Dienstag, 26. Mai 2020

1. Juni 2020: LIVE-LESEN - Das literarische Anti-Corona-Programm des Literaturhauses Salzburg

Literaturhaus Salzburg – literaturhaus.netPfingstmontag, 1. Juni 2020, 20 Uhr (Einlass: 19.50 Uhr!), lese ich im Rahmen des literarischen Anti-Corona-Programms des Literatuthauses Salzburg live auf Facebook Passagen aus meinem Roman Teheran Wunderland:

https://www.facebook.com/LiteraturhausSalzburg/

Infos zum täglichen Programm (seit 22. März)
http://literaturhaus-salzburg.at/content.php…



Sonntag, 17. Mai 2020

„Exekution ist keine Kunst!“ (7)


LeMO Biografie - Biografie Ferdinand Lassalle
Ferdinand Lassalle
„Der kühnen Bahn nun folgen wir, die uns geführt Lassalle!“ 

Bald nach ihrer Wahl zur Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Österreichs waren Pamela Rendi-Wagner und andere führende Funktionäre der SPÖ mit dem Vorwurf konfrontiert, sie pflegten einen luxuriösen Lebensstil, fernab der Lebensrealität unterprivilegierter Wähler ihrer Partei. Georg Dornauer, Vorsitzender der Tiroler-Landespartei, wurde kritisiert, weil er einen Porsche fährt, Bundesgeschäftsführer Thomas Drozda wegen einer Armbanduhr, Rendi-Wagner selbst, weil sie in einem Nobelclub in St. Tropez gesehen worden war usw.

Debatten dieser Art sind weder neu noch auf die österreichische Sozialdemokratie beschränkt. Denken wir an den „Leider-Nein-Millionär“ Hannes Androsch, Österreichs sozialistischer Finanzminister von 1979 bis 1981 und Bruno Kreiskys – später in Ungnade gefallener – „Kronprinz“. Ihm wurden seine in der ehemaligen k.uk. Hofschneiderei Knize angefertigten Luxusanzüge angekreidet. Oder an den als Brioni-Kanzler und Cohibas-Raucher verspotteten, ehemaligen deutschen Regierungschef Gerhard Schröder von der SPD.

Gehen wir in der Geschichte der Arbeiterbewegung aber weiter zurück, sagen wir ins 19. respektive frühe 20. Jahrhundert, und nehmen die Beziehung zwischen ihrer Basis und ihren Führern in den Blick, stoßen wir auf Erstaunliches. Zwar findet sich unsere Erwartung bestätigt, dass die Arbeiterführer damals von ihren Anhängern als „volksnah“ empfunden wurden. Nicht aber wegen eines asketischen Lebensstils. Im Gegenteil.

„Ferdinand Lassalle etwa, einer der Gründerväter der deutschen Sozialdemokratie und Spross einer großbürgerlichen Breslauer Tuchhändlerfamilie [...] galt weithin als arrogant, theatralisch und exzentrisch und lebte in einer skandalösen Amour fou mit einer Adeligen, die ihm – dem Sozialdemokraten – eine luxuriöse lebenslange Rente gewährte.“

Dennoch aber widmeten ihm die 

„deutschen Arbeiter feurige Lieder: ‚... der kühnen Bahn nun folgen wir, die uns geführt Lassalle!’

Und

„August Bebel, der ‚Arbeiterkaiser’ der deutschen Sozialdemokratie, starb 1913 keineswegs ärmlich. Er hatte sich im Laufe seines Lebens hochgearbeitet. Seine Leipziger Drechslerwerkstatt florierte trotz seiner Verfolgung als Parteifunktionär unter den Sozialistengesetzen. Zudem bescherte ihm sein in über 50 Auflagen erschienenes Buch über die Utopie einer sozialistischen Gesellschaft, Die Frau und der Sozialismus, derart fürstliche Tantiemen, dass sich eine Villa am Zürichsee ausgegangen ist. Bebel legte größten Wert auf gute Anzüge, bürgerliche Umgangsformen und Taschenuhren.“

schreiben die Politikwissenschaftler Felix Butzlaff und Margaret Haderer. Resümme:

„In der frühen Arbeiterbewegung führten die luxuriösen Vorlieben ihrer Parteiführer nicht zwangsläufig zur Entfremdung von der Basis – im Gegenteil. Die Arbeiter waren stolz auf den Erfolg und Anerkennung ihrer politischen Sprachrohre [...]. Sie waren stolz auf jene, die den sozialen und materiellen Aufstieg geschafft hatten. Zudem stellten die Insignien und die Umgangsformen der bürgerlichen Gesellschaft für die frühe Arbeiterbewegung eher wichtige Orientierungspunkte als Steine des Anstoßes dar“56

Das aktuelle Unbehagen am „luxuriösen Lebensstil“ jener Vertreter der Sozialdemokratie steht offenbar in Zusammenhang mit der heute weit verbreiteten Ideologie des Antikonsumismus und dessen kaum verhohlenen asketischen Idealen. Dass die Idealisierung der Askese die Interessen privilegierter Gruppen stärkt, wie Max Horkheimer in Egoismus und Freiheitsbewegung57 zeigt, und dass es, mit Richard Schuberth zu sprechen, unredlich wäre, „Antikonsumismus zu propagieren, solange nicht alle Menschen den gleichen Zugang zu Gütern und Dienstleistungen haben.“58 liegt auf der Hand. Und macht es notwendig, den Antikonsumismus als eine – weitere – Verfallsform der Kritik am Kapitalismus zu kritisieren: Während jener falsche Antikapitalismus, der, unter Ausblendung der Sphäre der Produktion, ausschließlich den Bereich der Zirkulation (des Geld- und des Warenaustauschs und den Finanzsektor) im Blick hat und diesen personalisiert, indem sie ihn mit konkreten Institutionen und Gruppen (vornehmlich mit den Banken und den Juden) identifiziert, wird diese Personalisierung und Moralisierung in der aktuellen Konsumkritik radikalisiert – weil privatisiert: Als potentieller Träger des „Konsumwahns“ ist jeder aufgerufen, das „Böse am Kapitalismus“, statt in dessen Strukturen, in sich selbst zu suchen. Und zu bekämpfen.

Die oben entwickelte Bestimmung des Kunstglücks und jenes, das wir der Kunst der öffentlichen Darstellung zuschreiben, als antinarzisstisches mag aber noch ein anderes Unbehagen erhellen, das den Antikonsumismus antreiben und seine Wirkmächtigkeit erklären könnte.

Wir sind bei unseren Überlegungen über das Kunstglück von Freuds und Goethes These von der (Beinahe-)Unmöglichkeit des Glücks ausgegangen – und haben in weiterer Folge gesehen, wie Narzissmus geglückte Begegnungen mit Kunstwerken verhindert und den Verfall der Öffentlichkeit befördert. Bei der Kunst und der öffentlichen Sphäre handelt es sich allerdings nicht um isolierte Sonderzonen, so dass wir dem Narzissmus – zumal in der von ihm dominierten Kultur der Gegenwart – eine allgemeine Rolle bei der Produktion gesellschaftlichen und individuellen Unglücks zuschreiben müssen. 

Narzisstische Langeweile 

Menschen, denen wir einen „narzisstischen Charakter“ zuschreiben (ich formuliere vorsichtig, weil mir die volle Identifizierung von real existierenden Personen mit diagnostischen Kategorien Unbehagen bereitet), werden häufig von Langeweile und „Gefühlen der Leere“ geplagt. Und erzeugen auch häufig Langeweile und Gefühle der Leere. Die Langeweile die sich bei der Begegnung mit einem Kunstwerk immer dann einstellt, wenn wir es ablehnen, auf dieses zuzugehen (sprich die Grenzen unseres Ichs zu transzendieren), in der Erwartung, das Kunstwerk möge doch auf uns zukommen, um sich unseren subjektiven Empfindungen anzupassen (uns etwa, falls es sich um einen Roman handeln sollte, die Möglichkeit der Identifizierung mit dessen Figuren zu geben) und das Kunstwerk diese unsere Erwartung enttäuscht, ist ja genauso narzisstisch wie die Langeweile, die auf einer Party entsteht, wenn unser Gesprächspartner sich ausschließlich von seinen momentanen „authentischen“ Empfindungen leiten lässt. Anders gesagt, nichts anderes darstellen kann oder will als sein Ich.

Narzisstische Langeweile ist aber nicht auf die Rezeption von Kunst oder auf soziale Bühnen, wie etwa Partys, beschränkt, sondern allgemeines Merkmal der narzisstischen Gegenwartskultur, so dass die angedeutete Frage nach dem Zusammenhang zwischen Narzissmus, Antikonsumismus und (Un-)Glück von hier aus präziser gestellt werden kann: Könnte es sein, dass die heute weit verbreitete Ideologie des Antikonsumismus (gerade auch) durch die heute weit verbreitete narzisstische Langeweile angetrieben wird? Dass wir nicht unglücklich sind, weil wir zu viel konsumieren, zu viel haben oder weil es uns zu gut geht, dass also gerade nicht der Luxus uns unglücklich macht – sondern der Mangel?

Was Mangel hier meint, lässt sich gut anhand der Geschichte des Begriffs Luxus demonstrieren, der einmal „üppige Fruchtbarkeit“ meinte, und deren Vergleich mit jenen Vorstellungen, die heute (nicht nur) Vertreter des Antikonsumismus mit Begriffen wie Konsum oder Luxus verbinden und die gerade auf das Gegenteil von Fruchtbarkeit und Üppigkeit verweisen: Auf Kargheit und Sterilität. Andere Namen für narzisstische Langeweile.

Wir behaupten daher: Vertreter des Antikonsumismus bürden – einem Missverständnis ihres Unbewussten folgend – ihr Unbehagen an der narzisstischen Langeweile, an der sie leiden, und die sie verbreiten, dem „Luxus“ und dem Konsum auf. Und bekämpfen es mit dem Wahn, sie litten an einem Konsumwahn, den sie bekämpfen müssten. 

Eine Verheißung der besonderen Art 

Üppige Fruchtbarkeit. Die Zuschreibung scheint für den luxuriösen Lebensstil – aber auch für das Lebenswerk – Bebels und Lassalles durchaus passend. Kaum vorstellbar aber, dass die Kritiker ihres Lebensstils – oder sonst irgendjemand – diese Begriffe mit Drozdas Armbanduhr, Dornauers Porsche oder Rendi-Wagners Besuch in jenem südfranzösischen Nobelclub in Zusammenhang bringen würden.

So gesehen war der Klassenunterschied zwischen Bebel/Lassalle und den Arbeitern damals, verglichen mit jenem zwischen den heutigen Wählern der SPÖ und deren Führung größer – im doppelten Sinn. Nicht nur lebten die Arbeiter im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts oftmals in elenden, jedenfalls weit ärmlicheren Verhältnissen als die heutigen (wobei der Anteil – erwerbstätiger – Arbeiter an den Wählern der SPÖ, die inzwischen vor allem von öffentlich Bediensteten und Pensionisten gewählt wird, seit Jahren zurückgeht. Die Mehrheit der österreichischen Arbeiter wählt heute die rechtsextreme FPÖ). Der Lebensstil vor allem Lassalles war ja eher aristokratisch als bürgerlich, was den Abstand zur Lebenswelt der Arbeiterklasse weiter vergrößerte. Dennoch aber, nein, gerade deshalb, wurden Bebel und er von den Arbeitern bewundert und verehrt. Aber warum eigentlich?

Damals, so Butzlaff und Haderer, waren die Arbeiter „stolz auf jene, die den sozialen und materiellen Aufstieg geschafft hatten.“ Warum aber sind sie heute – wenn sie denn überhaupt noch Rot wählen – nicht stolz darauf, dass Dornauer einen Porsche fährt oder Rendi-Wagner in St. Tropez einen Nobelclub besucht? Kann es sein, dass die aristokratische Attitüde es war – aristokratisch gerade auch im Sinne der Kultur der öffentlichen Darstellung –, die den Arbeitern damals imponierte? Und dass sie imponierte, weil sie eine Verheißung der besonderen Art barg: Dereinst würden auch Arbeiter, wie ihre Führer, Lassalle und Bebel, der „Arbeiterkaiser“, das gute Leben nicht „bloß“ im materiellen Sinn leben können, sondern auch im Sinne jenes Üppigen, Fruchtbaren, das Luxus einmal meinte – und das den Drozdas und Dornauers so schmerzlich fehlt?

Die üppige Fruchtbarkeit, von der die Rede ist, entspricht jenem „je ne sais quoi“, jenem magischen Moment der Kunst (im zweiten Sinn), ohne dem ein Kunstwerk weder Kunstgenuss noch Kunstglück schenken kann.

Dass Konsum allein nicht glücklich macht, ist so wahr wie banal. Nackter Konsum vermag im Diesseits des Alltags genauso wenig Glück zu bescheren wie das Kunstwerk dem, der es wie einen Apfel zu konsumieren versucht – oder wie ein gutes Glas Wein. Aber die Analogie gilt auch umgekehrt: Um des Glückes willen sollten wir nicht bloß darauf verzichten, ein Kunstwerk so zu konsumieren, als wäre es ein gutes Glas Wein – auch ein gutes Glas Wein sollten wir nicht so konsumieren, als wäre es – nichts anderes als – ein gutes Glas Wein. 

Ende 

56 Felix Butzlaff, Margaret Haderer, Rote Luxusprobleme, Der Standard, 25. Oktober 2019 

57 Max Horkheimer, Egoismus und Freiheitsbewegung. In: ders., Gesammelte Schriften Bd 4, Frankfurt am Main 2009, S. 9 - 88 

58 Richard Schuberth, Narzissmus und Konformität, Berlin 2018, S. 162