Samstag, 25. September 2010

Wunderland 18.Teil



"... ob das alles - Gott, die Hölle, die
Bestrafung - nicht auchfunktionieren könnte,
wenn man nicht daran glaubt ?"













Herrad von Landsberg, Die Hölle

„Und da erst wurde mir klar, daß sich seine Stimme verändert hatte, und ich fragte ihn, um das Unheimliche zu überspielen, noch einmal, wie er als revolutionärer Frommer ‚Gott und die Scheiße‘ sagen und Schnaps trinken konnte.

Er wäre ungläubig aufgewachsen, sagte Sam, und dennoch hätte er sich immer, oder gerade deshalb, vor dem Gott der Religion Teherans gefürchtet. Als Kind wäre er in der Nacht aufgewacht, und sich nicht weiterzuschlafen getraut, weil er geträumt hätte, als Ungläubiger in der Hölle gefoltert zu werden, und wann immer er später ein Mädchen, Sie verzeihen, gevögelt, oder Alkohol konsumiert hätte, hatte er ein schlechtes Gewissen, obwohl er, bevor er das Glaubensbekenntnis aufgesagt hätte, weder an Gott geglaubt hätte, noch an den Teufel, noch an die grausamen Strafen der Hölle, er hätte sich aber immer gefragt, ob das alles - Gott, die Hölle, die Bestrafung - nicht auch funktionieren könnte, wenn man nicht daran glaubt.

Seit sich jedoch jene Stimme - während des Aufsagens des Teheraner Glaubensbekenntnisses - in ihn eingeschlichen hätte, wäre er ein Anderer. Wann immer er mit der Stimme spreche - aber er hätte die Stimme nicht immer -, sei er gläubig und sage dann, resp. die Stimme sage seltsame Dinge, daß nur der Glaube zähle, der reine Glaube, und nichts als der Glaube, und mittlerweile wären ihm Gott sowie die Religion Teherans, immer wenn er mit der Stimme spreche, wie man in der Provinz hier gesagt haben würde, ganz Plunzn, er habe dann vor nichts und niemandem Angst, auch vor Gott nicht - mich wunderte nicht mehr, daß mein Versuch, ihn zu töten, ihn so kalt gelassen hatte -, und als Glaubender - oder Die-meiste-Zeit-Glaubender, denn er habe ja die Stimme nicht immer – sei es ihm möglich, was ihm als Ungläubiger undenkbar war, nämlich Gott zu verfluchen. 'Ich habe zum Beispiel überhaupt kein Problem, aufzustehen‘, er stand auf, ‚und hier in der Öffentlichkeit

Gott ist Scheiße
zu rufen, das tat er ein paar Mal, und jedesmal lauter, bis er fast brüllte.
Der armenische Kellner kam, mit einem Lächeln, in dem sich Amüsement und Verlegenheit mischten, ‚Ich weiß schon - ein blasphemisches Stück. Aber leise, bitte. Teheran ist schließlich eine Klerikalrepublik‘.
Sam nickte, und leerte im Stehen die Kaffeetasse Schnaps. ‚Ich muß jetzt. In das Hauptquartier‘, er meinte wohl das Hauptquartier der Blauen, und indem er mir seine Karte mit seiner neuen Funktion als Generalsekretär übergab, lud er mich zum Abendessen ein. ‚Meine Frau würde sich freuen‘. Und wieder verkrampfte sich mir - wegen der Art, wie er meine Frau gesagt hatte - meine Hand um das Messer, aber das Messer war ja, wie ich möglicherweise jetzt erst bemerkte, verschwunden".

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Donnerstag, 16. September 2010

Wunderland 17. Teil

"... sondern meine eigene Stimme
wurde zu dieser Stimme aus meinem Bauch."













Der Bauchredner Fedor Wittkowsky alias Henry Rox

"Wuschelkopf-Hippie-religiöser-Faschist-Wuschelkopf-Hippie-religiöser-Faschist-Wuschelkopf-Hippie … versetzte mich in Trance, und diese muß Sam ausgenützt haben, um das Messer verschwinden zu lassen. Als ich zu mir kam, war es jedenfalls verschwunden, und im weiteren Verlauf des Gesprächs versuchte mich Sam zu überreden, mich ihm und seinen religiösen Faschisten anzuschließen. Die Aussicht berühmt zu werden, reizte mich, ich sagte es schon, dennoch machte ich ihm klar, daß ich mich dem religiösen Faschismus, mochte unsere Revolution auch gescheitert sein, nie und nimmer anschließen würde. Ich stand auf, dann setzte ich mich wieder, um ihn zu fragen, wie ausgerechnet er zu den Revolutionären Frommen gekommen sei – statt zu fragen, wie ausgerechnet er zu dem Mädchen gekommen sei, resp. das Mädchen zu ihm, wo doch das Mädchen mit ihm während unserer Schulzeit nie ein Wort gesprochen hatte.

‚Es ist uns nichts anderes übrig geblieben, sagte Sam, ‚ich meine meiner Familie und mir. Vater war ein enger Vertrauter des Kaisers, jeder hat es gewußt, und der Wurstlieferant der Teheraner Armee, die Schwester der Kaiserin war die Freundin von Mutter usw. Als klar war, daß der Kaiser gehen würde, flog Vater zusammen mit einer Abordnung der Großindustrie zum Führer der Klerikalen, damals noch im Exil, in Chicago, um sich ihm öffentlich zu unterwerfen – der Verräter“.
Der Verräter sagte wer? Du?“, fragte der Junge.
„Nein, Sam. Und ich war wieder verwundert, daß er so freimütig sprach. ‚Einen Tag nach seiner Rückkehr von Chicago‘ sagte Sam, ‚rief mich mein Vater zu sich und erklärte: Wir müssen religiös werden - so als würde er sagen: Wir müssen expandieren oder nach Amerika exportieren, oder so. Wie soll das gehen?, fragte ich ihn'. Im Gästesalon wartete ein Kleriker auf Sam und seinen Vater, beide sagten das Glaubensbekenntnis auf, und das ganze wurde auf Video aufgezeichnet. Sam erklärte mir dann das Glaubensbekenntnis, als wäre ich kein Teheraner, sondern ein Bewohner, sagen wir, der Deutschsprachigen Berge: 'Du weißt schon', sagte er, 'diese Formel, die ohnehin kein Schwein versteht, auf Arabisch, mit den vielen O’s u L’s und Gott und die ganze Scheiße“. „Gott und die ganze Scheiße - sagte wer?", fragte der Junge, "Du?“.
„Nein, Sam“, sagte der Feine, „Und ich war wieder verwundert -“,
„ – daß er so freimütig sprach“.
„Ja, und ich fragte ihn, wie er als Vorsitzender der Revolutionären Frommen ‚Gott und die ganze Scheiße‘ sagen und Schnaps trinken könne. Während er das Glaubensbekenntnis aufgesagt hätte, sagte Sam, sei ihm etwas passiert. ,Die ganze Scheiße‘, sagte er, er meinte wohl Gott und die Teheraner Religion, bzw. den Gott der Teheraner Religion, ‚die ganze Scheiße hat auf einmal von mir Besitz ergriffen. Unzwar, wie soll ich sagen, von innen. Es war … es ist mir peinlich ...‘, er senkte den Kopf und schien sich tatsächlich zu schämen, ich hatte Sam noch nie sich schämen gesehen, das paßte nicht zu ihm. ‚Ich spürte auf einmal so ein - Ding im Bauch', er zeigte auf jene Stelle, die die Messerspitze berührt hatte, so was dichtes, kompaktes, glattes, und dieses Ding stieg zu meinem Hals hinauf, und steckte dort fest, und wurde - zu einer Stimme, ich weiß nicht wie, oder war die ganze Zeit schon eine Stimme, keine innere Stimme - sondern meine eigene Stimme wurde zu dieser Stimme aus meinem Bauch“. "Ein Bauchredner“, sagte der Junge, und versuchte zu lachen.
„'Seither habe ich eine andere Stimme', sagte Sam. Und da erst wurde mir klar, daß sich seine Stimme verändert hatte“.

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Freitag, 10. September 2010

Wunderland 16. Teil

"Wuschelkopf-Hippie, religiöser Faschist,
Wuschelkopf-Hippie,
religiöser Faschist und so weiter …"




Hochzeit in Teheran

„‚Und das Mädchen‘, fragte ich, ‚was ist mit dem Mädchen‘? Sam senkte den Kopf. Es wäre ein Fehler gewesen, sie zu heiraten, er liebe sie nicht - nicht mehr, und wahrscheinlich habe sie ihn niemals geliebt, und nur wegen dieses Streits, sagte Sam, im Poesieclub, geheiratet.
„Die haben mit neunzehn geheiratet?“, fragte der Junge, „Warum?“
„Sam war etwas älter, er ist einmal sitzengeblieben, oder zweimal, ich weiß es nicht mehr, aber mit neunzehn, oder zwanzig, zu heiraten, war im Teheran der 70er Jahre nicht üblich, zumindest in der Mittelschicht nicht. Weil die Eltern des Mädchens aber aus dem Süden stammten, ich sagte es schon, und konservativ waren, mußten sie heiraten, wenn sie zusammen sein wollten.

Sam sprach abwechselnd - oder gleichzeitig - über die Poesie und die Politik und die Liebe, alles Dinge, die ihn noch nie interessiert hatten, wie ich ihn kannte, er stellte mir noch weitere, noch wichtigere Posten bei den Faschisten in Aussicht, vor allem wollte er mich berühmt machen, als unseren Dichter, wie er sagte, was die Liebe betrifft, meinte er, er und das Mädchen hätten sich am Anfang leidenschaftlich geliebt, was zu seiner Aussage, das Mädchen hätte ihn niemals geliebt, im Widerspruch stand - meine Hand verkrampfte sich um den Griff des japanischen Messers -, aber wie es in der Liebe so sei, wäre dann die Leidenschaft rasch verflogen“, an dieser Stelle hätte Sam ein Gedicht zitiert, so der Feine, über das Verfliegen der Leidenschaft, das in Teheran bekannt sei, d.h. der Feine übersetzte das seinerzeit von Sam in der Sprache Teherans zitierte Gedicht in deutsche Verse, ich bedankte mich höflich, aber ich erinnere mich nur an Bruchstücke: Erst Vulkan - Dann Balkan, Balkan, dessen zweite Silbe, so der Feine, in der Sprache Teherans betont wird - Balkán -, steht in Teheran, so wie in den Deutschsprachigen Bergen, für Elend.

„Ein Gedicht zu zitieren, schaute Sam, wie man in der Provinz hier gesagt haben würde, nicht ähnlich, und überhaupt schien er wesensverändert. Während er das Gedicht zitierte, hatte er in die Luft geschaut, und ich betrachtete seinen Wuschelkopf und den Bart und dachte, daß er mit dem Wuschelkopf und dem Bart aussah wie ein Teheraner Hippie, und dann, daß er mit dem Bart und dem Hemd, das er bis oben zugeknöpft hatte, und dem braunen Sakko, und ohne Krawatte, aussah wie ein religiöser Faschist, dann wieder wie ein Wuschelkopf-Hippie, dann wieder wie ein religiöser Faschist, Wuschelkopf-Hippie,
religiöser Faschist,
Wuschelkopf-Hippie,
religiöser Faschist
und so weiter …

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Montag, 6. September 2010

Wunderland 15. Teil

„Der Kackl, Du weißt schon, dieser Schmierige, der Reimer von der Faschistenpartei".

"Sam hob seine Kaffeetasse: ‚Auf die Revolution‘, sagte er. Ich stieß, wie reflexartig, mit ihm an, aber sagte nichts. Um anzustoßen verwendeten wir beide die Linke - weil ich ja mit der Rechten immer noch den Griff des japanischen Messers umfaßt hielt, resp. Sam mit der Rechten mein Handgelenk - und unsere Arme überkreuzten sich. Sam sagte etwas über unsere Schuldirektorin, die Lawasani, die erschossen worden war. Dann sagte er: ‚Wir haben‘, er meinte die religiösen Faschisten, ‚wir haben keine Intelligenz‘. ‚Intelligenz‘ “, der Feine wandte sich an den Jungen, „‚wie man ‚russische Intelligenz‘ sagt, also Intellektuelle - aber daß die religiösen Idioten keine Intelligenz hätten, kann man wohl im doppelten Sinne behaupten. Die Religiösen hätten also keine Intellektuellen, so Sam, und wären in anderen politischen Lagern auf der Suche nach solchen, um sie von dort ab- und für ihre Zwecke anzuwerben. Es wunderte mich, daß er über diese Dinge so freimütig sprach. Ich sollte mich noch mehr wundern. ‚Und Du', sagte er, 'bist überhaupt der wichtigste. Was wäre die Revolution ohne die revolutionären Parolen, und daß die Parolen nicht vom Himmel fallen, brauche ich nicht zu erzählen‘. Ich hatte mich schon immer gefragt“, sagte der Feine, „wer die Parolen überhaupt macht, so wie man sich fragt, wer die Witze überhaupt macht. Die Parolen würden nicht vom Himmel fallen, sagte also Sam, ‚Und weil alle Teheraner Dichter sind, brauchen wir den besten aller Dichter‘ Sam hob die Kaffeetasse, und der Kellner brachte ihm eine neue, ich hatte bloß einen winzigen Schluck aus der Tasse genommen, den ersten Schluck Alkohol meines Lebens‚ ‚und nachdem die Teheraner alle Dichter sind', sagte Sam, 'brauchen wir den besten, denn die Parolen, die müssen sitzen‘“.
Der Junge lachte: „Er wollte aus dir einen Kackl machen“. Bei Kackl schaute der Grobe irritiert, so wie der Junge bei Intelligenz irritiert geschaut hatte - der Junge wandte sich an den Groben: „Du weißt schon, Kackl, dieser Schmierige, der Reimer von der Faschistenpartei“. „So was in der Art“, sagte der Feine, „Sam meinte, daß ich, ohnehin keine Wahl hätte, als mich auf die Seite der Faschisten zu schlagen, denn die religiösen Faschisten - und sein Ton wurde an dieser Stelle verschwörerisch – denn die religiösen Faschisten würden alle anderen politischen Lager früher oder später liquidieren.

'Und das Mädchen'?, fragte ich, 'was ist mit dem Mädchen?'"

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Freitag, 3. September 2010

Wunderland 14. Teil

Eine Kaffeetasse Schnaps









„Sam hatte das Messer auf den Tisch gelegt - neben die
Kaffeetasse mit dem Schnaps. Als er sagte, er wäre nicht mehr der Chef der Revolutionären Frommen, sondern ich, fiel mir ein, daß ich gekommen war, ihn zu töten. Ich langte nach dem Griff des japanischen Messers. Sam packte mich am Handgelenk.
- Du gehörts jetzt zu uns.
- Zu uns ...?
- Zu mir und den Revolutionären Frommen.

Die Revolutionären Frommen waren eine Organisation im Vorfeld der Blauen. Man hatte Sam angeboten, Generalsekretär bei den Blauen zu werden, so daß der Posten des Vorsitzenden der Frommen vakant war. Wenige Stunden vor unserem Treffen hatte Sam den Vorstand seiner Revolutionären Frommen über seine Berufung zum General der Blauen unterrichtet, und als seinen Nachfolger mich vorgeschlagen.
Ich sagte, Du seiest der Bruder mit der Parole - und sie waren begeistert.
Du spinnst, sagte ich. Sam lächelte und begann mir meine Aufgaben als Vorsitzender der Frommen auseinanderzusetzen, dabei fuhr er fort, meine Hand festzuhalten, die ihrerseits den Griff des japanischen Messers umfaßt hielt. Auf einmal hörte ich mich brüllen: Was hast Du mit dem Mädchen gemacht? Es war das erste Mal, daß ich in Sams Gesicht - nicht Angst, aber so etwas wie Irritation sah, resp. Sorge.
- Ich ... geheiratet habe ich sie.
Der dicke, vom Akzent her armenische Kellner war wieder da, und zwinkerte uns zu: Ich weiß schon - Liebesdrama, und servierte auch mir eine Kaffeetasse Schnaps“.

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