Montag, 30. Dezember 2019

„Exekution ist keine Kunst!“ (2)


Leonardo da Vinci - im Hintergrund die Mona LisaDie Crux mit der psychoanalytischen Kunsttheorie 

Was bei den alten Römern Genuss evozierte, bei manchen Zeitgenossen aber (als Imaginiertes und Projiziertes) Ablehnung und Abscheu, resultiert aus der Verfehlung einer Kategorie, die wir das Kunstschreckliche  nennen könnten – im Unterschied zum „realen Schrecklichen“. Und in Anlehnung an den für die ästhetische Theorie seit Kant und Hegel zentralen Begriff des Kunstschönen (im Unterschied zum Naturschönen), auf den auch Adorno sich immer wieder bezieht. Etwa wenn er sich in seinen Vorlesungen zur Ästhetik fragt, worin der Unterschied zwischen dem Genuss eines Kunstwerks und dem eines guten Weins besteht.

Zwar würde es, meint Adorno, auch in bedeutenden Kunstwerken „an Momenten des sensuellen Reizes“ nicht mangeln, weil „die Sphäre der Kunst überhaupt diesem Interesse am sinnlichen Reiz abgewonnen“6 sei. Wenn wir uns aber „dem Kunstwerk gegenüber buchstäblich so [verhalten], wie wir uns einer guten Speise – oder lassen Sie mich sagen: einem sehr guten Wein – gegenüber verhalten“, dann konsumieren wir das Kunstwerk so, „wie wenn es ein leibhaft wirkliches wäre.“ Und verletzten „das Tabu, an dem nun einmal die Kunst überhaupt ihr Gesetz hat, daß sie nämlich [...] eine Sphäre darstellt, die aus der Sphäre des bloßen empirischen Daseins herausgegliedert ist.“ 7 In einer früheren Sitzung derselben Vorlesungsreihe beschreibt Adorno dieses „Herausfallen“ der Sphäre der Kunst aus der Sphäre des „bloßen empirischen Daseins“ als Ergebnis einer Sublimierung im Freudschen Verständnis.

„Man kann sagen, daß gerade in dem Tabu, das das Kunstwerk über das Begehren verhängt, also gerade in der Weigerung eines jeden Kunstwerks, betastet, verschlungen, in irgendeinem  Sinn angeeignet zu werden [...] das Naturmoment sich negativ aufgehoben findet, das in dem Begehren vorhanden war. Das heißt die Energien, die es [i.e. das Kunstwerk; Anm. von mir] ursprünglich haben, sich einverleiben, unmittelbar besitzen wollten, sind es nun, die darauf gehen, das Schöne überhaupt als eine Art Sondersphäre gegenüber der Sphäre der bloßen Unmittelbarkeit [...] zu konstituieren. [...] bei jenen Triebenergien, die verwandelt werden müssen, damit es zu etwas wie einer Erfahrung des Schönen kommt, [handelt es sich] wesentlich um Triebenergien der sexuellen Art; daran ist gar kein Zweifel. Aber das Spezifische – und das hat die Psychoanalyse sicher richtig gesehen –, was nun mit diesen Triebenergien geschieht, ist, daß sie, wo es zu einer Erfahrung des Schönen kommt, [...] ‚sublimiert’, das heißt also in gewisser Weise festgehalten, bewahrt werden, aber auf eine Weise, die das, was ursprünglich einmal unmittelbares Begehren war, nun in die bloße Imagination, in die bloße Vorstellung setzt.“8 

Sublimierung fasst Freud in Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci, als eine „Fähigkeit“ auf, die den Sexualtrieb in die Lage versetze, „sein nächstes Ziel gegen andere, eventuell höher gewertete, und nicht sexuelle, Ziele zu vertauschen. Wir halten diesen Vorgang für erwiesen, wenn uns die Kindergeschichte, also die seelische Entwicklungsgeschichte einer Person zeigt, daß zur Kinderzeit der übermächtige Trieb im Dienste sexueller Interessen stand. Wir finden eine weitere Bestätigung darin, wenn sich im Sexualleben reifer Jahre eine auffällige Verkümmerung dartut, gleichsam als ob ein Stück der Sexualbetätigung nun durch die Betätigung des übermächtigen Triebes [gemeint ist der Forschertrieb oder der künstlerische Schaffenstrieb, Anm. von mir] ersetzt wäre.“9 

Als Ansatz zur Interpretation von Werken der Kunst birgt Freuds Sublimierungstheorie, wie auch andere psychoanalytische Erklärungsmodelle, jedoch ein altbekanntes Problem. Kunstinterpretationen der Psychoanalyse laufen Gefahr, Kunstwerke als Symptome der Persönlichkeit, der Biographie – und der Pathologie ihrer Schöpfer zu interpretieren, mit Adorno zu sprechen, den Anschein zu erwecken, „das Schöne“ sei nichts als „abgelenkte Sexualität.“10 

In jüngerer Zeit hat Robert Pfaller, Philosoph und theoretischer Psychoanalytiker, den psychoanalytischen Sublimierungsbegriff neu zu interpretieren versucht. Pfaller versteht Sublimierung nicht als psychische Leistung Einzelner, sondern als eine Ressource der „Kultur“ (wie er wohl in Anlehnung an die Terminologie von Freuds kulturkritischen Schriften schreibt), respektive der Gesellschaft (wie wir heute sagen würden). Die Kultur, so Pfaller, würde dem Subjekt Strukturen zur Verfügung stellen, die das Potential hätten, „Dinge, die anstößig oder abstoßend erscheinen, durch einen Kunstgriff in etwas zu verwandeln, das [...] Freude bereiten kann [...] [und] aus diesen Dingen etwas Sublimes“11 zu machen.

Eine solche Struktur kann schon ein Abendessen mit Freunden zur Verfügung stellen. Das Bier, das wir im Beisein dieser Freunde trinken, wird in der Regel gut schmecken. Aber: „dasselbe Bierglas am Morgen zu sehen, löst dann vielleicht Ekelgefühle aus.“12  Das Bierglas am nächsten Morgen stößt ab, weil ihm der situative und gesellschaftliche Rahmen fehlt, der Geselligkeit produziert und das Bier durch jenen – Sublimierung genannten – Kunstgriff in etwas Genießbares verwandelt.

Aber halt. Pfaller scheint hier nicht bloß den Ort, an dem Sublimierung stattfinden soll, von der Psyche des Einzelnen in den Kontext der Kultur zu verlegen. Sein Begriff von Sublimierung scheint auch etwas anderes, der Sublimierung, wie Freud sie versteht, Entgegengesetztes zu meinen.
Während das Subjekt der Sublimierung bei Freud sexuelle Ziele zugunsten „höher gewerteter“ aufgibt, auf Lust also verzichtet, geht es bei der Sublimierung, wie Pfaller sie denkt, im Gegenteil, um die Ermöglichung von Lust. Dinge, die „anstößig oder abstoßend erscheinen“, werden qua Sublimierung erst genießbar. Während also der Weg der Freudschen Sublimierung von der (sexuellen) Lust zum Verzicht auf Lust führt, oder zur Unlust, geht das Subjekt, das im Sinne Pfallers die Angebote der Kultur in Anspruch nimmt, den umgekehrten Weg: Von der Unlust („Dinge die anstößig oder abstoßend erscheinen“) zur Lust.

Ein weiterer Unterschied zwischen dem Freudschen und dem Pfallerschen Sublimierungskonzept betrifft die Beziehung des Subjekts zur Kultur (respektive zur Gesellschaft). Vor dem Hintergrund seiner Kulturkritik spielt Kultur im Sublimierungskonzept Sigmund Freuds die Rolle der großen triebfeindlichen Spielverderberin. Sublimierung ist eine jener Agentinnen der Kultur, mit deren Hilfe sie der Triebnatur des Menschen enge Grenzen setzt. Wohingegen Pfaller Kultur als jene Instanz denkt, die, im Gegenteil, den Genuss erst ermöglicht.

Warum brauchen wir aber überhaupt eine solche Genuss ermöglichende Instanz? Warum können wir nicht unmittelbar genießen? Und woher kommt jener Ekel, der uns beim Anblick des Bierglases am Morgen und bei allen möglichen anderen (allen möglichen und unmöglichen anderen) Gelegenheiten befällt? Dieser Frage stellt sich Freud in Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie in mehreren Anläufen. Etwa dort, wo er den Ekel jenen „seelischen Mächten“ zuordnet, die in der sexuellen Latenzperiode aufgebaut werden und „später dem Sexualtrieb als Hemmnisse in den Weg treten [...] Man gewinnt beim Kulturkinde den Eindruck, daß der Aufbau dieser Dämme ein Werk der Erziehung ist, und sicherlich tut die Erziehung viel dazu. In Wirklichkeit ist diese Entwicklung eine organisch bedingte, hereditär fixierte und kann sich gelegentlich ganz ohne Mithilfe der Erziehung herstellen. [Hervorhebungen von mir]“13 

Anders als in seinen kulturkritischen Schriften sieht Freud hier also auch die „Natur“ – und nicht bloß die „Kultur“ – in der Rolle der Spielverderberin, die den Sexualtrieb, etwa als Ekel, behindert. Und Kultur – möchten wir mit Pfaller einwerfen  – kann uns helfen, jene Hemmnisse, welche die Natur unserer Lust in den Weg stellt, zu überwinden.

Freuds Sublimierungstheorie lässt sich mit Pfaller also rückwirkend neu lesen: Das Subjekt der Freudschen Sublimierung bewegt sich nicht immer von der Lust zum Lustverzicht oder zur Unlust. Schon bei Freud kann Sublimierung auch als Bewegung von einer – durch natürliche Hemmnisse – verhinderten Lust zu sublimen „kulturellen Genüssen“ aufgefasst werden wie sie etwa die Kunst und andere Angebote der Kultur bereithalten – das Spiel, der Sport oder die Wissenschaft. Würden wir dieser Reihe auch jenes abendliche Biertrinken mit Freunden hinzufügen, würde uns Freud übrigens nicht widersprechen, gilt ihm das Fest doch als Institution der Kultur.14 

Von Pfallers eigenem Verständnis von Sublimierung unterscheidet sich die im Rückblick reformulierte Freudsche allerdings darin, dass Pfaller dasselbe Objekt, das zunächst ungenießbar erscheint, oben etwa das Bier am Morgen, durch jenen Kunstgriff der Kultur in etwas sublimes, ergo genießbares verwandelt. Während Freud einen (allenfalls durch natürliche Faktoren gehemmten) Trieb durch andere „Triebe“ (den Forschertrieb, den künstlerischen Schaffenstrieb u.Ä.) ersetzt.

Beide Ansätze fassen Sublimierung jedenfalls nicht (bloß), wie die herkömmliche Psychoanalyse, als eine Bewegung weg von der Lust und hin zu einem Verzicht auf Lust auf, sondern, im Gegenteil (auch)15 als eine Bewegung von einer durch Hemmung, Ekel und anderen Hindernissen verfehlten Lust – zum einen – hin  zu der Möglichkeit von Lust, zum anderen aber auch zu einer „besseren“, weil sublimen. 

wird fortgesetzt 

6 Theodor W. Adorno, Ästhetik (Vorlesungen 1958/59), Frankfurt am Main 2017, S. 177 

7 Ebd., S. 178 

8 Ebd. S. 57 f. 

9 Sigmund Freud, Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci. In ders., Gesammelte Werke, Beiden VIII, Frankfurt am Main 1999, S.14

10 Adorno, Ästhetik (Vorlesungen 1958/59),, S. 56 

11 Robert Pfaller, Das schmutzige Heilige und die reine Vernunft. Symptome der Gegenwartskultur. Frankfurt am Main 2008, S. 127 

12 „Lassen wir uns das gute Leben nicht schon vor dem Tod nehmen!“, Interview mit Robert Pfaller, Die Presse, 11. März 2011 

13 Sigmund Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. In ders., Gesammelte Werke, Bd V, Frankfurt am Main 1999, S. 78 

14 Vgl. Sigmund Freud, Totem und Tabu. In ders., Gesammelte Werke, Bd IX, Frankfurt am Main 1999, S. 169 f 

15 auch bezieht sich hier auf den Ansatz Freuds.

Mittwoch, 4. Dezember 2019

"Exekution ist keine Kunst!" (1)


Bildergebnis für Asterix
Asterix und Obelix sind häufig mit köstlichen Anachronismen konfrontiert
„Exekution ist keine Kunst!“ 

„Exekution ist keine Kunst!“ lautete ein Protestschild gegen Scaffold, eine Installation des US-Künstlers Sam Durant, die im Park des renommierten Walker Centers in Minneapolis aufgestellt worden war – ein Holzgerüst als Anspielung auf den Galgen als eine „für die amerikanische Geschichte zentrale Architektur“1. 

Scaffold ließ sich zwar als allgemeiner Hinweis auf die Praxis der Exekution durch Erhängen in der Geschichte der Vereinigten Staaten interpretieren. Die Proteste verstanden die Installation aber explizit als Anspielung auf die größte Massenhinrichtung in der US-Geschichte: Die Exekution von achtunddreißig Angehörigen der Dakota, nach der Niederschlagung des Sioux-Aufstandes, 1862, im unweit von Minneapolis gelegenen Mankato.

In den Debatten um Scaffold, die weite Teile (nicht nur) der kunstinteressierten Öffentlichkeit (nicht nur) in den USA erfassten, ging es – wie nicht anders zu erwarten – um Topoi wie „Cultural Appropriation“ und „White Supremacy“. Interessieren soll im Folgenden aber ein anderer, unterbelichteter Aspekt dieser und ähnlicher Kontroversen: Welche Auffassung von Kunst mag der Wahrnehmung einer aus Holzbalken bestehenden künstlerischen Installation als Exekution zugrunde liegen? Es geht hier selbstverständlich nicht um die „Kunstauffassung der Angehörigen der Dakota“. Solcherart Positionen begegnen in Kunstdebatten der letzten Jahre immer wieder und werden, etwa in den USA, sowohl von Angehörigen der weißen Mehrheit als auch von jenen nicht-weißer Minderheiten vertreten.2 

Asterix und der Protest gegen Exekution in der Kunst 

Als ich von den Protesten gegen Scaffold las, führte mich eine Kette von Assoziationen von der Parole „Exekution ist keine Kunst!“ zu René Goscinny, dem unsterblichen Erfinder von Asterix, der letzteren immer wieder mit köstlichen Anachronismen konfrontiert. In Asterix bei den Schweizern lässt er ihn etwa, zusammen mit Obelix, in einer Art „Autobahnraststätte“ einkehren. Ein Kellner bemerkt, dass sie, wenn sie Glück hätten, Zeugen eines Unglücks auf der Wagenbahn werden könnten. In ähnlich anachronistischer Weise könnte man sich den Slogan „Exekution ist keine Kunst!“ auf einem Protestschild gegen jene im alten Rom übliche Synthese aus „Tragödie und Gladiatorenkampf“3 vorstellen, über die der Kulturhistoriker Ludwig Friedländer schreibt:

„Auch eigentlich theatralische, besonders pantomimische Vorstellungen fanden in der Arena statt, nur daß die Schauspieler verurteilte Verbrecher waren, die eigens dazu unterrichtet und eingeübt wurden, und daß sie Tod und Martern nicht fingierten, sondern wirklich erlitten. In kostbaren, golddurchwirkten Tuniken und Purpurmänteln, mit goldenen Kränzen geschmückt, traten sie auf; doch wie aus den todbringenden Gewändern der Medea fuhren plötzlich Flammen aus diesen prächtigen Kleidern, in denen die Elenden grauenvoll umkamen.“4 

Von den Besuchern jener grausamen Schauspiele scheinen postmoderne Subjekte, die eine künstlerische Anspielung auf Exekutionen gleichsam als realen Akt der Exekution wahrnehmen, Welten zu trennen. Ähnliches scheint auch für jene zeitgenössischen Leser(innen) zu gelten, die dafür eintreten, bestimmte Werke der Literatur mit Warnhinweisen zu versehen, sogenannten Trigger Warnings, da eine Konfrontation mit bestimmten Passagen dieser Werke ihre Gefühle, etwa als Angehörige einer sexuellen, ethnischen, religiösen ... Minderheit, verletzten und sie in ihrer psychischen Gesundheit beeinträchtigen könnte.

Aus der Sicht der Psychoanalyse könnten die Dinge aber ganz anders liegen. Wenn ein Analysand seiner Analytikerin zuruft: „Sie langweilen sich gerade mit mir!“, könnte sie ihn auf den banalen Umstand aufmerksam machen, dass es sich bei dieser Zuschreibung um seinen Gedanken handelt. Und dass es für den analytischen Prozess hilfreich sein könnte, zu prüfen, was dieser Gedanke mit dem Analysanden selbst zu tun haben mag – mit seinen aktuellen und vergangenen Erfahrungen etc. Unabhängig davon, ob sich die Analytikerin nun tatsächlich langweilen mag oder nicht. 

Eine psychoanalytische Intervention 

Wenden wir diese simple Strategie auf die Parole „Exekution ist keine Kunst!“ an, könnten wir ihrem Urheber folgendes zurufen:

„Bevor du – bezugnehmend auf eine Kunstinstallation wie Scaffold – ausrufen kannst: ‚Exekution ist keine Kunst!’, musst du diese symbolische Anspielung auf Exekution zunächst als realen Akt der Exekution aufgefasst haben. Um dann deine Imagination einer realen Exekution in den symbolischen Rahmen einer Kunstinstallation zu projizieren – und ausrufen zu können: ‚Exekution ist keine Kunst!’“

Was abgelehnt wird, die Exekution, liegt also im Auge des Betrachters.  Hinter der Parole „Exekution ist keine Kunst!“ steht, so gesehen, eine Kunstauffassung, die zwischen Realität und Kunst, zwischen der symbolischen  und der realen Ebene keinen Unterschied macht.

Hatte in jenen antiken Theaterstücken die Aufhebung der Differenz zwischen dem Symbolischen (dem gespielten Tod des Tragödienmimen) und dem Realen (das tatsächliche Sterben der Verurteilten) auf der Ebene der Produktion von „Kunst“ stattgefunden, findet sie heute auf der Ebene ihrer Rezeption statt: Mehr und mehr Zeitgenossen – bei den Protesten gegen Scaffold und den Forderungen nach Trigger Warnings handelt es sich um zwei von vielen Beispielen für diese Tendenz5 – scheinen in ihrer Rezeption von Filmen, Theaterstücken, Werken der Literatur und der bildenden Kunst ebendiese Differenz auszublenden. Als handelte es sich nicht um Werke der Kunst – sondern um konkrete Realität. Als würden auf den Brettern von Scaffold tatsächlich Menschen exekutiert und als würden literarische Werke, in denen von Gewalt, Mord oder Krieg die Rede ist, Gewalt, Mord oder Krieg nicht bloß beschreiben, sondern real produzieren. Nennen wir diese Kunstauffassung konkretistisch. 

Das Kunstschreckliche und das Kunstschöne 

Vergleichen wir die Haltung der Besucher jener altrömischen Spektakel mit der von Zeitgenossen, die gegen Scaffold „als Exekution“ protestierten oder Trigger Warnings für bestimmte Werke der Literatur fordern, haben wir es im antiken Rom mit Rezipienten zu tun, die auf reale Exekutionen in theatralischen Vorstellungen mit Genuss reagieren, in den Reaktionen auf Scaffold und bei den Forderern von Trigger Warnings hingegen mit Zeitgenossen, bei denen eine imaginierte Exekution oder die bloße Beschreibung von Mord oder Krieg Furcht, Abscheu und Proteste auslöst.

Was bei den alten Römern Genuss und heute (als imaginiertes und auf Kunstwerke projiziertes) vielfach Abscheu und Ablehnung evoziert(e), gehört einer Kategorie an, die wir in Anlehnung an den (und in Kontrast zum) Begriff des Kunstschönen – ein für die ästhetische Theorie von Kant und Hegel bis Adorno zentraler Begriff – das Kunstschreckliche nennen könnten. 

wird fortgesetzt 

1 Dies ist keine Exekution, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21. Juni 2017 

2  Darüber hinaus müssten wir, um die Berechtigung der Zuschreibung „Kunstauffassung der Angehörigen der Dakota“ beurteilen zu können, wissen, wie repräsentativ jene Auffassung für Angehörige der Dakota sein mag. Dabei geht es wohlgemerkt nicht um die grundsätzliche Ablehnung von Scaffold durch einzelne Angehörige der Dakota, sondern um die Frage, wie weit diese der – in der Aussage „Exekution ist keine Kunst!“ implizierten – Position, es hätte sich bei Scaffold um Exekution gehandelt, zustimmen würden. 

3 Theodor W. Adorno, Ästhetik (Vorlesungen 1958/59), Frankfurt am Main 2017, S. 72 

4 Ludwig Friedländer, Sittengeschichte Roms, Leipzig 1922, S. 90 

5 Vergleiche Hanno Rauterbergs sehr erhellenden Essay Wie frei ist die Kunst?, Frankfurt am Main 2018