zu ihm bringen, damit dieser sein Mund sei ...


Arman Kalami an das Zentralkomitee

Wertes Zentralkomitee,

Was genau diese Worte

Bring mir meinen Neffen, daß er mein Mund sei

tatsächlich bedeuten, bin ich nicht sicher, womöglich: Bring mir meinen Neffen, daß er mein Sprachrohr sei?, aber warum sagt er Mund, wenn er Sprachrohr sagen will und das Wort Sprachrohr ansonsten durchaus verwendet, z.B. wenn er sich als

Sprachrohr Gottes

bezeichnet, auch - und gerade - in seinen psychotischen Schüben, so daß man nicht behaupten wird können, er habe Sprachrohr sagen wollen und habe ihm die Psychose das Sprachrohr im Mund umgedreht, obwohl ich auch das nicht ausschließen würde, im Grunde ist es mir wurscht, wertes Zentralkomitee, was Danusch mit diesem

Bring mir meinen Neffen, daß er mein Mund sei

gemeint haben könnte, er wird es selber nicht wissen, so wie Hegel gesagt haben soll, die Geheimnisse der alten Ägypter sind auch für die alten Ägypter Geheimnisse gewesen. Als ich Arasch mitteilte, daß sein Onkel bei mir hier in Graz wohnt, wurde er panisch und war er aber bemüht, seine Panik vor mir zu verbergen. Ich bin ein Soldat der Revolution, wertes Zentralkomitee, und habe ich gelernt, auch brutal zu sein, wenn es sein muß, d.h. wenn es zweckdienlich ist, es fiel mir deshalb nicht schwer, die Panik Arasch Bastanis zu nützen und statt, wie für Teheraner typisch, voller Rücksicht zu fragen, ob er womöglich bereit wäre, mir die Ehre zu geben, seinen Onkel bei mir zu besuchen, sagte ich bloß: Ich wohne am Rosenhain - zu Fuß oder Taxi? Ich hatte meine Frage kaum zu Ende gefragt, da stand Arasch schon auf, wertes Zentralkomitee, er wankte und nahm er seine Tasche zur Hand und sah er dabei, wie soll ich sagen, wie ein Märtyrer aus, obwohl er ungläubig ist, Gehen wir, sagte er und wankte er, ohne aber auf mich zu warten, zum Ausgang. Ich ging zur Kellnerin und bezahlte ich, wertes Zentralkomitee, unsere beiden Getränke, die Rechung lege ich bei. Daß Arasch auf das Zahlen vergaß und folglich ich für ihn zahlen mußte, zeigt das Ausmaß seiner Konfusion, denn niemals läßt sich ein Teheraner einladen - auch ein in Graz aufgewachsener nicht - ohne daß er das Angebot, eingeladen zu werden, zwei oder dreimal zurückweist. Ich ging auf die Straße hinaus, wo ich Arasch antraf, heftig atmend, und war er offensichtlich in Panik, jedoch versuchte er sich, sobald er mich aus dem Café treten sah, zu beherrschen und langsam zu atmen, so daß sein an und für sich schmales Gesicht immer aufgeblasener wurde. Man geht vom Theatercafé zu meinem Haus am Rosenhain etwa dreißig Minuten, Arasch wurde gesprächig, sobald wir aufgebrochen waren, als wollte er die Panik durch sein Sprechen vertreiben, er fürchte sich, sagte er, seit seiner Kindheit vor Danusch, den er ja nur aus Erzählungen kennt, resp. vor dessen Psychose - bestimmte Worte und Sätze, die Danusch in seiner Psychose gesagt haben soll, hält Arasch für, wie soll ich sagen, infektiös, d.h. daß er glaubt, auch er könnte, sobald er einen dieser Worte oder Sätze denken oder aussprechen sollte, psychotisch werden, man hat ihn im Alter von dreizehn ja tatsächlich in eine Anstalt für Psychosen der Jugend gesperrt, weil er an einen dieser Sätze, die Danusch in seiner Psychose ausgesprochen haben soll, denken hatte müssen, in den Bergen nördlich von Nord-Teheran hatte Danusch Bastani in den sechziger Jahren dem Großvater von Arasch Bastani, d.h. dem Schwiegervater seines Bruders Pedram Bastani, die Vision eines Welt-Zentralkomitees auseinandergelegt, welche nach einer sozusagen von Gott ausgehenden Weltrevolution installiert werden würde, mit Danusch als oberstem Führer. Das Welt-Zentralkomitee, so Danusch, müßte zehn Mitglieder umfassen, und müßten diese Zehn einen Vorsitzenden wählen, den Weltzentralausschußpräsidenten, der Großvater hätte gefragt: Wie, wenn es bei der Wahl des Weltzentralausschußpräsidenten zur Stimmengleichheit käme?, woraufhin Danusch gesagt hätte: Sie müssen noch einmal wählen und noch einmal wählen und hatte er dieses nocheinmal wählen so oft wiederholt, bis der Großvater ihn durch eine Ohrfeige hätte zur Räson bringen müssen. Von diesem Gespräch in den sechziger Jahren in den Bergen nördlich von Nord-Teheran und von Danuschs psychotischem Satz Sie müssen noch einmal wählen hätte Arasch durch Erzählungen seines Großvaters Kenntnis und wäre ihm über die Jahre Danuschs psychotischer Satz Sie müssen noch einmal wählen immer wieder einmal durch den Kopf geschossen, es war ihm aber über die Jahre immer wieder gelungen, den psychotischen Satz mit Mühe und Not - mental sozusagen - wieder auszuscheiden. Doch einmal, als er dreizehn war, war es ihm nicht mehr gelungen, und hatte er nicht mehr aufhören können, an den psychotischen Satz seines Onkels zu denken und hatte er den psychotischen Satz, Sie müssen nocheinmal wählen, vom elterlichen Balkon, in den Innenhof hinuntergebrüllt, um ihn endlich loszuwerden, die Grazer, wertes Zentralkomitee, sind ruhebedürftig, was mit ihrem Faschismus zu tun hat und habe ich vor, über den Zusammenhang von Ruhe- und Faschismus-Bedürfnis ein Traktat zu verfassen, Arasch hatte also Ruhe der Grazer gestört, indem er den psychotischen Satz seines Onkels, Sie müssen nocheinmal wählen, vom elterlichen Balkon aus hinuntergebrüllt hatte und wurde er in Folge in eine Anstalt gebracht, wo er sechs Wochen blieb, ich vermute, wertes Zentralkomitee, einen Polit-Hintergrund, in Graz herrscht bekanntlich die Demokratie, wie ja auch in Paris, d.h. daß das Volk die Aufgabe hat, sich selbst zu beherrschen und haben die Menschen in der Demokratie bekanntlich die Freiheit der Wahl, sich im Leben auf die eine oder andere Weise ausbeuten zu lassen oder beuten sie selbst, als Großunternehmer, andere aus. Auch haben sie alle vier Jahre - oder fünf – das Recht oder die gesetzliche Pflicht, Parteien zu wählen, welche Gesetze erlassen und Regierungen bilden und haben in der Demokratie bekanntlich die linken Parteien den Zweck, den Unmut der Lohnabhängigen zu kanalisieren und zu neutralisieren, damit sich nie am System etwas ändert, in diesem System, wertes Zentralkomitee, hat auch die PsychiatrIn ihre Funktion, genauso wie die PsychotherapeutIn, die Psychotherapie nämlich suggeriert ja: Alles ist im Grunde, wie der Grazer sagen würde, paletti, so daß sich im Grunde alle wohl fühlen müßten, nur die PatientInnen der PsychotherapeutInnen eben nicht, diese hätten leider ein Problem oder eine Persönlichkeitsstörung, hier, helfen wir! sagt die Psychotherapie, unseren Kunden, das Wohlgefühl (wieder) zu erlangen und propagieren sie die think positive-Strategie, was bedeutet: Noch die größte - verzeihen Sie – Scheiße, wertes Zentralkomitee, als angenehm zu empfinden. Manchem hilft jedoch nicht einmal das – daher die Psychiatrie. Diese verordnet Medikamente, durch welche man das Wohlgefühl sozusagen direkt im Gehirn installiert. Arasch wurde also in die Anstalt gebracht, ich vermute aus politischen Gründen, irgendwem - vermutlich einem Spitzel der Staatspolizei - war wohl die Wiederholung des Satzes Sie müssen nocheinmal wählen verdächtig erschienen - als Anspielung auf die sich ständig wiederholende stupide Sinnlosigkeit demokratischer Wahlen womöglich, und hat der Spitzel in Folge die Polizei alarmiert, die Arasch in die Heilanstalt brachte.

Ich muß jetzt dringend, wertes Zentralkomitee, zum Gericht, wie berichtet hat meine sechszehnjährige Tochter einen jungen Genossen aus Teheran und Studenten der Technik in Graz niedergestreckt und am Schienbein verletzt, wie dessen Anwalt behauptet, nachdem ihr dieser über die Straße hin zugerufen hatte: Wir wissen, daß Dein Vater an Gott glaubt.
Ich melde mich ehebaldigst.

Hochachtungsvoll

Arasch Kalami aus Graz

Samstag, 12. Januar 2008

Termine!

Das ist eine Litfaßsäule. Ich dachte immer es müßte LIFTfaßsäule heißen. Bis ich Veronika Barnas kennenlernte - siehe unten.

Am kommenden Donnerstag, dem 17. Januar 2008, um 18.30, wird im Wiener Volkstheater die Ausstellung Straße des Exils -weit? ... von wo? von Veronika Barnas eröffnet. In zwei begehbaren Litfaßsäulen werden die Wege österreichischer Exilliteraten wie Jean Améry, Hilde Spiel oder Stefan Zweig nachgezeichnet.
An Audiostationen sind auch Texte von heute in Österreich lebenden Exilautoren zu hören - u.a. auch ein Text von mir. Obwohl ich eigentlich kein Exilautor bin. Aber wer oder was ist ein Exilautor?
Ausstellungsdauer bis 18. Februar 2008

Am Freitag, dem 1.Februar 2008, um 19.30, lese ich, ebenfalls im Volkstheater, aus meinem noch unveröffentlichten Roman Ungläubig.



Dienstag, 8. Januar 2008

Der Autobus nach Schemiran von Goli Taraghi (3)

Paris, wenige Jahre nach der Zeit der Erzählung ...


Heute der dritte und letzte Teil der Erzählung Der Autobus nach Schemiran von Goli Taraghi, ein Text, den ich in den 90ern auf Anregung des österreichisch-iranischen Publizisten Iradj Haschemizadeh ins Deutsche übertragen habe.

Zunächst aber die weitere Leidensgeschichte von Mansur Osanloo, jenem Busfahrer, der mittlerweile zum Symbol für den Kampf um unabbhängige Gewerkschaften im Iran geworden ist (siehe mein letztes und vorletztes post)

Im Juni 2007 reiste Osanloo - er befand sich gerade gegen Kaution auf freiem Fuß - nach London bzw. Brüssel, um an Tagungen internationaler gewerkschaftlicher Organisationen teilnzunehmen.
Nach Teheran zurückgekehrt wurde er im Juli 2007 wieder verhaftet - und befindet sich seither im berüchtigten Teheraner Evin-Gefängnis. Aufgrund von Veletzungen, die ihm seitens der Sicherheitskräfte des Regimes zugefügt worden waren (siehe mein voriges post) sowie dem Fehlen adäquater medizinischer Versorgung im Gefängnis, stand Osanloo monatelang in der unmittelbaren Gefahr, das Augenlicht zu verlieren. Im Oktober 2007 konnte schließlich die dringend angezeigte Augenoperation durchgeführt werden.
Kurz darauf wurde er informiert, daß ihn das Gericht aufgrund von "Aktivitäten gegen die Staatssicherheit" zu einer 5-jährigen Haftstrafe verurteilt habe. Sein zu diesem Zeitpunkt ebenfalls inhaftierter Vize, Ebrhaim Madadi, wurde zu zwei Jahren verurteilt.

Beide Prozesse fanden unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt.

Der Autobus nach Schemiran, von Goli Taraghi (3)

Asis Agha trocknet meine Wangen mit seinen rauhen Fingern und lacht dabei - ohne den Mund zu öffnen. Meine Klassenkameraden - die, die ihn besser kennen - meinen, daß seine Zähne alle aus Gold sind. Ich kann das nicht glauben. Ich frage die Mutter. Sie weiß es auch nicht. Sie kennt ihn ja nicht. Aber meine Frage macht sie wütend und sie droht mir, sie würde mir, sollte ich je wieder einen Busfahrer ansehen oder mit ihm reden, die Haut abziehen. Mutter ist der Ansicht, daß nur schlechte und asoziale Menschen goldene Zähne hätten, allesamt Mörder und Diebe, die kleinen Mädchen alle möglichen Schandtaten antun würden. Ich glaube der Mutter nicht und sie tut mir leid, weil sie manchmal hinterhältig ist und lügt und behauptet, daß Tante Asar häßlich und fett sei, und weil ich traurig werde, wenn ich daran denke, daß sie vieles nicht weiß. Zum Beispiel kennt sie die meisten Hauptstädte nicht und beherrscht nicht einmal die Grundregeln der Mathematik. Dennoch - ich bin überzeugt, daß sie die beste und schönste Mutter der Welt ist. Nachts, vor dem Schlafengehen, tue ich, als hätte ich Bauchschmerzen, damit sie sich an mein Bett setzt. Ich möchte ihr dann all die bösen Sachen, die ich über sie denke, beichten. Aber Mutter hat immer zu tun, hat es immer eilig, hört mir nie zu und sie würde mich bestrafen, wenn sie nur wüßte, daß ich heimlich, hinter der Türe, ihre Gesprächen mit dem Vater belausche.
Der Stau und der Schnee machen Asis Agha nervös. So sehr er sich auch bemüht, der Autobus kommt und kommt nicht vom Fleck. Wir sind Verlorene in einer weißen Wüste. Von weit weg höre ich die Stimme Hassan Aghas, wie er seufzt und klagt. Sein lauter Scluckauf kommt von seiner Angst. Auch ich fühle mich sonderbar. Ich werde krank. Mein Magen ist voller getrockneter Weichseln. Mir ist zum Kotzen und schwindlig. Ich hülle meinen Körper in Asis Aghas Jacke. Ich will aufstehen, aber mein Beine sind tot. Ich öffne den Mund, aber ich habe keine Stimme. Alles ist Schnee. Der Autobus, die Stadt, alles, und ich unter einem weißen Dach zu Eis gefroren. So bin ich seit Jahren: reglos, wie ein Stein. Übrig sind nur meine Augen, die brennen, wie zwei Feuerherde und mein trockener, bitterer Mund, der nach Wasser verlangt - Wasser, Wasser, Wasser ...

Eine kühle Hand streicht mir über die Stirn. Sie duftet herrlich, nach Creme und Puder. Irgendjemand flüstert mir Gebete ins Ohr und bläst mir ins Gesicht. Um mich herum sind vertraute Gesichter, Tante Asars große, liebevolle Augen strahlen mich [...] an, ich rieche den Kräutertee der Bibijan und erkenne meine weichen Decken und die sauberen Bettlacken. Ich weiß, daß ich in meinem Bett bin und daß die Mutter in meiner Nähe ist [...] Ich schlafe ein und träume, daß ich auf Asis Aghas Schultern sitze. Er gleitet wie ein fliegender Teppich über die Wolken und nimmt mich mit zu fernen, fremden Städten. Ich wünsche so sehr, daß er seinen Mund öffnet, damit ich die goldenen Zähne sehen kann - aber seine Lippen sind versperrt, wie der Deckel eines Schatzkastens.
Ich bin schwer krank. Jeden Donnerstag besucht mich Dr. Kossari. [...] In den Nächten habe ich Fieber. Jedesmal, wen er kommt, verordnet mir Dr. Kossari andere Medikamente. Es geht mir von Tag zu Tag schlechter. Ich bin gelb und abgemagert, meine Haare fallen aus. Man holt einen anderen Arzt, der noch mehr hustet als ich. Die Medikamente, die er verschreibt, bekommt man in keiner Apotheke. Die Tage und Wochen vergehen wie im Flug. Ich habe die Schule vergessen. Ich schlafe am Tag und huste im Schlaf. Die Großmutter sezt sich an mein Bett und murmelt Gebete. Wenn ich wach bin, erzählt sie mir Märchen und füttert mich. Ich schaue täglich durch das Fenster auf den Khakibaum mit seinen nackten Ästen und zähle die Tage bis zum Frühling. Jeden Nachmittag um vier sehe ich den Autobus nach Schemiran an der Kreuzung vor der Schule vorbeifahren und den einsamen, traurigen Asis Agha, wie er auf meinen leeren Platz schaut [...] Vielleicht hat er mich aber vergessen und gibt die Leckereien in seinem Handschuhfach einem anderen Mädchen. Ich brenne vor Eifersucht und huste noch stärker. Besorgt ruft Mutter Dr. Kossari. Ich höre die Stimme des Vaters. Er gibt Anordnung, mich für die Reise nach Europa vorzubereiten.
Diesea Jahr werde ich sitzenbleiben. Ich weine. Tante Asar meint, daß nichts wichtiger sei als meine Gesundheit. Ich wünsche den Sommer herbei und daß der Kirschbaum Blätter treibt und Früchte. In unserem Haus ist im Sommer mehr los denn je. Unsere Familie ist ein großer Stamm. Ich habe Dutzende Tanten, Onkeln, Kousinen und Kousins. Vater ist das Stammesoberhaupt, vor dem sich alle fürchten. Jeden Freitag ißt der Stamm bei uns zu Mittag. Mutter behält die meisten der Gäste über Nacht. Wir schlafen alle auf der Terasse im Garten. Die Kinder liegen in einer Reihe nebeneinander, die Großen schlafen unter den Buchsbäumen auf Holzbetten mit Moskitonetzen. Der Vater schläft alleine in der Gartenlaube. Zu beiden Seiten der Laube fließt ein Bächlein, das man bis in den frühen Morgen hinein plätschern hört. Großmutter schläft bei uns Kindern und wacht über uns. An das Kopfende eines jeden Bettes stellt sie ein Glas Wasser mit Eiswürfeln. Jedem legt sie eine Handvoll Jasminblätter unter das Kissen. Damit sie sicher ist, daß alle auf ihren Plätzen liegen, wird jedes Kind gezählt und beim Namen genannt.
Ich liebe die lebendige Stille der Nacht, horche auf den Herzschlag der gereiften Früchte, auf das leichte Atmen der jungen Knospen. Vor dem Einschlafen zähle ich die Sterne und schaue zu den Wolken hinauf, die wie Menschen aussehen. Einer sieht aus wie Asis Agha. Er ruft mich vom Himmel herab und schneidet Grimasen. Die Kousins flüstern einander etwas zu. Ohne aufzustehen, schlägt ihnen die Großmutter mit einer langen Rute auf die Fußsohlen. Der jüngere Onkel schnarcht und bringt die Hunde in den Baracken zum Bellen. Bibjan spricht im Schlaf. Tuba Chanom kratzt sich die ganze Nacht lang. Eines der Kinder läßt einen nach den anderen fahren. Wütend steigt Großmutter aus ihrem Bett und will wisen, wer es gewesen ist. Alle tun so, als ob sie schlafen würden. Niemand wagt es, zu atmen. Der Schlaf, das Surren der Moskitos, das Glitzern der Sterne, sickern in meine Augen und füllen sie aus. Manchmal regnet es nachts. Dann breitet die Großmutter die lange, breite Plastikplane über uns, die sie immer bei der Hand hat. Unter ihrem dicken Schutz kleben mein Kousin und ich aneinander und lauschen wie die Ameisen unter der Erde wir dem Klatschen des Regens.

Seit ich krank bin, hat man mich ins Zimmer gesperrt. Alles macht mir Angst. Die Angst ist ein unsichtbares Wesen, das sich überall aufhält. Manchmal öffnet sie eine Spalt weit die Tür. An den Nachmittagen, wenn die Großen ihre Siesta halten, ist sie da. Manchmal hält sie sich hinter dem Fensterglas auf oder versteckt sich unter dem Rock der Mutter. Heute morgen war sie im Spiegel. Mir schien, als wollte sie mich verspotten. Es ist die Angst, die mich Husten macht. Die Mutter hat kein Vertrauen mehr zu Dr. Kossari und wirft seine Medikamente weg. Mein Onkel - der Arzt - übernachtet bei uns. Die Mutter und er haben miteinander vereinbart, daß sie mich abends abwechselnd spritzen. Der Vater meint, die Ärzte in Europa seien Genies, die mit einer einzigen Medikamentenverordnung die schlimmsten Krankheiten heilten. Tante Asar schaut mich mit traurigen Augen an und küßt mich, als wäre es das letzte Mal. Hassan Agha ist im Besitz einer alten Ansichtskarte, auf der eine fette Frau mit goldblonden Haaren und einem Kleid aus Seide [...] abgebildet ist. Er sagt, das sei die Königin von Paris, die weder an den Koran noch an Mohammad glaube. Er macht sich Sorgen um Mutter und um mich und fleht die Großmutter an, Tag und Nacht für unsere Rettung aus den Klauen dieser gottlosen Königin zu beten. Mutter packt die Koffer in freudiger Erwartung. Ich weiß, daß die Angst auch in Paris zuhause ist, daß sie uns überallhin verfolgen wird. Großmutter betet in einem fort und bläst mir ins Gesicht. Abends flößt mir Tuba Canom eine Brühe mit Hühnerleberstücken ein. Um meinen Hals und um meine Fesseln haben sie mir allerlei Zettelchen mit Gebetsformeln befestigt, unter meinem Kissen liegen gefaltete Papierblätter.
Nachmittags, um vier, denke ich noch immer [...] an den Autobus, der von weit her gefahren kommt und, wie ein halb vergessener Traum, bevor er mich erreicht, in einer weißen Staubwolke versinkt. Noch immer sage ich vor dem Einschlafen: "Ich steige nur ein, wenn es Asis Aghas Autobus ist!". Es ist ein Versprechen, dem ich bis zum Tag des Jüngsten Gerichts treu bleiben werde, ich schwöre es und schließe beim Schwören die Augen und halte die Luft an. Mein Herz schlägt wie eine Trommel. Ich weiß, daß Asis Agha meinen Herz schlagen hört und mir antworten wird.
In drei Tagen ist es soweit. Wir werden abreisen. Großmutter sitzt vor dem Fenster und fädelt für mich Jasminblätter zu Armreifen und Halsketten auf. Wie traurig alle sind. Sogar Tuba Chanom, die sonst immer ihre Hüften schwingt und mit den Finger schnippt, ist nicht mehr die Alte [...] Irgendjemand klopf an der Tür. Ich denke, daß es ein neuer Arzt ist oder eine der Tanten. Tausend Menschen besuchen uns jeden Tag und klopfen an die Tür. Hassan Agha kommt herein und bleibt neben der Türe stehen. Er ist völlig perplex und schaut ratlos zur Mutter. Er will etwas sagen, traut sich aber nicht. Wie immer hat er Schluckauf vor Angst. Er deutet, daß irgendjemand oder irgendetwas da draußen ist, bleibt aber stumm. Die Mutter ist ungeduldig und genervt. Sie steht auf und begleitet ihn in die Diele. "Wer?", es ist ihre Stimme. Hassan Aghas Antwort kann ich nicht hören. Nur die Stimme der Mutter, die lauter und lauter wird und wie eine Alarmsirene Angst verbreitet. Großmutter steht auf, schließt das Fenster und zieht die Decke bis unter mein Kinn. Jetzt wieder die Stimme der Mutter: "Ein Buschauffeur?".
Mein Herz will mir aus dem Brustkasten springen. Ich setze mich auf. Hassan Aghas Worte klingen wie das Blöken eines Lamms, das geschlachtet werden soll. Mutters Gekreische hallt in meinem Kopf: "Was? Wer? Welcher Bus?". Hassan Agha, mein geliebter Hassan Agha, ist halbtot. Er stottert. Mutters Keifen ist zu hören, die wissen will, wie denn eine Null von einem Buschauffeur es wagen kann, nach dem Befinden ihrer Tochter zu fragen. Hassan Agha möge ihm ausrichten, daß man ihm das Bein brechen werde, sollte er es noch einmal wagen, sich hier blicken zu lassen.
Ich werfe die Decke zur Seite und springe aus dem Bett. Barfuß und mit einem dünnen Pyjamahemd bekleidet, laufe ich Richtung Diele. Tuba Chanom versucht, mich aufzuhalten. Ich schubse sie weg und beiße ihr in die Hand. Die Mutter, die über mein seltsames Verhalten staunt, befiehlt mir, mich sofort wieder ins Bett zu begeben. Ich ignoriere die Drohungen und laufe in Vaters Büro am Ende der Diele, gehe hinein und sperre die Tür zu. Vom Fenster aus, kann man auf die Straße sehen. Ich schiebe den Vorhang weg und stelle mich auf einen Sessel. Ich sehe, daß Asis Agha, wie ein schüchterenes Kind, ratlos mitten auf der Straße steht. Er hat ein Päckchen in der Hand. Seine ansonsten zerzausten Haare hat er gekämmt und sein Hemd bis zum Hals zugeknöpft, er möchte wohl nicht, daß man die Tätowierungen auf seiner Brust sieht. Ich öffne das Fenster. Ich rufe ihn. Er schaut sich um und macht sich auf den Rückweg. Ich rufe noch lauter, winke ihm zu. Er dreht sich um und hebt den Kopf. Jetzt sieht er mich. In seinem Gesicht ist wieder die alte liebevolle Wärme. Rasch fließen mir die Tränen und ich verstehe meine eigenen Worte nicht. Ohne sich von der Stelle zu rühren, grüßt er mich mit einem Nicken. Gott, wie er sich freut! Er lacht, und während er lacht [...] öffnet er seine Lippen. Sein Mund ist eine dunkle Höhle, in deren Tiefe ein Goldzahn funkelt, der ausschaut wie Aladins Lampe. Ich weiß, daß mir diese Wunderlampe jeden Wunsch efüllen wird. Ich schließe die Augen und wünsche mir, wieder gesund zu werden und daß der Husten aufhört und daß die Angst von mir abfällt.
In Paris wohnen wir im Hotel Wagram. Drei Tage nach unserer Ankunft besucht mich der französische Arzt und schreibt ein langes Rezept. Es geht mir schon seit langem besser und ich huste nur selten. Niemand kennt mein Geheimnis [...] Mutter führt meine Besserung auf das Genie des französischen Arztes zurück. Ich aber weiß, wer und was mich gesund gemacht hat. Nachts, im Dunkel des Hotelzimmers, streiche ich unter der Decke über die phantasierte Lampe und erneuere mein altes Versprechen.
Unser Aufenthalt in Paris dauert über sechs Monate. Nach unserer Rückkehr nach Teheran schicken sie mich in eine andere Schule. Die neue Schule ist nur wenige Schritte von unserem Haus entfernt. Ich gehe den Schul- und den Nachhauseweg zu Fuß, wenn ich aber die Straße überquere, krampft sich mein Herz zusammen und meine Augen suchen den Bus nach Schemiran.
Die Jahre vergehen. Ich werde eine junge und geachtete Dame. Sie haben die alten Autobusse ausrangiert und durch Sammeltaxis mit jungen Fahrern ersetzt. Ich aber bin, trotzdem so viel Zeit vergangen ist, meinem großen Freund und meinem alten Versprechen treu geblieben. Wenn ich trübsinnig bin, wenn mich Kummer befällt, wenn es auf meinem Weg ein Hindernis gibt, kommt hinter den Erinnerungen der Kindheit der wunderbare Mund meines Freundes zum Vorschein und das Funkeln seines Goldzahns leuchtet wie eine Venus in die Dunkelheit meiner Nächte.
Der Autobus der Linie 70 biegt um die Kurve und fährt langsam auf uns zu. Eine kindliche Stimme flüstert: "Ich steige nur ein, wenn es Asis Aghas Autobus ist!".
Meine Tochter geht mir voraus und winkt dem Busfahrer zu. Ihre Augen scheinen voller rätselhafter, verspielter Gedanken zu sein, vielleicht hat ja auch sie ein Geheimnis, das sie mir nicht verraten wird, so wie ich es niemandem gesagt habe, weder der Mutter, noch Hassan Agha, nicht einmal den Buchsbäumen hinten im Garten.

Sonntag, 6. Januar 2008

Der Auotbus nach Schemiran von Goli Taraghi (2)




Mansur Osanloo,
Vorsitzender der
Teheraner Busgewerkschaft


Heute der zweite Teil von Der Autobus von Schemiran, einer Erzählung der iranischen Autorin Goli Taraghi, die ich den 90ern ins Deutsche übertragen habe.
Zunächst aber die weiteren Ereignisse rund um die Repressalien des Teheraner Regimes gegen die unabhängige Teheraner Busgewerkschaft - siehe auch mein voriges post.
Anfang Februar 2006 kam es in Teheran zu zahlreichen Protesten, um die Freilassung der weiterhin inhaftierten Mitglieder der Busfahrergewerkschaft zu fordern. Die Empörung nahm zu, als bekannt wurde, daß die Behörden die Gefangenen unter Druck setzten, indem sie ihre Freilassung von der schriftlichen Zusage abhängig machten, künftig keine Gewerkschaftsarbeit mehr zu verrichten. Nachdem die meisten Gefangenen freigelassen worden waren, forderten die Beschäftigten die Aufhebung der Sanktionen, die sie an einer Rückkehr an ihren Arbeitsplatz hinderten. Zu diesem Zweck demonstrierten einige Beschäftigte vor verschiedenen Ministerien und den Büros der Busgesellschaft, die daraufhin eine Liste mit 46 Beschäftigten herausgab, die entlassen worden seien, darunter Gewerkschafter, die sich noch in Haft befanden. Am 19. März 2006 wurden alle Verhafteten außer Mansur Osanloo aus der Haft entlassen.
Rund 250 Beschäftigte der Teheraner Busgesellschaft , die sich für den Marsch am 1. Mai versammelt hatten, wurden von 1.000 (!) Angehörigen der Polizei und der Sicherheitskräfte umstellt, die 13 von ihnen festnahmen und mehrere Tage lang inhaftierten, einschließlich Ebrahim Madadi, des stellvertretenden Vorsitzenden der Gewerkschaft.

Mansour Osanloo, Gewerkschaftsvorsitzender und Schlüsselfigur des Konfliktes zwischen der Busfahrergewerkschaft und den Behörden, saß vom 22. Dezember 2005 bis zum 9. August 2006 im Gefängnis Evin ein. Während seiner siebenmonatigen Haft wurde er mehr als vier Monate lang mit verbundenen Augen und gefesselten Händen in Einzelhaft festgehalten. Er wurde ständig schikaniert und bedroht. Seinen Anwalt und seine engsten Familienangehörigen, die alle über seinen Gesundheitszustand äußerst besorgt waren, durfte er nur sehr selten sehen. Bei einem früheren Angriff im Zusammenhang mit seiner Gewerkschaftsarbeit hatte er sich eine ernste Augenverletzung zugezogen, die kurz vor seiner Verhaftung operiert werden sollte. Die Behörden brachten vage Anschuldigungen gegen ihn vor und deuteten an, daß seine Gewerkschaftsarbeit gar nicht das eigentliche Problem sei.

Am 9. August 2006 wurde Mansour Osanloo nach Zahlung einer Kaution freigelassen. Einige Tage später erhoben die Internationale Transportarbeiter-Föderation und der Internationale Bund Freier Gewerkschaften Klage bei der ILO (International Labour Organization, eine UNO-Sonderorganisation).
Am 19. November wurde Osanloo erneut verhaftet, als er sich in Begleitung von zwei anderen Gewerkschaftsführern auf dem Weg zum Arbeitsministerium befand, um die Wiedereinstellung der nach den Ereignissen vom Januar entlassenen Beschäftigten zu fordern. Auf die Frage der Gewerkschafter nach dem Grund für ihre Verhaftung schlugen die fünf Beamten in Zivil Mansour Osanloo und Ebrahim Madadi, einen anderen Gewerkschaftsführer, obwohl Ersterer nach seiner Augenoperation einen großen Kopfverband trug. Sie gaben Schüsse in die Luft ab und stießen Osanloo in einen Wagen. Später teilten die Behörden seinen Angehörigen mit, daß ihm Nichterscheinen vor Gericht am 20. November (dem Tag nach seiner Verhaftung!) zur Last gelegt werde.
Am 19. Dezember 2006 wurde Mansour Osanloo nach Zahlung einer weiteren Kaution freigelassen. Seine Leidensgeschichte geht aber weiter - siehe mein nächstes post (Quelle: Jährliche Übersicht über die Verletzungen von Gewerkschaftsrechten des Internationalen Gewerkschaftsbunds).

Bemerkenswert in diesem Zusammenhnag: Das Regime in Teheran genießt - weil angeblich "antiimperialistisch" - Sympathien bei zahlreichen österreichischen Linken (siehe z.B. die postings im Standard.at-Forum). Und auch jemand wie Hugo Chavez, dessen Politik ich in mancherlei Hinsicht unterstützenswert finde, scheint das Teheraner Regime schwer in Ordnung zu finden.
Ihnen allen sei zugerufen: Augen auf, Freunde!
Dieses vorgeblich "antiimperialistische" Regime praktiziert eine besonders brutale Variante des Kapitalismus. Es vertritt die Interessen mafiös durchwachsener, halbstaatlicher Großunternehmen, während es die Rechte der Lohnabhängigen systematisch mit Füßen tritt. Die Busfahrer in Teheran sind ja bloß die Spitze des Eisbergs. Und - von anderen Aspekten dieses Regimes (Umgang mit Frauenrechten, Gedankenfreiheit, ethnischen und religiösen Minderheiten u.v.a.m.) war hier überhaupt noch nicht die Rede ...
O.k. And now for something completely (?) different:
Der Autobus nach Schemiran (2)
Nach Schulschluß holt mich Hassan Agha um vier am Nachmittag ab. Wir warten an der Kreuzung auf den Autobus nach Schemiran. Heute schneit es und die Schneeflocken sind groß wie Untertassen. Alles ist weiß [...]. Hassan Agha steht wie ein blasses Gespenst vor der Mauer. Sein Gesicht erinnert mich an eine durchsichtige Wolke, eine jener Wolken, die ich in der Nacht am Himmel betrachte und von denen ich weiß, daß sie Menschen sind, die vor tausend Jahren gelebt haben. Manche von ihnen haben lange Bärte und Kronen und ziehen hoch zu Roß vorüber. Wenn man genau hinschaut, sieht man im Mond ein kleines Kind sitzen, ein zusammengekauertes Kind, das den Kopf auf die Knie gelegt hat und weint. Ich kann es meinem Bruder, dem Trottel, zeigen, so oft ich will, er sieht es nicht, das Kind im Mond. Die Mutter fürchtet sich vor dem Mond und sagt, daß ich die Sterne nicht so anstarren soll. Manchmal schlüpft aus dem violetten Ende des Nachthimmels ein riesiger Drache und versinkt dann wieder in der Milchstraße. Ich erzähle es Hassan Agha - er schreit, zieht die Decke über den Kopf und fängt an, laut zu beten.
Keine Spur vom Autobus nach Schemiran. Ich bin gut gelaunt, rutsche auf der Straße herum, trete gegen die Bäume, damit der Schnee, der auf ihnen liegt, auf mich fällt. Hassan Agha hält meine Schultasche und den Kochtopf mit meinem Essen unter dem Arm und zittert. Aus seinem Mund steigt sein lebloser Atem, er trägt die alten Schuhe von Vater, die ihm ein paar Nummern zu groß sind. Der Schnee fällt in den leeren Raum hinter seine Fersen. Auch für die Handschuhe der Mutter sind seine Hände zu klein [...]. Jedes Jahr zu Norus {persisches Neujahr zu Frühlingsbeginn, Anm. des Übersetzers} läßt Vater für jedermann neue Anzüge, Hemden, Schuhe und Socken kaufen. Aber Hassan Agha zieht seine neuen Kleider nicht an. Er verstaut sie in einen Koffer und nimmt sie im Spätsommer mit in sein Dorf, oder verkauft sie und steckt das Geld in das Ofenrohr in seiner Kammer. Die einzige Person, die weiß, wo das Geld steckt, bin ich, aber ich rühre es nicht an - ich schwöre es.

Aus der Ferne ist der Motorenlärm eines Autobusses zu hören. Hassan Agha gibt sich einen Ruck. Ich starre voll Freude und Sorge auf das weiße Gehäuse, das sich wackelnd nähert. Ich denke: "Ich steige nur ein, wenn er blinkt - sonst warte ich auf den nächsten. Soll Hassan Agha erfrieren. Soll die Mutter vor Angst verrückt werden und ich an Hunger und Müdigkeit sterben." Kein Mensch kennt mein Geheimnis, niemand. Es ist ein Geheimnis zwischen mir und Asis Agha. Auch Hassan Agha versteht nicht, warum ich mich an manchen Tagen weigere, in den Autobus nach Schemiran zu steigen - die Busse, die nicht blinken, sind nicht die von Asis Agha - davonlaufe, sein Keifen und Kreischen ignoriere. Mehr als einmal hat er gedroht, es der Mutter zu stecken. Ich habe dann jedesmal auf den Speisekammerschlüssel im Futter seiner Jacke gedeutet. Deshalb läßt er mich jetzt in Ruhe.
Wenn ein Autobus dreimal blinkt, ist es der von Asis Agha. Nachts, vor dem Einschlafen, statt das Gebet zu beten, das mir Mutter beigebracht hat, sage ich dreimal hintereinander: "Ich steige nur ein, wenn es der Bus von Asis Agha ist!" Es ist ein Versprechen, das wir uns gegeben haben, Asis Agha und ich, und das gelten wird bis zum Tag des Jüngsten Gerichts. Ein Versprechen ohne Worte natürlich. Ich spreche nicht mit meinem großen Freund, der größer ist als der Vater und vor dessen furchterregendem Gesicht sich sogar die Polizisten fürchten - ich traue mich nicht.
Die Autobus-Scheinwerfer blinken und mein Herz fängt an, sich zu drehen wie eine Windrose. Der Bus bleibt stehen, wir steigen ein. Hassan Agha geht voraus. Asis Agha schaut mich an und erwidert meinen Gruß mit verquollenen, geröteten Augen. Seine Haare sind fett und gekräuselt. Hassan Agha ist überzeugt, daß Asis Agha eine Dauerwelle hat. Asis Agha hat schwarze Augenbrauen und sein Mund wird von einem dicken
Schnauzer bedeckt. Ich setze mich hinter ihn. Hassan Agha setzt sich hinten hin, wo es wärmer ist - und schläft ein, kaum, daß er sich hingesetzt hat. Die wenigen Fahrgäste dösen vor sich hin. Von der Schule nach Hause ist es eine Weltreise, im Winter vor allem, wenn es schneit und die Autos, die keine Schneeketten haben, ins Schleudern kommen und die Straßen versperren. Manchmal, wenn er müde ist, gähnt Asis Agha. Sein Mundgeruch ist strenger als der Geruch der Jodtinktur, die Mutter auf mein verletztes Knie schmiert. Mir wird schwindlig, meine Gedärme knurren und krächzen. Asis Agha schaut mich durch den Spiegel an und schneidet Grimassen, bläst die Wangen auf, kräuselt die Nase, verdreht die Augen. Ich halte mir , damit mich die Fahrgäste nicht lachen hören, die Hand vor dem Mund. Innerlich muß ich platzen vor Lachen. Mein Freund schaut aus wie ein Dämon. Die kleinen Kinder fürchten ihn. Er hat Tätowierungen auf seinen Armen und auf seiner Brust, und auf seinem Nacken ist eine dicke lila Linie zu sehen, von einem Ohransatz zum anderen, als hätte man ihm den Kopf abschneiden wollen.
Die Mutter fährt niemals mit Auotobussen. Sie hat ihren eigenen Wagen, samt Chauffeur. Sie weiß aber, daß auf dieser Welt Dämonen wie Asis Agha existieren und macht sich Sorgen um mich. Sie mag es nicht, daß ich mit dem Bus zur Schule fahre, aber es ist nun mal der Befehl des Vaters - und jede Widerrede ist zwecklos.

Hinten ist Hassan Agha eingedöst. Durch die gebrochene Glasscheibe weht es eiskalt herein, die Fahrgäste frieren. Asis Agha zieht seine Jacke aus und breitet sie über meine Beine. Die Jacke stinkt. Ich möchte, daß mich jetzt die Fahrgäste sehen und fahre stolz mit meiner Hand über den fettigen Kragen. Meine Finger haben jetzt einen seltsamen Geruch, der weder von Hunden noch von Katzen stammt, noch von Schafen oder Kühen. Es ist ein Geruch, der dem Eingang einer unbekannten Welt entströmt, der Geruch verbotener Taten und verbotener Geheimnisse, die man noch lange nicht kennen darf.

Der Geruch der Mutter unterscheidet sich von allen anderen Gerüchen. Es ist der Geruch von europäischem Puder und Parfüm, von Kinostars und Modezeitschriften, von der Lalehsalstraße und dem Tanzzsalon im Rathauscafé. Die Mutter riecht nach der Zukunft. Nach dem Morgen. Nach all den guten Dingen, die mich erwarten.

Mit dieser Jacke auf den Beinen werde ich eine andere. Nicht die brave, saubere, höfliche Musterschülerin, mit den aufgeplusterten Haarbändern, die vor jedermann knickst und vor fremden Leuten in Gesellschaften halb auswendig gelernte Schulgedichte dahersagt, die ihre erste Klavieretüde, die ständige Wiederholung von c,d,e,f,g,a,h lustlosen, geschwätzigen Verwandten vorspielt, an einem Schönheitswettbewerb für Mädchen teilnimmt und verliert.

Mit Asis Aghas Jacke auf den Beinen werde ich so wie er selbst. Ich stelle mir meinen ganzen Körper täowiert vor und die Hälfte meiner Zähne aus Gold, sehe mich - grölend und allein - durch die Straßen strawanzen wie die Töchter von Fateme, der Wäscherin, oder auf dem Rücksitz der Maschine des feschesten Jungen im Viertel unterwegs zum Kino, wo sie den Tarzan spielen.
Bei der Abschar-Haltestelle macht Asis Agha eine Pause. Die meisten Fahrgäste steigen aus, um im Wirtshaus einen Tee zu trinken. Ich und Hasan Agha bleiben sitzen. Bevor Asis Agha aussteigt, nimmt er aus seinm Handschuhfach ein Päckchen heraus, das er mir auf de Schoß legt. Er schaut mich durch den Rückspiegel an und zwinkert mir zu. Seine sanftmütigen Gesichtszüge, die in aussehen lassen wie eine Stoffpuppe, sind voller Liebe. Seinen Händen und seinen Füßen, seinem eigenartigen Mundgeruch, seinen geröteten Augen, seiner fettigen alten Jacke entströmt eine Art Rauch, ein heller Rauch, der mich umhüllt. Umgeben von diesem magischen Rauch schmelze ich dahin wie der Schnee und bin so glückselig, daß ich mir wünsche, niemals erwachsen zu werden, nicht mehr zu wachsen, eine Statue aus Stein zu sein, tausend Jahre lang hier zu bleiben, so zu bleiben, wie ich jetzt bin.

Heute hat mir Asis Agha getrocknete Weichseln gekauft. Hassan Agha ruft mich aus dem Autobusfond und fragt, was ich treibe. Ich antworte nicht und zähle schnell die getrockneten Weichseln. Die Fahrgäste trinken stehend ihren Tee. Asis Aha nimmt ein paar Schluck aus seiner Schnapsflasche und geht hinter die Bäume, um zu pinkeln. Ich schaue nicht hin, senke den Kopf und esse eine getrocknete Weichsel nach der anderen, aber ich sehe ihn vor meinen inneren Augen, wie er pinkelt, und mir wird ganz heiß hinter den Ohren.

Wir fahren im Schneckentempo weiter, zum Wanak-Platz. Manchnal rutschen wir zurück, Autos kommen ins Schleudern und bleiben mitten auf der Straße vor uns stehen. Es wird dunkel. Die ganze Welt ist weiß. Hassan Agha hat Angst und ruft mich ständig aus dem Autobusfond. Ich weiß, daß ihm gleich die Tränen kommen. Hassan Agha heult leicht, zwei, dreimal am Tag wegen irgendeiner Nichtigkeit. Die Mutter meint, daß das Heulen Hassan Aghas grundlos passiert, wie das Gackern der Hühner. Der Vater sagt, Hassan Agha sei ein Volltrottel - und Hasan Agha lacht, weil er es liebt, ein Trottel zu sein. Er räumt voller Freude das Geschirr weg, seinen Blick auf Vaters Mund geheftet, der zufrieden die von Hassan Agha zubereiteten Kababstücke kaut.

Die Fensterscheibe neben mir ist gebrochen. Ein kalter Wind bläst mir auf eine Wange. Mein Nacken ist steif, mein Rücken friert. Voller Sorge schaut mich Asis Agha durch den Rückspiegel an. Er hält an, stopft Zeitungspapier und alte Stoffetzen in das Loch in der Scheibe, dann setzt er sich wieder hinter das Steuer. Ich verstehe seine wortlose Rede. Er macht sich Sorgen um mich. Am liebsten wäre es ihm, ich würde mich irgendwo anders hinsetzen. "Steh auf, kleiner Dickkopf", wollen seine Blicke mir sagen, "Du wirst Dich verkühlen. Setz Dich nach hinten, dort ist es wärmer. Ich habe Angst, daß Du mir noch krank wirst." Meinen Blicke antworten: "Nein. Ich rühr mich nicht von der Stelle! Das ist mein spezieller Platz. Und ich werde ihn nicht aufgeben."

Ich liebe Asis Aghas Beunruhigung. Seine mütterliche Sorge beweist die Tiefe seiner Zuneigung. Ich schließe die Augen und reise in meiner Phantasie in eine ferne Zeit, in die Zeit großer Könige, als treue Ritter und Helden als Zeichen ihrer Ergebenheit gegenüber dem Herrscher über glühende Kohlen gingen und siebenköpfige Drachen töteten.

Der Bus steht. Ein Stau. Alles wird von der Kälte beherrscht. Meine rechte Körperhälfte fühlt sich taub an, in meinen Fingerspitzen kribbelt es, ich spüre meine Füße nicht mehr. Mein Kopf ist schwer wie ein Berg, er wir größer, als hätte man ihn aufgeblasen, und dann wieder kleiner. Ich bin ein Eisklumpen. Durch meine halbgeöffneten Augen sehe ich, wie sich draußen im Schnee die Schatten drehen. Meine Nase rinnt und meine Augen fangen zu brennen an . Auf einmal wird mir ganz heiß und ich beginne zu zittern und mit den Zähnen zu klappern. Ganz rasch rinnen mir Tränen aus den Augen, und ich kann dagegen nichts tun.

Freitag, 4. Januar 2008

Der Autobus nach Schemiran von Goli Taraghi (1)



Ende der 90er habe ich, angeregt durch meinen Freund, den Publizisten Iradj Haschemizadeh, die Erzählung Der Autobus nach Schemiran der iranischen Autorin Goli Taraghi ins Deutsche übertragen.

Hier der erste Teil der Geschichte.

Aber bevor ich's vergesse: Einen Text zu veröffentlichen, der von einem Teheraner Busfahrer handelt, ohne über die anhaltende brutale Unterdrückung der Teheraner Busfahrergewerkschaft durch das Teheraner Regime zu schreiben, ist fast ein Verbrechen -

Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es das Schweigen über so viele Untaten einschließt!
Der dort ruhig über die Straße geht
Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde
Die in Not sind?
(Bert Brecht)

2005 wurde bei der Teheraner Busgesellschaft nach Jahrzehnten wieder eine unabhängige Gewerkschaft gegründet. Diese wurde dann auch - aus Unzufriedenheit mit ihren miserablen Arbeitsbedingungen - von vielen der über 17.000 Beschäftigten der Gesellschaft aktiv unterstützt. In den darauffolgenden Monaten kam es zu Repressalien des Regimes gegen Gewerkschafter und deren Sympathisanten. Bis Dezember 2005 wurden 29 Gewerkschafter verhaftet und in das als Folterzentrum bekannte Evin-Gefängnis eingewiesen. Am 25.Dezember wurden jedoch nach einem Busfahrerstreik alle Inhaftierten - bis auf den Gewerkschaftsvorsitzenden, Mansur Osanloo - wieder freigelassen. Da die Behörden sich weigerten, auch Osanloo freizulassen, rief die Gewerkschaft für den 28. Januar 2006 zum Streik auf - eine ernsthafte Herausforderung für das Regime, bedenkt man, daß ein lückenloser Busfahrerstreik die 12-Millionen-Metropole Teheran lahmlegen könnte...
Am 27. Jaunar wurden 100 Personen festgenommen, am folgenden Tag 1000 weitere Personen, darunter einfache Beschäftigte, Ehefrauen und sogar Kinder (!), wie etwa die 12-jährige Tochter eines Gewerkschaftsmitglieds, die geschlagen und anschließend brutal in einen Polizeibus geworfen wurde ... Sicherheitskräfte und Vertreter der Busgesllschaft bedrohten die Fahrer, schlugen sie und zwangen sie an ihren Arbeitsplatz zurück. Rund 30 der Verhafteten wurden schwer verletzt und mußten ärztlich behandelt werden.
(Quelle: Jährliche Übersicht über Verletzungen der Gewerkschaftsrechte des Internationalen Gewerkschaftsbunds)

Über den weiteren Fortgang der Ereignisse werde ich in den folgenden posts berichten.

Jetzt aber der erste Teil von

Der Autobus nach Shemiran

Der Autobus der Linie 70 fährt uns davon. Meine kleine Tochter läuft ihm nach, gibt noch vor der Kurve auf und bleibt stehen. Wir warten auf den nächsten. Plötzlich hat es zu schneien begonnen. Ein staubiger Schimmer erfüllt die Luft, das Tohuwabohu der Stadt vergeht, es wird angenehm still. Alles ist weiß, sanft und ruhig. Passanten verschwinden wie phantasierte Schatten im Nebel, Häuser und Bäume verschwimmen. Acht Jahre leben wir schon in Paris und haben noch nie einen solchen Schnee erlebt. Ich höre die Großmutter:
"Die Engel dort oben machen Hausputz. Sie wischen den Staub von den Wolken und kehren die Himmelsteppiche."
Ich denke an die Winter in Teheran, an das hohe, weiße Elbursgebirge unter dem Himmel aus Türkis, an die nackten Bäume in unserem Garten, die eingeschlafenen Bäume, die versunken sind in einem Traum von der Rückkehr der Zugvögel.
In den Tagen der Kindheit wollte der Schnee, war er einmal da, nicht aufhören zu fallen. Es schneite - am Samstag, am Sonntag, am Montag, ich zählte die Tage, am Dienstag, am Mittwoch, am Donnerstag. Zehn, zwanzig Zentimeter, einen halben Meter, bis die Türen zugefroren waren und wir schneefrei hatten, eine Woche lang.
Welch unglaubliches Glück! Eine Woche am Morgen im Bett bleiben dürfen, eine Woche mit tausend Kousins und Kousinen auf der Straße spielen, eine Woche ohne Angst vor der Schuldirektorin, oder dem griesgrämigen Mathematiklehrer. Eine Woche ohne das Lesenmüssen von Büchern, die dich müde und krank machen, und ohne Hausübungen, eine Woche ohne das Auswendiglernen von langen Gedichten voller Unsinn, und kalligraphischen Übungen mit schwarzer Tinte.
Wie glücklich ich war, wenn wir Gäste hatten, und der Schnee die Straßen versperrte und all die Leute zwei drei Nächte in unserem Haus verbringen mußten. Zu den Dauergästen unseres Hauses zählten folgenden Personen:
- Meine geliebte, magere Großmutter, die Tag und Nacht betete und Gott ständig um Geld, Gesundheit und ein langes Leben für uns bat.
- Bibijan,die schwerhörige, altersschwachsinnige Tante der Mutter, die mich für meinen Bruder, meinen Bruder für meinen Kousin, meinen Kousin für den Sohn des Nachbarn und den Sohn des Nachban für mich hielt.
- Die wunderbare Tante Asar, Mutter mehrerer kleiner Quälgeister, die in den Gängen des Hauses Bockhüpfen spielten, Türen, Wände, Bäume bekletterten, oder kreischend wie eine Horde wilder Affen das Treppengeländer hinunterrutschten.
- Onkel Ahmad Chan, der sanftmütigste Zahnarzt der Welt, dem es das Herz brach, wenn er jemanden einen Zahn ziehen mußte, und der mit den Tränen kämpfte, wenn eines von uns Kindern weinte.
- Mein Großonkel, Offizier der Artillerie, der sich vor Pferden, Gewehren und Kanonen fürchtete und bald nach seinem Eintritt in die Armee die Offizierskluft gegen eine Schürze eingetauscht hatte, und zuhause die herrlichsten Konfitüren machte und Wollpullover strickte.
- Die dicke, faule Tuba Chanom schließlich, die seltsame Geschichten erzählte, mit Djinns und Geistern in Verbindung stand und hexen konnte.

Sie alle blieben in unserem Haus bis der Schnee geschmolzen war. Ich liebte die Zimmer mit den vielen Menschen, die Teppiche, auf denen nebeneinander Matratzen lagen, die Unmengen verschiedenster Leckereien auf den Tischen: Die Karafen mit Scharbat, die Schalen mit Granatäpfeln, Scholehsard, Pistazien, Sohan, Isfahaner Gaz und dem köstlichen Baklava meiner Mutter.
In den Gängen unseres Hauses schlängelten sich tausend Düfte, die mich beglückten und verwirrten. Der Tobak in der Wasserpfeife der Großmutter, die Dämpfe der Kräutertees der Bibijan, der Duft des Safrans auf dem warmen Reis, der Duft von Zimt und Kümmel, von Rosenwasser, gebratenen Zwiebeln und halbverbrannten Kababspießen auf heißer Kohle. Ich liebte es, mit dem Getuschel der Erwachsenen und ihrem heimlichen Lachen, das aus den Nebenzimmern drang, einzuschlafen, lauschte dem weichen Klang des Tars meines jüngeren Onkels, dem süßen Sing-Sang meiner Tante Asar, dem Klappern der Pantoffel der Mutter auf den Treppen - und schlief ein. Mitternachts wachte ich auf. Die Lichter brannten, die Erwachsenen waren noch wach, von der Küche her hörte ich das Kommen und Gehen, das Klirren von Deckeln und Töpfen und schlief wieder ein, schlief einen Schlaf leichter als der Flug eines verspielten Papierdrachens.

Heute abend schaue ich wieder dem Schneetreiben zu, glücklich und verzückt, wie in den Tagen der Kindheit. Auch meine Tochter ist hellauf begeistert, wirbelt herum, wirft von ihren kleinen Händen geformte Schneebälle um sich. Immer wieder hüpft sie auf die Straße - sie kann die Ankuft des 70ers nicht erwarten. Ihre Ungeduld erinnert mich an das Rasen meines damals noch kleinen Herzens, als ich abends, nach Schulschluß, ängstlich, mit auf das Ende der Straße fixierten Blicken auf meinen Freund Asis-Agha wartete.

Ich schaue hinauf und öffne den Mund, bis ich die Schneeflocken auf meiner Zunge spüre. Sie schmecken herrlich und duften wie tausend Jasminblätter aus den Gärten des Himmels. Ich spüre, wie meine Füße den Boden verlieren. Ich schwimme in der Luft und finde mich in einer Glaskugel wieder, die ein geheimer Atem zurückbläst entlang der Zeit.

Ich schaue hin. Ich bin zehn. An der Kreuzung nahe der Schule warte ich auf den Bus nach Schemiran. Unser Haus liegt am Ende der Welt. Wir leben zwischen Hügeln und leeren Grundstücken. Es gibt keine Nachbarn. Manchmal hört man nachts die Schakale heulen. Meine Muttre fürchtet sich dann. Hassan Agha, unser Koch, fürchtet sich auch und legt seine Matratze auf den Gang vor die Zimmertüre des Vaters. Ich liebe dieses Haus mitten im Nichts. Mir machen sie keine Angst, die große Wasserzisterne, der Swimmingpool mit den vielen Kröten, die schwarzen Schatten der Bäume, die aussehen wie Bösewichte. Hinter den Buchsbäumen liegt mein Versteck. Ich horte meinen Vorrat unter den Ziegeln. Die Schularbeiten, bei denen ich durchgefallen bin, vergrabe ich, aus Angst vor der Mutter.
Die weißen Pappeln sind meine Spielgefährten. Jede hat ihren Namen. Die höheren sind Jungen. Wenn ich von der Schule komme, werfe ich die Schultasche hin und laufe zu ihnen, erzähle ihnen, wie mein Tag war, ezige ihnen die Zeichnungen, lese ihnen aus meinem Persischbuch vor. Manche Bäume sind dumm und gähnen gelangweilt, manche, die Neidischen, Bösartigen, hören mir mit Absicht nicht zu. Meine Freunde unter den Bäumen küsse ich und klebe ihnen meine eben noch gekauten Kaugummis auf ihre Blätter. Die, die schlechtes hinter mit hergeredet haben, schlage ich und binde ihre Zweige mit einem Seil aneinander.

Die Busfahrt zur Firus-Kuhi-Schule dauert über eine Stunde. Mein älterer Bruder darf den Schul- und Nachhauseweg alleine gehen. Ich aber muß Hand in Hand mit Hassan Agha zur Schule. Ohne seine Erlaubnis dürfte ich nicht einen einzigen Schritt machen. Ich mache aber, was ich will. Sollte Hassan Agha es wagen, mich bei der Mutter zu verpfeifen, mache ich ihn fertig. Ich weiß nämlich, daß er den vermißten Speisekammerschlüssel im Futter seiner Jacke versteckt hält. Wenn die Mutter außer Haus ist, nimmt er Linsen, Bohnen und Reis, soviel er nur kann, und verstaut es in der Kiste hinter dem Klohäuschen am Ende des Gartens. An seinen freien Tagen nimmt er alles mit nach Hause. Deshalb sind wir, Hassan Agha und ich, gleich stark und stehen einander nicht im Weg.

Donnerstag, 3. Januar 2008

Erika



Erika war zum einen eine in der DDR allgegenwärtige Schreibmaschine, ein Produkt des VEB Schreibmaschinenwerks Dresden - und heute eines der begehrtesten Objekte der Ostalgie.

Zum anderen ist Erika (Erica, Heidekraut) eine große Pflanzengattung in der Familie der Heidekrautgewächse (Ericaceae). Die frostharten Arten sind in Europa sehr beliebte Gartenpflanzen.


Last not least ist Erika ein Text von mir aus den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts.


Erika

Im Fernsehen läuft ein Film über einen polnischen Jungen, der irgendwo in Nazi-Deutschland einen Hühnerstall angezündet hat und jetzt wegen Zersetzung der Wehrkraft des deutschen Volkes zum Tod verurteilt werden soll. Gerade sagt er seinem Pflichtverteidiger, daß er die Tat begangen habe, um nach Hause, nach Polen, zurückgeschickt zu werden. Der Junge ist siebzehn. Ich habe zu spät eingeschaltet, ich begreife die Zusammenhänge nicht. Vielleicht war der Junge irgendwo in Nazi-Deutschland als Zwangsarbeiter eingesetzt gewesen.

Im November ist es in München saukalt. Ich hätte es wissen müssen, ich bin nicht zum ersten Mal hier. Dreimal im Jahr, im Februar, im Juli, im November, fahre ich nach München zur beruflichen Weiterbildung. Es geht um Schizophrene und andere Geisteskranke. Ich bin Psychiater von Beruf.

Das Zusammentreffen mit Erika war unerwartet geschehen, obwohl ich gewußt hatte, daß sie an der Tagung teilnehmen würde, obwohl wir uns - sie mir im September, ich ihr im Oktober - geschrieben hatten, obwohl ich sie am Abend vor der Tagung von der Grenze aus angerufen hatte, obwohl ich eher der Erika wegen dreimal im Jahr, im Februar, im Juli, im November, nach München fahre als wegen der Tagung.

Ich war zum ersten Vortrag am Samstagvormittag zu spät gekommen. Unten war der Vortragende hinter einem hohen Rednerpult vor einer langgezogenen grünen Tafel gestanden. Man hatte nur seinen Kopf und die obere Brustpartie sehen können. Ich war mir ziemlich hoch oben vorgekommen, wie wenn ich Höhenangst haben müßte. Links von mir, auf dem ersten Sitzplatz in der zweiten Sitzreihe, war jemand gesessen. Ich hatte, weil die Person mir den Rücken zugekehrt hatte, nicht erkennen können, ob es sich um eine Frau oder um einen Mann gehandelt hatte. Ich hatte sie gebeten aufzustehen, damit ich mich an ihr vorbeizwängen und auf dem freien Sitzplatz neben ihr setzen könnte. Die Person, die aufgestanden war, war Erika gewesen.

In den Gängen des Gefängnisses in dem der polnische Junge untergebracht ist, erzählt der eine Gefängniswärter dem anderen eine philosophische Parabel: "Der Richter sagt dem Todeskandidaten: 'Heute ist Montag. Wir werden Sie noch diese Woche hinrichten, spätestens am Sonntag. Aber es wird eine unerwartete Hinrichtung sein, weil Sie erst am Morgen der Hinrichtung davon erfahren werden. Der Todeskandidat freut sich, nachdem er eine Weile überlegt hat. Er sagt sich: 'Man wird mich gar nicht hinrichten können. Der Richter hat gesagt, daß ich unerwartet hingerichtet werde und daß es spätestens am Sonntag geschehen würde. Also kann man mich nicht am Sonntag hinrichten. Denn wenn ich am Samstag abend noch lebe, erwarte ich mit Sicherheit, daß ich am Sonntag hingerichtet werde. Also fällt der Sonntag als Tag der Hinrichtung weg. Man wird mich aber auch nicht am Samstag hinrichten können, denn, da der Sonntag ausfällt, werde ich, sollte ich am Freitag abend noch leben, mit Sicherheit erwarten dürfen, daß ich am Samstag hingerichtet werde, da die Hinrichtung innerhalb dieser Woche stattfinden muß und der Sonntag als Hinrichtungstag ausfällt. So fällt aber auch der Samstag aus, weil er kein unerwarteter Hinrichtungstag sein kann. Für den Freitag und alle anderen Tage gilt dasselbe, so daß ich weder am Donnerstag, noch am Mittwoch, noch am Dienstag , also gar nicht hingerichtet werden kann.
"Am Mittwoch", fährt der eine Gefängniswärter fort, "wird der Todeskandidat abgeholt und hingerichtet. Er hatte die Hinrichtung nicht erwartet, der Richter hatte die selbst aufgestellten Bedingungen erfüllt."


Erika hatte kurze Haare gehabt. Ich hätte denken können: „Sie schaut aus, wie ein gerupftes Huhn.“ Oder auch: „Sie schaut aus wie ein stilles, gerupftes Huhn“, weil sie während des ganzen Vortrags, der sie - wie ich später erfahren hatte - nicht im geringsten interessiert hatte, kein Wort gesagt hatte, so daß auch ich ganz stumm dagesessen war, bis zum Ende des Vortrags, weil ich überzeugt gewesen war, daß das Sprechen während eines Vortrages, auch wenn man sich nach Monaten wiedersieht, für Erika verboten sei, und folglich auch für mich. Am Sonntag bevor wir uns verabschiedeten, erzählte sie mir, daß direkt hinter unseren Köpfen ein Mikrophon installiert gewesen war, für Fragen der Teilnehmer während der Diskussion. Hätte sie etwas gesagt, hätte es der ganze Hörsaal gehört.

In den Fall-Seminaren sitzt sie neben mir. Wenn ich annehmen kann, daß sie es nicht bemerkt, schaue ich sie von der her Seite an. Sie sitzt da, mit großen Augen, die nicht fragen, die bloß registrieren, daß es außerhalb ihrer selbst eine Welt gibt, vielleicht nicht einmal das.

Der Pflichtverteidiger des polnischen Jungen wirkt sympathisch, obwohl es sich um einen polnischen Film handelt und er einen Deutschen darstellt. Er sagt dem siebzehnjährigen Jungen, der aussschaut wie zwölf, höchstens dreizehn, daß er es sich gar nicht vorstellen könne, daß ihn das Gericht zum Tode verurteilen würde, weil es das Gesetz über die Zersetzung der Wehrkraft des deutschen Volkes zum Tatzeitpunkt nicht gegeben habe, und das Jugendstrafgesetz des weiteren ein solches Strafausmaß gar nicht zulassen würde. Ich möchte den Kanal wechseln, aber ich liege im Bett in meinem Einzelzimmer im Hotel Jedermann in der Bayernstraße und habe keine Fernbedienung zur Hand.

Nach den Seminaren gehen wir nebeneinander durch die Straßen. Es ist Nachmittag. Die Menschen und die Dinge sind sichtbar, also muß es Licht geben. Aber ein Licht dessen Dasein nicht einleuchtet. Es bedarf einiger Anstrengung, um die Existenz dieses Lichtes an diesem frühen Novembernachmittag zu denken.

Im Café schaut sie an mir vorbei. Nichts ist da. Was aber da ist, ist ihr magerer Hals mit der einen hervortretenden, gerade verlaufenden Vene, das im Vergleich zur oberen Gesichtspartie schmale Kinn, die großen hellen Augen, die unterhalb der Iris noch ein gutes Stück weitergehen. Ich hätte denken können: „Ihre Augen sind groß, weil sie, als sie entstanden sind, Angst hatten, etwas zu versäumen“. Was
weiters da ist: Die hohe von den graublonden Haaren, die aneinander zu kleben scheinen, verdeckte Stirn. Die Wölbung von Erikas Augenbrauen, wenn sie lächelt. Das Lächeln und die gleichzeitige Wölbung der Augenbrauen, die mir vertraut sind, aber nicht verständlich, so wie die Melodie einer fremden Sprache, die man täglich hört, vertraut ist, aber nicht verständlich.
(Tage später sehe ich Antoine Watteaus "Pierrot, genannt Gilles" in einer Ausstellung im Haus der Kunst. Es ist ein ganz anderes Gesicht aber Erikas Gesicht, wenn sie lächelnd die Augenbrauen wölbt, verwandt. Auch dieses Gesicht ist vertraut und unverständlich. Aber mit seiner Unbestimmtheit und Einfältigkeit und mit seinem vagen Staunen weniger unverständlich als Erikas Gesicht.)

Was nicht da ist: Der Glanz um Erika herum. Der Glanz, der sie in den Augen anderer nicht umhüllt, sondern zusammengehalten hat, weil die anderen das, was Erika im Inneren zusammenhält nicht sehen. Deshalb geht die Erika jetzt - gerupft, stumm, glanzlos - den Augen der anderen verloren, und deshalb geht sie auch meinen Augen verloren (weil auch ich einer von den anderen bin) wie ein Kind, vier, oder fünf, kein Junge, und kein Mädchen, ein Kind einfach, mit einer hohen Kinderstirn und einer Pudelmütze, das einem anvertraut wird in einem Traum von einem Schneesturm, und das man an der Hand hält und aus der Hand verliert, immer und immer wieder, und jedesmal für ewig, an den Schneesturm. (Man ist hoch oben in diesem Traum, wie wenn man Höhenangst haben müßte, weit davon entfernt, den Boden der Talsohle unter den Füßen zu spüren, man hat nicht einmal den Gedanken an den Boden zur Verfügung.)

Im Gerichtssaal sitzen zwei Zuschauerinnen und ein Zuschauer. Ich weiß nicht, was sie mit dem polnischen Jungen zu tun haben, sie sind Deutsche. Der Richter begründet das Todesurteil. Der Junge hätte zwar nicht gewollt, daß durch die Brandlegung Menschen zu Schaden kommen, was auch nicht geschehen sei, jedoch hätte er dieses Risiko in Kauf genommen. Der polnische Gerichtsdolmetscher übersetzt dem Jungen das Urteil. Er sagt nur zwei Silben und sieht ihn dabei grimmig an. Wie wenn er es dem Jungen übel nehmen würde, daß er ihn in die schwierige Lage gebracht hat, ihm sein Todesurteil mitteilen zu müssen. Der Kehlkopf des Jungen geht zweimal auf und ab. Er dreht sich zum Pflichtverteidiger um, der hinter ihm sitzt, hinter und über ihn - er ist versteinert und stumm. Dann legt er seinen Kopf auf seine übereinander verschränkte Unterarme.

Einmal auf einer Insel des Nicht-Schweigens sagt Erika, daß sie kein Kind sei, und ich will diesen Gedanken nicht zu Ende denken.

Im August hat sich Erikas Freund erhängt. Neun Monate nachdem sie sich getrennt hatten. Erika und Günther waren elf Jahre zusammengewesen. Jetzt ist es November.

Ich habe den Günther nie gesehen. Jedesmal, wenn ich ihn mir vorstelle, sehe ich ihn auf einem Schwarzweiß-Foto. In meiner Vorstellung hat er dunkle, gelockte Haare, ist mittelgroß, schlank und hat einen Pullover mit V-Ausschnitt an, hat feine, weiche Gesichtszüge und trotzdem erinnert er mich an den Vater, wie ich ihn von Schwarzweiß-Fotografien aus den Fünfzigerjahren her kenne, als er mit siebzehn nach K. auswanderte.

Im Juli hat Erika Christine kennengelernt. Sie erzählt mir viel von Christine, aber ich kann mir kein Bild von ihr machen. Ich erfahre, daß Christine aus Wien stammt und – schon seit Jahren - in München lebt, Christine ist Filmemacherin. Die Erika und die Christine sind jetzt ein Liebespaar. Sie hätte sich, sagt Erika, schon immer zu Frauen hingezogen gefühlt, diese ihre Liebe aber niemals gelebt.
"Früher", sage ich," hast Du Dein Lesbisch-Sein also nicht ausgeübt." Erika sieht mich an, als hätte ich ihr ins Gesicht geschlagen, sodaß auch ich mich ins Gesicht geschlagen fühle. "Früher hast Du Dein Lesbisch-Sein also nicht gelebt", sage ich, und wiederhole noch zweimal: Nicht gelebt. Nicht gelebt.

Ich habe Erika im August angerufen, zwei Tage nach Günthers Begräbnis. Sie hatte nicht traurig geklungen. "Ich bin überdreht", sagte sie, "Ich begreife die Zusammenhänge nicht." Und auch, daß sie sich in der Hölle fühle und im Himmel - wegen Christine.

Günther hat Erika einen Silberbarren hinterlassen. Er hatte - mit einigem Erfolg - ein Fotolabor betrieben, weil er von seinen künstlerischen Fotografien nicht leben hatte können. Den Silberbarren hatte er aus dem im Labor verwendeten Silbernitrat, hergestellt - und als Briefbeschwerer benützt.

Der polnische Junge nimmt seine Henkersmahlzeit ein. Der Wärter, ein älterer Mann mit einem weichen, teigigen Gesicht, sitzt ihm schräg gegenüber. Er könnte sein Großvater sein. "Warum ich tot?", fragt der polnische Junge den Wärter , "Ich erst siebzehn. Ich nix gehabt vom Leben. Wenn ich vierzig und dann tot- das guuut, aber ich siebzehn, erst siebzehn."
"Das stimmt.", sagt der deutsche Wärter, "Willst Du eine rauchen?"










Ich hätte mir vorstellen können, daß Erika, immer wenn sie von Günthers Silberbarren spricht, den Silberbarren, der Günther als Briefbeschwerer gedient hat, in den Mund nimmt, in ihren trockenen Mund, und daß der Silberbarren, den Günther aus dem Silbernitrat seines Labors hergestellt hat, in Erikas heißen und trockenen Kindermund schmilzt, so daß das heiße, flüssige Silber aus ihren beiden Mundwinkeln herausfließt und zwischen ihren Mundwinkeln und ihrem Kinn zu zwei klumpigen Silberstreifen gerinnt, weil es draußen kalt ist.