Freitag, 29. April 2016

„Obama ist nicht schwarz“ – oder wie es kam, daß die Mormonen 2011 keine Terroristen wurden (6)



„Unsere Ehre wurde mit Füßen getreten. Irans Größe und Ehre ist verloren. Die Größe und Ehre der iranischen Armee ist verloren. Das Parlament hat ein Gesetz verabschiedet, das allen amerikanischen Militärberatern samt ihren Familien, ihrem technischen Personal und ihren Hausangestellten, welches Verbrechen sie auch immer begehen mögen, Immunität zuspricht. Nun ist das iranische Volk weniger wert als amerikanische Hunde. Wenn jemand einen amerikanischen Hund überfährt, wird er zur Rechenschaft gezogen. Wenn der iranische Kaiser einen amerikanischen Hund überfährt, wird er zur Rechenschaft gezogen. Überfährt ein amerikanischer Koch den Kaiser [...] hat niemand das Recht, zu protestieren. Ich warne vor einer großen Gefahr! [...] Ihr Führer des Islam, der Islam ist in Gefahr. Rettet den Islam!“

Das war eine Passage aus der berühmten Rede Ruhollah Khomeynis, des späteren Führers der islamischen Revolution, am 26. Oktober 1964, in der er die Verabschiedung eines Gesetzes durch das iranische Parlament beklagte, das US-Militärberatern eine Art diplomatische Immunität zusprach - sofern das in Frage stehende Delikt in Ausübung ihres Dienstes begangen wurde.

Noch am selben Tag veröffentlichte Khomeyni ein Kommuniqué, in dem es unter anderem hieß:

„Die Welt soll wissen, daß an allen Problemen des iranischen Volkes und anderer islamischer Völker die Ausländer [sic!] schuld sind - die Ausländer, und die Amerikaner. Das iranische Volk hasst Ausländer im allgemeinen und Amerikaner im besonderen“.

Der Begriff, den Khomeyni weiter oben für jenes Objekt verwendet, dessen Verlust er beklagt bzw. befürchtet, Ezzat, hat einen weiteren Bedeutungsumfang als die deutsche Übersetzung „Ehre“ vermuten läßt. Das Wörterbuch übersetzt Ezzat darüber hinaus mit Ehrfurcht, Achtung, Glorie, Herrlichkeit. Eine Umschreibung, die diesen Bedeutungsumfang in etwa wiedergeben würde, wäre: der - ehrfurchtgebietende - Glanz der Herrschaft oder: der Glanz der den Mächtigen umgibt.

Die Klage des Islamisten Khomeyni ist prototypisch für die Haltung und die Weltsicht aller Islamisten. Es ist die Klage über den Verlust (oder den drohenden Verlust) der Macht und der „Herrlichkeit der Macht“ des Islam. So wie die Identität der „echten Schwarzen“ im Sinne Dickersens auf der Identifizierung mit dem verlorenen Objekt „Würde“ beruht, gründet die Identität des Islamisten auf seiner Identifizierung mit dem verlorenen Objekt „Ehre“ - im Sinne der „Herrlichkeit der Macht“ des Islam. Und es sind die Ungläubigen, der Kolonialismus, der US-Imperialismus, der globale Kapitalismus, die Juden, Israel etc., die diese Ehre - in seinen Augen - mit Füßen getreten haben – und treten.

„Amerika ist schlimmer als England, England ist schlimmer als Amerika, die Sowjetunion ist schlimmer als alle anderen, alle sind schlimmer als alle anderen ... alle unsere Probleme sind von Amerika gemacht, alle unsere Probleme sind von Israel gemacht. Israel gehört zu Amerika.“

sagt Khomeyni an einer anderen Stelle der oben zitierten Rede.

Der Islamist, dem das Objekt „Ehre des Islam“ in der Gegenwart verloren erscheint, und da er mit dem „Islam“ identifiziert ist, seine eigene Ehre - verloren oder beschädigt oder bedroht –, dieser Islamist identifiziert sich nun, in Reaktion auf diesen Verlust, mit dem frühen Islam. Mit jenem vermeintlich goldenen Zeitalter, in dem er die unbeschädigte „Herrlichkeit der Macht“ des Islam noch in Kraft sieht.

Zwischen dem Objekt Ehre und dem Objekt Würde existiert aber ein für unseren Zusammenhang entscheidender Unterschied.

Zwar ist entgegen anderslautender Behauptungen die Würde des Menschen - siehe Amérys Rede vom „Würdeentzug“ – durchaus antastbar. „Würde“ ist also kein vom gesellschaftlichen Außen gänzlich abgekapselter Wert. Dennoch verortet unsere Alltagsintuition „Würde“ – nicht ganz zu unrecht - primär im „Innenraum“ der Subjekte.

Ehre hingegen ist ein gesellschaftlich hergestellter, dem Subjekt von Außen zugeteilter und im gesellschaftlichen Umgang leicht wieder zu zerstörender Wert. Und dementsprechend verletzlich. Die Ehre ist daher auch in modernen Gesellschaften ein rechtlich geschützes, weil zerbrechliches Gut (Ehrverletzungsdelikte). Daß es, andererseits, um die Würde des Menschen zu verletzen, oder sie ihm gar zu entziehen, viel radikalerer Maßbahmen bedarf (siehe oben), scheint der erwähnten Alltagsintuition, welche die Würde des Menschen ungleich fester in seinem Inneren verankert sieht als die Ehre, recht zu geben. Zumal, wenn uns Ehre in der spezifischen Gestalt von Ezzat begegnet: als Glanz, der die Macht umgibt, kann diese Art Ehre ihren Ort natürlich nicht in subjektiver Innerlichkeit haben, setzt sie doch die Herrschaft über real existierende andere in der „handfesten“ äußeren Realität voraus.

wird fortgesetzt

Donnerstag, 28. April 2016

„Obama ist nicht schwarz“ – oder wie es kam, daß die Mormonen 2011 keine Terroristen wurden (5)

Karl Abraham
Der Berliner Psychoanalytiker Karl Abraham, ein Pionier der Psychoanalyse, beschreibt in seiner Schrift „Versuch der Entwicklungsgeschichte der Libido“ (1924) den Fall eines Patienten, der

„in seinen ersten Lebensjahren ein in jedem Sinne verwöhntes Kind [war]. [Von der Brust] [...] entwöhnte ihn [die Mutter] erst mit drei Jahren. Mit der Entwöhnung, die unter großen Schwierigkeiten erfolgte, traf nun zeitlich eine Reihe von Ereignissen zusammen, die den [...] Knaben plötzlich seines Paradieses beraubten. Er war bisher der Liebling der Eltern, der um drei Jahre älteren Schwester und der Kinderfrau gewesen. Die Schwester starb, die Mutter zog sich in eine [...] langdauernde Trauer zurück [...]. Die Kinderfrau verließ die Familie. Die Eltern [...] aber ertrugen das Leben in dem bisherigen Hause nicht, da sie sich beständig an das verstorbene ältere Kind erinnert fühlten. Man zog in [...] ein neues Haus. Mein Patient hatte ... alles verloren, was ihm bis dahin an Mütterlichkeit zuteil geworden war. Die Mutter hatte ihm zuerst die Brust entzogen und sich dann in ihrer Trauer auch psychisch gegen ihn abgesperrt. Schwester und Kinderfrau waren nicht mehr da, und selbst das Haus — ein so wichtiges Symbol der Mutter -  existierte nicht mehr.

[...] Im halberwachsenen Alter verlor der Patient seinen Vater [...] und lebte nun mit der Mutter, der er jetzt [wieder] liebevoll zugetan war. Aber nach kurzer Witwenschaft heiratete die Mutter und ging mit ihrem Mann für längere Zeit auf Reisen. Sie stieß damit die Liebe des Sohnes aufs neue von sich ab [...]

Nach einer Reihe von Jahren starb die Mutter des Patienten. Er weilte während ihrer letzten Krankheit bei ihr und hielt die Sterbende in seinen Armen. Die starke Nachwirkung dieses Erlebnisses erklärt sich [...] daraus, daß es eine vollkommene Umkehrung der unvergessenen Situation darstellte, in welcher der Patient als kleines Kind in den Armen und an der Brust der Mutter gelegen hatte.

Kaum war die Mutter gestorben, so eilte der Sohn in die [...] Stadt, in welcher er sonst lebte, zurück. Seine Affektlage aber war keineswegs die eines Trauernden, sondern gehoben, glückselig. Er schildert, wie er von dem Gefühl beherrscht war, die Mutter nun für immer und unverlierbar in sich zu tragen. Eine innere Unruhe bezog sich nur auf die Beerdigung der Mutter. Es war, als störte ihn die Tatsache, daß der Körper der Mutter noch sichtbar im Sterbehause lag. Erst nach der Beerdigung konnte er sich dem ... Gefühl des unverlierbaren Besitzes der Mutter hingeben.“ 


Karl Abraham entwickelt hier – in einer geradezu poetischen Sprache – die psychoanalytische Theorie der Identifizierung - als Mechanismus der Verlustverarbeitung. Abrahams Patient reagiert auf den Verlust des mütterlichen Objekts indem er sich mit der Mutter identifiziert - sich die Mutter buchstäblich einverleibt: er trägt „die Mutter nun für immer und unverlierbar in sich“. Identifizierung bedeutet hier zugleich Rückzug ins Innere: das Subjekt zieht sich, in Reaktion auf den Verlust des geliebten Objekts, auf die Bühne seines Inneren zurück – und wechselt dabei die Rolle. Es ist nun nicht mehr der Patient, der die Mutter liebt. Da er sich die Mutter „einverleibt“ hat, ist er selbst zur Mutter geworden - ist nun also selbst das geliebte Objekt. Er liebt nicht mehr, sondern wird geliebt. Und zwar von sich selbst.

Identifizierungen gehen daher – mit Freud zu sprechen – stets mit einer Zunahme an narzißtischer Libido auf Kosten von Objektlibido einher. Es kommt also – in unsere Alltagssprache übersetzt – zu einer Zunahme an Selbstachtung und Selbstwertgefühl auf Kosten des Interesses an der real existierenden Außenwelt. Nach dem Motto: „Ich habe nun das Objekt meiner Liebe unverlierbar in mir – das macht mich stark, weil unabhängig von der Welt da draußen“.

Lesen wir nun Debra Dickersens Satz (Schwarz heißt, daß jemand von westafrikanischen Sklaven abstammt“) vor diesem Hintergrund, läßt sich jene Würde, die den Schwarzen unter Todesdrohung entzogen wurde, als (immer schon) verlorenes „äußeres Objekt“ auffassen, das hier zu einem inneren Objekt wird, mit dem sich Dickersen und andere „echte“ schwarze US-Amerikaner identifizieren - und das den Namen „Abstammung von westafrikanischen Sklaven“ trägt.

Wie jede Identität verlagert auch die Identität, die auf der Identifizierung mit der „Abstammung von westafrikanischen Sklaven“ gründet, das Interesse der Subjekte von der realen Außenwelt auf das imaginäre Innere. Dort bietet sie dem Subjekt - als Ersatz für das draußen, in der gesellschaftlichen Realität, fehlende Objekt „Würde“ - ein imaginäres inneres Objekt an, mit dem es sich identifizieren kann. Das Subjekt selbst wird also, anders gesagt, zu jener Würde, die es - in den Augen der rassistischen Gesellschaft – nicht hat.

wird fortgesetzt

Mittwoch, 27. April 2016

Zizek in Teheran (123)


Das Gebäude des TRF II

Zuvor waren
Über Mittelsmänner
Mitglieder
Der Fraktion
Der Reformer
In der Redaktion
Des
Zweiten Teheraner Rundfunks
TRF II
An Kardan
Herangetreten
Mit dem Ansinnen
Er möge
Als Drehbuchautor und Regisseur
Mithelfen
Das Projekt einer
Unterhaltsamen Fernsehserie
Zu realisieren

Kardan hatte abgelehnt
Er wolle
Im Gefängnis
Bleiben

Und Schreiben.

Die Beziehungen zwischen den
In Kardans Romanen
Reformfaschisten genannten
Reformern
Und den
In Kardans Romanen
Fundamentalfaschisten genannten
Prinzipalisten
Untereinander

So wie die Beziehungen
Zwischen den Prinzipalisten und den Reformern auf der einen
Und der
Institution des Führertums
Auf der anderen Seite
Sind
komplex.

Viele ihrer Anhänger
Vergessen
Oder wollen nicht wissen
Daß die Reformer
An der Gründung
Und am Aufbau
Unserer
Geheimdienste
Entscheidenden
Anteil hatten

Und seit Jahren
Beherrschen sie
Die Geheimdienste
Unserer Republik
Oder: Haben beherrscht

Denn seit jenen
Präsidentschaftswahlen
Ist alles
Ein wenig
Anders.

Aber auch heute
Da sie infolge
Jener Präsidentschaftswahlen
Im Jahre 2009
An Einfluß
Eingebüßt haben
Sowohl in den Geheimdiensten
Als auch in allen anderen
Institutionen
Unserer Republik
Auch heute
Hat die Partei der Reformer
In allen Rängen
Aller Geheimdienste
Des Landes
Ihre Leute
Sitzen

Das
Müßt Ihr wissen
Um der Episode
Zu folgen
Die ich
Gerade berichte
In der wir
Ich und vier jüngere
Mitglieder
Des
Geheimen Bundespolizeilichen Geheimdiensts von Teheran
Den Elektrischen
Hierher
In das Haus des Vergessens
Der Bibliothek der in Teheran verfaßten Bücher
Des Internats Islamischer Mädchen
Verbrachten

Enttäuscht über Kardans Weigerung
Jenes großzügige
Eigentlich unwiderstehliche
Angebot
Jenes
Fernsehserien-Angebot
Anzunehmen
Das sie ihm
Unterbreitet hatten
Hatten sich
Die Parteigänger
Der Reformer
In der Redaktion
des Zweiten Teheraner Rundfunks
TRF II
An einen der Reformer
In den obersten Rängen
Unseres
Geheimen Bundespolizeilichen Geheimdienstes
gewandt
Mit der
Aus dem Geiste der Verzweiflung
Geborenen
An den
Geheimen Bundespolizeilichen Geheimdienst
Gerichteten Bitte
Den Widerspenstigen
Sich selbst
Die ihn verehrende und liebende Bevölkerung
Und last but not least
Dem Staate Teheran
Aus
Künstlerstolz
Völlig Unnötig
Enormen Schaden zufügenden

Zur Räson
Zu bringen

wird fortgesetzt

„Obama ist nicht schwarz“ – oder wie es kam, daß die Mormonen 2011 keine Terroristen wurden (4)


Jener von Debra Dickersen repräsentierte Diskurs, der Obama das Schwarz-Sein abspricht, bringt gegen die negative rassistische Identifizierung aller Schwarzen als nigger eine positive Identität in Stellung: die Abstammung „echter“ schwarzer US-Amerikaner von westafrikanischen Sklaven.

Anders Améry, der seine Identifizierung als Jude durch den nationalsozialistischen Todfeind als gesellschaftliches Urteil radikal auf sich nahm - und sich weigerte, vor der negativen Identität, die ihm als Ausschwitz-Nummer auf dem linken Unterarm eingeschrieben war in eine positive Identität als - religiöser, nationaler, kultureller, traditioneller -  Jude zu flüchten. 

* 

Juden sind für den modernen Antisemiten

Personifikationen der unfaßbaren, zerstörerischen, unendlich mächtigen [...] Herrschaft des Kapitals.“ (Moishe Postone)

Der Antisemitismus ist daher, wie Detlev Claussen bemerkt, nicht einfach irgendeine „Unterabteilung des Rassismus“. Dennoch aber - und bei aller Unterschiedlichkeit - gibt es eine für unseren Zusammenhang wichtige Gemeinsamkeit zwischen der Identifizierung von Juden durch die Rassengesetze der Nazis und der rassistischen Identifizierung schwarzer US-Amerikaner als nigger.

Die per Gesetz zu Juden Gestempelten sind, wie die als nigger Identifizierten, Opfer eines - wie Améry es nennt - „Würdeentzugs“, den dieser in der Todesdrohung eingebettet sieht.

„Jude sein, das hieß für mich von diesem Anfang an, ein Toter auf Urlaub sein, ein zu Ermordernder, der nur durch Zufall noch nicht dort war, wohin er rechtens gehörte [...] In der Todesdrohung, die ich zum ersten Mal in voller Deutlichkeit beim Lesen der Nürnberger Gesetze verspürte, lag auch das, was man [...] die methodische ‚Entwürdigung’ der Juden durch die Nazis nennt.“

Die Todesdrohung, mit der Schwarze in den USA konfrontiert waren und sind, ist zwar – weil sie nicht, wie im Falle des Holocaust, einen industriellen Massenmord ankündigt - gänzlich anderer Art als jene von der Améry spricht. Todesdrohung, die Entwürdigung in sich birgt, war, ist und bleibt sie aber dennoch.

„Grundsätzlich galt ... für alle Sklaven, daß sie [...] in den Südstaaten der USA vor dem Gesetz so wie Vieh als Eigentum galten und keinerlei persönliche Rechte hatten. Sie waren der Willkür ihres Besitzers schutzlos ausgeliefert, d.h. er konnte sie einsperren, hungern lassen, auspeitschen [...] ja [soga] töten ohne dafür rechtlich belangt zu werden.“ (Britta Waldschmidt-Nelson, Malcolm X: Der schwarze Revolutionär)

Die Ku Klux Klan-Morde, die Morde zum Beispiel an den Bürgerrechtsaktivisten 1964 in Mississippi, die bis heute nicht angemessen gesühnt wurden, und der Umstand, daß der Ku Klux Klan seit der Wahl Obamas neuen Zulauf verzeichnet – erinnern daran, daß diese Verangenheit nicht vergehen will. Gibt man in die Google-Suchleiste die Begriffe USA und Polizist ein, lautet der erste Vorschlag: erschießt Schwarzen. 

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Dienstag, 26. April 2016

"Obama ist nicht schwarz" – oder wie es kam, daß die Mormonen 2011 keine Terroristen wurden (3)



Identität denken wir gewöhnlich als etwas eigenes, uns zugehöriges, vertrautes – und bedeutsames. Glauben wir diese unsere Identität sei „verschüttet“ oder gar „verloren“, fühlen wir uns aufgerufen, dieses Verschüttete oder Verlorene zu suchen: in den Tiefen unseres Selbst, in Erinnerungen oder in den Traditionen der Vorfahren.

Von all dem finden wir in Amérys Verhältnis zu „seinem“ Jüdisch-sein nicht die geringste Spur.

„Ich war neunzehn Jahre alt, als ich von der Existenz einer jiddischen Sprache vernahm, wiewohl ich [...] genau wußte, daß meine religiös und ethnisch vielfach gemischte Familie den Nachbarn als eine jüdische galt [...]. Ich war Jude so wie einer meiner Mitschüler Sohn eines bankrotten Wirtes war: wenn der Knabe mit sich allein war, mochte der geschäftliche Niedergang der Seinen so gut wie nichts für ihn bedeutet haben [...] Meint also Jude sein einen kulturellen Besitz, eine religiöse Verbundenheit, dann war ich keiner und kann niemals einer werden.“

Eine wie auch immer geartete positive Identität als Jude hatte Améry also nicht - was aber nicht heißt, daß er glaubte, jenen brutalen negativen Akt der Identifizierung als Jude per Rassengesetz einfach zurückweisen zu können.

„Als ich 1935 die Nürnberger Gesetze las und mir bewußt wurde, nicht nur, daß sie auf mich zutrafen, sondern daß sie der juridisch [...] zusammengefaßte Ausdruck des schon vorher von der deutschen Gesellschaft durch ihr ‚Verrecke!’ gefällten Urteilsspruches waren, hätte ich geistig die Flucht ergreifen [...] können. Dann hätte ich mir gesagt: So, so, dies ist also der Wille des nationalsozialistischen Staates [...] er hat aber nichts zu schaffen mit dem wirklichen Deutschland. Oder ich hätte argumentieren können, daß es eben nur Deutschland sei, ein leider in einem blutigen Wahn versinkendes Land, das mich da absurderweise zum Untermenschen [...] stempelte, während zu meinem Heil die große und weite Welt draußen, in der es Engländer, Franzosen, Amerikaner, Russen gibt, gefeit ist gegen die Deutschland geißelnde Paranoia. Oder ich hätte [mir] schließlich [...] zusprechen können: Was immer man von mir auch sage: es ist nicht wahr. Wahr bin ich nur, als der ich mich selber im Innenraum sehe [...]; ich bin, der ich für mich und in mir bin, nichts anderes. Ich will nicht sagen, daß ich nicht bisweilen solcher Versuchung unterlag.“

Bisweilen – aber nicht dauerhaft. Denn:

„Ich verstand, wenn auch [zunächst] undeutlich, daß ich [...] den Urteilsspruch [der Nürnberger Gesetze] als einen solchen akzeptieren müsse [...] Ich nahm das Welturteil an [...]“

Und weiter: „Ich kann in meinen Erwägungen den Juden, die Jude sind, weil eine Tradition sie birgt, keinen Raum lassen. Nur für mich selber darf ich sprechen – und [...] für die wohl nach Millionen zählenden Zeitgenossen, auf die ihr Judesein hereinbrach, ein Elementarereignis, und die es bestehen müssen ohne Gott, ohne Geschichte, ohne messianisch-nationale Erwartung. Für sie, für mich heißt Jude sein die Tragödie von gestern in sich lasten spüren. Ich trage auf meinem linken Arm die Auswschitz-Nummer; sie liest sich kürzer als der Pentateuch oder der Talmud und gibt doch [...] gründlicher Auskunft. Sie ist auch verbindlicher als Grundformel der jüdischen Existenz.“

Jener von Debra Dickersen repräsentierte Diskurs, der Obama das Schwarz-Sein abspricht, bringt gegen die negative rassistische Identifizierung aller Schwarzen als nigger eine positive Identität in Stellung: die Abstammumng „echter“ schwarzer US-Amerikaner von westafrikanischen Sklaven.

Anders Améry, der seine Identifizierung als Jude durch den nationalsozialistischen Todfeind als gesellschaftliches Urteil radikal auf sich nahm - und sich weigerte, vor der negativen Identität, die ihm als Ausschwitz-Nummer auf dem linken Unterarm eingeschrieben war, in eine positive Identität als - religiöser, nationaler, kultureller, traditioneller -  Jude zu flüchten. 

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Montag, 25. April 2016

Zizek in Teheran (122)

   

Nein
Sagt Nehru
Nicht daß Ihr glaubt
Daß wir
Den Elektrischen
Damals
Wegen seiner Romane
Hierher
In das
Haus des Vergessens
Der Bibliothek der in Teheran
Verfaßten Bücher
Des Internats Islamischer Mädchen
Verbrachten
Natürlich wollten wir
Daß er das glaubt.

Wir sagten ihm:
‚Wir werden Dir
Zeigen
Daß wir
Und wie wir
Deinem Vergessen Nachhelfen können.’

Wir wollten nämlich
Daß er glaubt
Daß wir ihn
Wegen seiner Romane
Bestrafen
    Wollen
         Würden
Indem wir ihm nämlich
Seine Gedanken und Konzepte
Und Ideen und Entwürfe
Bezüglich allfälliger weiterer Romane
Durch die Technologie
Des Hauses des Vergessens
Der Bibliothek der in der Sprache Teherans
Verfaßten Bücher
Des Internats Islamischer Mädchen
Vergessen
     Lassen
         Würden
Um dadurch zugleich
Zu verhindern
Daß er weitere Romane
Verfaßt

Zuvor waren
Mitglieder
Der Fraktion
Der Reformer
In der Redaktion
Des Zweiten Programms
Des Teheraner Rundfunks
Über Mittelsmänner
An Kardan
Herangetreten
Mit dem Ansinnen
Er möge
Als Drehbuchautor und Regisseur
Mithelfen
Das Projekt einer

Unterhaltsamen Fernsehserie
Zu realisieren
Verbunden mit der Aussicht
Freigelassen
Und vollständig
Rehabilitiert zu werden
Was die Islamische Republik,
So die Mittelsmänner
Der Fraktion
Der Reformer
In der Redaktion
Des Zweiten Programms
Des Teheraner Fernsehens,
Ihm, Kardan,
Angesichts seiner enormen
Popularität
Und seines enormen
Ruhms
Auch
Schulden
Würde

Kardan hatte abgelehnt
Er wolle
Im Gefängnis
Bleiben 

Und Schreiben

wird fortgesetzt

Sonntag, 24. April 2016

"Obama ist nicht schwarz" – oder wie es kam, daß die Mormonen 2011 keine Terroristen wurden (2)

-->
Jean Améry
Der Schriftsteller und Widerstandskämpfer Jean Améry war ein Kleinkind als sein jüdischer Vater als Tiroler Kaiserjäger im Ersten Weltkrieg fiel. Er wurde dann von seiner katholischen Mutter erzogen. 1938, nach dem Anschluß Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland, floh er mit seiner jüdischen Frau aus Wien nach Belgien, wo er 1940 von den Nazis festgenommen und in einem südfranzösischen Lager interniert wurde. 1941 gelang ihm die Flucht. Zurück in Belgien schloß er sich einer Widerstandsgruppe an. 1943 wurde er erneut verhaftet und im Lager Breendonk schwer gefoltert. 1944 wurde er nach Ausschwitz und in weiterer Folge nach Buchenwald und Bergen-Belsen deportiert. Als er schließlich befreit wurde, war seine Frau, um derentwillen er in jenen Konzentartionslagern „zwei Jahre lang die Lebenskräfte wach gehalten hatte“, nicht mehr am Leben.


Zwanzig Jahre später begann Améry das Unbewältigbare jener Erlebnisse im Essayband Jenseits von Schuld und Sühne schreibend zu bewältigen:



„ ... als ich 1935 in einem Wiener Café über eine Zeitung saß und die eben drüben in Deutschland erlassenen Nürnberger Gesetze studierte [...] brauchte [ich] sie nur zu überfliegen und konnte schon gewahr werden, daß sie auf mich zutrafen. Die Gesellschaft, sinnfällig im nationalsozialistischen deutschen Staat, den [...] die Welt als legitimen Vertreter des deutschen Volkes anerkannte, hatte mich soeben in aller Form [...] zum Juden gemacht [...] Ich war, als ich die Nürnberger Gesetze gelesen hatte, nicht jüdischer als eine halbe Stunde zuvor. Meine Gesichtszüge waren nicht mediterran-semitischer geworden [...] der Weihnachtsbaum hatte sich nicht magisch verwandelt in den siebenarmigen Leuchter. Wenn das von der Gesellschaft über mich verhängte Urteil einen greifbaren Sinn hatte, konnte es nur bedeuten, ich sei fürderhin dem Tode ausgesetzt. Dem Tode. Nun, dem gehören wir allen an, über kurz oder lang. Aber der Jude, als der ich durch Gesetzes- und Gesellschaftsbeschluß jetzt dastand [...], dessen Tage waren eine zu jeder Sekunde widerrufbare Ungnadenfrist [...] ich [bin] gewiß, daß ich in [...] diesem Augenblick der Gesetzeslektüre [...] das Todesurteil schon vernahm, und dazu gehörte [ja] auch keine besondere Geschichtsempfindlichkeit [...] Ich hatte [...] in diesen Tagen [einmal] in einer illustrierten Zeitung das Photo einer Winterhilfsveranstaltung in einer rheinischen Stadt gesehen, und da prangte im Vordergrund, vor dem elektrisch strahlenden Lichterbaum ein Spruchband [...] ‚Keiner soll hungern, keiner soll frieren, aber die Juden sollen krepieren...’“



Die – von den Nationalsozialisten beherrschte - Gesellschaft hatte also Améry in diesem Augenblick „zum Juden gemacht“. Die Nürnberger Rassengesetze definierten ja akribisch, anhand der Kriterien Abstammung, konfessionelle Zugehörigkeit und Ehe, ob jemand als Jude galt, als jüdischer Mischling ersten oder zweiten Grades, oder als „deutschblütig“. Améry galt, weil er zwei jüdische Großeltern besaß und mit einer Jüdin verheiratet war, als „Volljude“ - die jüdische Identität wurde hier also gesetzlich konstruiert.



Aber: „Wenn Jude sein heißt“, schreibt Améry an einer anderen Stelle, „mit anderen Juden das religiöse Bekenntnis zu teilen, zu partizipieren an jüdischer Kultur und Familientradition, ein jüdisches Nationalideal zu pflegen, dann befinde ich mich in aussichtsloser Lage. Ich glaube nicht an den Gott Israels. Ich weiß sehr wenig von jüdischer Kultur. Ich sehe mich, einen Knaben, Weihnachten zur Mitternachtsmette durch ein verschneites Dorf stapfen, ich sehe mich in keiner Synagoge. Das Bild des Vaters – den ich kaum gekannt habe [...] – zeigt mir keinen bärtigen jüdischen Weisen, sondern einen Tiroler Kaiserjäger in der Uniform des Ersten Weltkriegs.“



Identität denken wir gewöhnlich als etwas eigenes, uns zugehöriges, vertrautes – und bedeutsames. Glauben wir diese unsere Identität sei „verschüttet“ oder gar „verloren“, fühlen wir uns aufgerufen, dieses Verschüttete oder Verlorene zu suchen: in den Tiefen unseres Selbst, in Erinnerungen oder in den Traditionen der Vorfahren.



Von all dem finden wir in Amérys Verhältnis zu „seinem“ Jüdisch-sein nicht die geringste Spur.



wird fortgesetzt

Freitag, 22. April 2016

"Obama ist nicht schwarz" – oder wie es kam, daß die Mormonen 2011 keine Terroristen wurden (1)

-->

„Obama ist nicht schwarz“, behauptete die schwarze US-amerikanische Autorin Debra Dickerson, kurz nachdem dieser Anfang 2007 seine Präsidentschaftskandidatur bekannt gegeben hatte – und „Eine Mehrheit der Schwarzen“, sekundierte damals das deutsche Magazin DER SPIEGEL „scheint diese Meinung zu teilen. In einer aktuellen Umfrage der Washington Post unter Afro-Amerikanern unterstützen 60 Prozent die weiße Parteirivalin Obamas, Hillary Clinton. Obama selbst kam bei den Schwarzen dagegen nur auf 20 Prozent [...] Dieses Phänomen erklärt sich dadurch, daß in den USA [...] unter Schwarzen die Bezeichnung ‚schwarz’ nicht allein [die] Hautfarbe beschreibt. Sondern viel mehr: Kulturerbe, Herkunft, Philosophie, Sprache. Dickerson zieht die Linie glasklar: ‚Schwarz heißt in unserer politischen und sozialen Realität, daß jemand von westafrikanischen Sklaven abstammt.’“


Gute eineinhalb Jahre später berichtete Salon, das selbe Online-Magazin, in dem Dickerson Obama das „Schwarz-Sein“ abgesprochen hatte, über folgende Episode:



„Ein Mann fragt beim canvassing [von-Haus-zu-Haus-Gehen und um Stimmen werben, Anm. von mir] für Obama im westlichen Pennsylvania eine Hausfrau, welchen Kandidaten sie wählen würde. Sie brüllt ins Haus, um es herauszufinden. Der Mann im Inneren des Hauses brüllt zurück: „we’re voting for the nigger (Wir wählen den nigger)!“. Woraufhin sich die Hausfrau dem Stimmenwerber zuwendet - und die Aussage ihres Mannes in aller Ruhe wiederholt.“



Jenen beiden Rassisten, der Hausfrau und ihrem Mann, ist es herzlich egal, ob Obama von westafrikanischen Sklaven abstammt oder nicht. Der Sohn einer weißen US-amerikanischen Mutter und eines kenianischen Vaters, ist für sie genauso ein nigger wie ein aus Nigeria eingewanderter Taxifahrer, auch wenn sie – aus welchen Gründen auch immer – bereit sind, einen solchen nigger diesmal zum Präsidenten zu wählen.



Dieser brutalen, gleichmacherischen und fremdbestimmten Identifizierung des „nigger ist nigger versucht Debra Dickersens Rede von „Schwarz heißt, daß jemand von westafrikanischen Sklaven abstammt“ eine „selbstbestimmte“ Identifizierung entgegenzusetzen, indem sie sich und „ihr eigenes Kollektiv“ als Nachfahren westafrikanischer Sklaven zu identifizieren versucht. Oder anders: Dickersen setzt der Identifizierung durch den Feind eine „selbstbestimmte“ Identität entgegen.



Erstaunlicherweise - und entgegen der vom Spiegel zitierten Umfrage - stimmten am 4. November 2008 nicht 20 sondern 95 Proznet aller schwarzen Wähler für Obama, einschließlich jener schwarzen Wähler, die wie Debra Dickersen ihre Identität auf ihre Abstammung von westafrikanischen Sklaven gründen. Zwar dürften jene „Westafrikaner“ Obama selbstverständlich nicht nur aufgrund seines Schwarz-Seins (oder trotz seines angeblichen „Nicht-Schwarz-Seins“) gewählt haben, wir sind aber dennoch mit dem seltsamen Befund konfrontiert, daß am 4. November 2008 nicht die Identität als Nachfahre westafrikanischer Sklaven ausschlaggebend gewesen ist, sondern die „gleichmacherische“ Identifizierung durch den rassistischen Feind - die zwischen Obama und den „Westafrikanern“ keinen Unterschied macht.



wird fortgesetzt

Ziezk in Teheran (121)


Karl Wer-a-Jud-is-bestimm-i Lueger (aka "der schöne Karl")
Tags darauf erschien
Im selben Online-Magazin
Als Reaktion
Auf den Artikel 
Wir alle sind Fritzl 
Der M. Milani
der Artikel 
Bin weder Mörder noch habe ich sexuellen Verkehr mit Kindern – und Sie? 
Eines gewissen 
A. Hosseyni 

Das
Alles
Sagt Nehru
Resp. M2
Über den dritten Kardan-Roman
Und er spricht
Über den Kardan-Roman
Weil Schirin gesagt hat
Sprechen Sie
Bitte jetzt
Über das Erlebnis
Das Sie vergessen
Müssen
Und alles was Ihnen
Zu diesem Erlebnis
Einfallen mag 

Aber nicht
Sagt Nehru
Daß Sie glauben
Daß wir
Den Elektrischen
Damals 
Wegen seiner Romane 
Hierher
In das
Haus des Vergessens
Der Bibliothek
Der in Teheran verfaßten Bücher
Des Internats Islamischer Mädchen
Verbrachten
Natürlich wollten wir
Daß er das glaubt. 

Aber die Romane
Waren in Wirklichkeit
Harmlos
Und nicht nur harmlos
Sondern nützlich
Für uns 

Solche Bücher helfen uns nämlich
Oppositionelle zu identifizieren
Respektive
Zu fabrizieren
Was mir wichtiger scheint 

Es gibt Zeiten
Da ist der Geheimdienst
Der Islamischen
Republik so erfolgreich
Daß die Oppositionellen
Verschwinden
Oder: es scheint so
Opposition gibt es immer
Aber die Opposition
Ist in den Zeiten
In denen unser
Geheimdienst
So stark ist 
So schwach
Daß wir nicht in der Lage sind
Die Oppositionellen
Zu fassen
Sie sind so verstreut
Oder so sehr
Im Ausland
Oder so wenige
Daß wir sie
Nicht fassen

Jagd auf Oppositionelle
Ist für unsere MitarbeiterInnen
Aber wichtig
Daß sie in der Übung bleiben
Auch das Publikum
Darf nicht
Aus der Übung kommen
Das heißt die Öffentlichkeit Teherans
Mit Öffentlichkeit meine ich nicht nur
Die offiziele Öffentlichkeit
Der alten
Und neuen Medien
Sondern auch
Die inoffizielle der Mundpropaganda
Und der Gerüchte
Darf
Was Berichte und Gerüchte
Über die
Identifizierung
Verhaftung
Und vor allem
Die Prozessierung
Nach der Verhaftung
Der Oppositionellen betrifft
Nicht
Aus der Übung geraten 

Und wenn dann
Eine Zeit lang
Keine Opposition
Exsitiert
Oder: zu exsitieren scheint
Ist es die Aufgabe eines ordentlichen
Geheimdienstes
Daß es sie doch gibt
Die Opposition
Oder: zu geben scheint
Indem wir zum Beispiel
Subjekte
Die Kardans Romane
Besitzen
Zu Oppositionellen
Erklären
Oder eigentlich
Machen
Dazu muß ich sagen
Daß Menschen die Kardans Romane erwerben
Besitzen
Und/oder lesen
Unser islamisches
System
In der Regel
Natürlich nicht mögen
Aber nur
Weil jemand
Einen Kardan-Roman
Erwirbt
Besitzt
Oder liest
Muß er deshalb
Noch lange nicht
Ein
Oppositioneller sein
Auch wenn jeder Kardan-Leser
Ein potentieller Oppositioneller
Sein mag

Wer ein Oppositioneller ist
Bestimmen
Jedenfalls
Wir 

wird fortgesetzt