Samstag, 31. März 2012

Wunderland 39


Als ich dem Militärschneider gesagt hatte, ich bin part of the game, hatte ich beschlossen, zu fliehen - genauer gesagt, war zuerst der Entschluß gekommen, dann das part of the game.

Ich war - um meine Familie vor den Repressalien der religiösen Faschisten zu
schützen -, bereit gewesen, bei ihrem Mädchen-Projekt mitzumachen. Vielleicht hatten mich auch die Argumente der Professorin und Teheraner Feministin überzeugt, die Religion Teherans sei in der Lage, sich selbst auszutricksen, und ich hatte die Mädchenweihe als Beitrag betrachtet, das Problem der Männerliebe in Teheran zu lösen.

Was aber der Militärschneider verlangt hatte, ging mir zu weit. Ich mochte Paskarani weder als Schaupieler noch als Sänger, aber mich von ihm, im Auftrag der religiösen Faschisten, ficken zu lassen, um ihn zu kompromittieren, konnte ich nicht.

Ich beschloß zu meinen Eltern, und dann - zusammen mit ihnen - aus Teheran zu flüchten. Um meine Brüder machte ich mir keine Sorgen. Einer war ja im Untergrund, und der andere, wenn ich mich richtig erinnere, aber ich mir nicht sicher, war, kurz bevor sie mich in das Lager verschleppt hatten, zum Studium in die Deutschsprachigen Berge gegangen“, der Junge sprach über seine Brüder als wären sie nicht da, tatsächlich wirkten die Brüder, regungslos und mit starren Gesichtern, wie abwesend.

"Beim Ausziehen meiner vollgekotzten Kleider wurde mir klar, daß sich eine Gelegenheit zur Flucht so schnell nicht wieder ergeben würde, wenn überhaupt je, anders als das Lager, konnten wir das Militärgebäude nicht einfach verlassen.

Ich mußte mich beeilen – jeden Augenblick konnte jemand kommen und nach meinem Befinden fragen“, der Junge wandte sich an mich, „Wie Sie wissen, ist man in Teheran höflich. Und freundlich. Vielleicht wissen Sie auch, daß einem die Höflichkeit, und die Freundlichkeit, der Teheraner nerven kann – deshalb bin ich eigentlich froh, in den Deutschsprachigen Bergen zu sein. Über die Deutschsprachigen Berge kann man sagen, was immer man will, aber daß sie einen hier mit ihrer Höflichkeit und ihrer Freundlichkeit nerven, kann man nicht sagen.

Da mein T-Shirt, meine Hose und meine Unterhose, voll waren, nur die Turnschuhe hatte ich verschont, und ich nackt nicht flüchten konnte, mußte ich eines der Mädchen-Uniformen nehmen. Ich nahm einen grünbraunen Offiziersmantel . Eine Hose fand sich weder auf der Stange, noch sonst wo im Zimmer, unter dem eleganten Offiziersmantel war ich nackt“.

„Nackt?“, riefen der Grobe und der Feine, unisono. Der Junge ignorierte sie wieder.

„Hinter der Rollgarderobe befand sich ein Vorhang, den ich beiseite schob. Dahinter gab ein breites und hohes Fenster den Blick auf eine Parklandschaft frei. Ich suchte nach einer Vorrichtung, um das Fenster zu öffnen - vergeblich. Da sah ich, in einer Ecke des Zimmers, ein Fernsehgerät, ich hob es auf, es kam mir leicht vor, und schlug die Fensterscheibe ein. Das Zerbrechen der Scheibe klang wie das Rascheln von Seidenpapier, ich betrat einen sonnigen Tag, und spazierte durch den Park oder den Garten, oder was immer es war, ganz entspannt, als sei ich nicht auf der Flucht vor den religiösen Faschisten, sondern ein Flaneur in einem Park in Paris.“

wird fortgesetzt

Donnerstag, 29. März 2012

Wunderland 38










Die Kollektion Hinterland

Ich soll Euch also helfen, sagte ich, daß in der Gesellschaft Teherans was weitergeht, indem ich mich von Paskarani ficken, und von Euch filmen lasse. Der Militärschneider schüttelte den Kopf, wie erschüttert, und schloß die Augen, als sei die Idee, Paskarani zu kompromittieren, nicht von ihm gekommen, sondern von mir.

Ich wollte aufstehen, oder ich sollte, und das Atelier des Militärschneiders verlassen, aber ich war auf einmal ganz ruhig. Ich bin, sagte ich, part of the game. Der Militärschneider strahlte, stand auf und umarmte mich fest und väterlich, und geleitete mich zur Tür.

Einer, der für uns zuständig war, betrat am Tag nach jenem Gespräch den Unterrichtssaal - wir hatten Konversationsunterricht, man brachte uns bei, das Interesse der Männer zu erregen, ohne vulgär zu erscheinen. Der Zuständige meinte, daß wir uns bereithalten sollten, am Nachmittag würde man uns zur Anprobe unserer Uniformen in eine Scheiderei bringen.

Die Schneiderei war ein Modesalon in Nord-Teheran, unendlich feiner als das ohnehin schon feine Atelier des Militärschneiders. Man brachte uns in eine Halle, wo eine Modeschau stattfand. Mannequinns, die aussahen, und sich bewegten, als sei der Kaiser noch an der Macht, trugen schwarze T-Shirts und Röcke, die Röcke sahen aus der Entfernung alle gleich aus, tatsächlich war aber jeder Rock mit einer anderen, ländlichen Ansicht der Deutschsprachigen Berge bedruckt - Äcker, Heuballen, Vogelscheuchen, Bauernmädchen und –jungen. Die Kollektion nannte sich Hinterland.

Wie wunderten wir uns, daß die Präsentation einer solchen Kollektion in der klerikalen Republik möglich sein konnte. Außer uns ‚Mädchen‘ und zwei hochgewachsenen Inhaberinnen des Modesalons, die wie Schwestern aussahen, befand sich noch ein Kamerateam in der Halle. Unsere Verwunderung wurde größer, als es hieß, es handle sich um ein Kamerateam des Zweiten Kanals des Teheraner Fernsehens, und die Modeschau würde tags darauf vom Teheraner Rundfunk gesendet.

Wie ist das möglich?, wagte ich, eine der hochgewachsenen Schwestern zu fragen. Sie schaute mich an, irritiert und womöglich verärgert: Im Fernsehen wird man nur Röcke sehen, die über den Laufsteg laufen. Daher - damit den Zusehern nicht langweilig wird - die ländlichen Motive auf den Röcken.

Ich versuchte, mir die ländlichen Röcke ohne die Mädchen vorzustellen, das schaffte ich nicht, den Versuch aufzugeben, schaffte ich auch nicht. Statt die Röcke ohne die Mädchen, sah ich die Mädchen am Ende vor meinem geistigen Auge ohne die Röcke, und mußte mich schämen.

Während des Versuches, die Röcke vor meinem geistigen Auge ohne die Mädchen zu sehen, spürte ich einen Schmerz in der Gegend des Magens, der größer wurde, man brachte mich in ein spärlich beleuchtetes Zimmer, und legte mich auf eine Couch. Ich übergab mich, sobald ich allein war. Die Couch, und meine Hose und mein T-Shirt, waren voll, ich mußte mich ausziehen. Gegenüber der Couch stand eine Rollgarderobe, auf deren Stange elegante, taillierte Offiziersmäntel hingen, mit goldenen Knöpfen, und Krägen aus kurz geschorenem Pelz. Daneben hatte man, auf einer Holzbank, ein Dutzend Pelzbaretts aufgestellt. Es waren unsere Mädchenuniformen.

wird fortgesetzt

Freitag, 2. März 2012

Warum wir über den Islam nicht reden können - Vortrag und Diskussion




Helmut Dahmer│Vladimir Vertlib │Sama Maani

Warum wir über den Islam nicht reden können

Wie kommt es, daß wir die Ablehnung des Islams als „rassistisch“ wahrnehmen – nicht jedoch die Ablehnung des Christentums?
Warum sind die Demonstranten des arabischen Frühlings für uns in erster Linie Moslems – die Demonstranten der Occupy-Bewegung in New York aber nicht christlich? Warum reden wir, wenn wir vorgeben über den Islam zu reden, über alles mögliche andere (Terrorismus, Migration, „Integration“) – nur nicht über den Islam? Und: Was hat unser (Nicht-)Reden über den Islam mit unserer eigenen Beziehung zur Religion zu tun?

Drei Vorträge mit anschließender Publikumsdiskussion.

Helmut Dahmer studierte Soziologie und Philosophie bei Helmuth Plessner, Theodor W. Adorno und Jürgen Habermas. In den Jahren 1968-1992 redigierte er die psychoanalytische Monatszeitschrift Psyche. 1984 gehörte er zum Gründungsbeirat des Hamburger Instituts für Sozialforschung. 1974-2002 lehrte er Soziologie an der Technischen Universität Darmstadt. Seit 2002 lebt er als freier Publizist in Wien.
Publikationen: Libido und Gesellschaft (1973, 1982); Pseudonatur und Kritik (1994); Soziologie nach einem barbarischen Jahrhundert (2001); Divergenzen (2009); Die unnatürliche Wissenschaft (2012); Interventionen (2012).

Vladimir Vertlib, in Leningrad (St. Petersburg) geboren, Schriftsteller, lebt in Salzburg und Wien. Zahlreiche Romane, Erzählungen und Essays. Erhielt 2001 den Anton-Wildgans- und den Adalbert von Chamisso-Förderpreis.

Sama Maani, geboren in Graz. Studium der Medizin in Wien und der Philosophie in Zürich, Lebt als Autor, Psychoanalytiker und Psychiater in Wien.
Veröffentlichungen in Literaturzeitschriften (u.a. kolik und wespennest) und Anthologien. 2004 Preis des Literaturwettbewerbs schreiben zwischen den kulturen. 2007 österreichisches Staatsstipendium für das Romanprojekt Ungläubig.

Fr., 23. März 2012 19:00 Uhr
Hauptbücherei am Gürtel


Urban-Loritz-Platz 2a, 1070 Wien