Hat Eurozentrismus mit Europa zu tun?
2009 kam es nach Fälschungen bei den Präsidentschaftswahlen im Iran zu Massenprotesten, die Erinnerungen an die Revolution von 1979 wachriefen. Ich schrieb damals einen Essay (1), in dem ich die Bezugnahmen der Protestbewegung von 2009 auf die 1979er Revolution mithilfe von Sigmund Freuds und Walter Benjamins Theorien der
Nachträglichkeit zu analysieren versuchte – und schickte ihn an die
Neue Zürcher Zeitung. Daraufhin entstand eine seltsame Kontroverse. Die zuständige Redakteurin meinte, mein Essay würde die an den Iran interessierten Leser vor den Kopf stoßen. Diese würden einen Text über den Iran erwarten, sich aber „stattdessen“ mit westlichen Theorien konfrontiert sehen.
Für jene Redakteurin fiel der Iran offenbar unter die Kategorie „fremde Kultur“ - und hatte als solche mit „unserer westlichen“ nichts zu tun (zu haben). Meine Bezugnahmen auf Freud und Benjamin hatten sie insofern irritiert, als ihr schon der Gedanke, Entwicklungen in der iranischen Gesellschaft mit „Gedankenmodellen aus der westlichen Kultur“ erfassen zu wollen, undenkbar schien.
Die Irritation der Redakteurin irritierte wiederum mich. Bis ich selbst eine Art Nachträglichkeits-Erlebnis hatte. Ich begriff, daß die Position der Redakteurin mittlerweile - und seit vielen Jahren - zum mainstream geworden war. Und wunderte mich, dies erst nachträglich bei Gelegenheit jener Kontroverse wahrgenommen zu haben. Heute hat sich die „maintreamigkeit“ jener Position noch verstärkt, so daß ich versucht bin, zu sagen: Wir alle, die wir uns als weltoffen, und an anderen Kulturen interessiert wahrnehmen, wir, die wir andere Kulturen „so wie sind“ respektieren und an ihnen keinen „fremden“ Maßstab anlegen wollen (denn das würden wir als „überheblich“ empfinden), wir alle sind AnhängerInnen des
Prinzips Kultur.
Wenn es sich um „außereuropäische Kulturen“ handelt – und wenn das Prinzip Kultur im Spiel ist, handelt es sich immer um „außereuropäische Kulturen“ -, verstehen wir AnhängerInnen des Prinzips Kultur unsere Position daher als Gegenposition gegen den sogenannten „Eurozentrismus“.
In meinem Essay und in der Kontroverse mit der Redakteurin hatte allerdings ich, ein Iraner mit einem „außereuropäischen Migrationshintergrund“, den „eurozentrischen“ Standpunkt eingenommen. Ich hatte Theorien westlicher Denker herangezogen, um Entwicklungen in einer „außereuropäischen Kultur“ (meiner „eigenen“), zu analysieren, und hatte mich gegen das Eigenrecht und die Authentizität jener „fremden Kultur“ (meiner „eigenen“) versündigt. Wohingegen die NZZ-Redakteurin – eine Angehörige der „europäischen Kultur“ - mich vor der Sünde des „Eurozentrismus“ zu bewahren versucht hatte.
Das Unbehagen an der Anwendung „westlicher Theorien“ auf „fremde Kulturen“ ist nicht neu. Der polnische Sozialanthropologe
Bronislaw Malinowski gilt als Pionier der ethnologischen Feldforschung und Erfinder der Methode der „teilnehmenden Beobachtung“. 1924 stellte er, nach einem langen Forschungs-Aufenthalt auf den Trobriand Inseln, die universelle Gültigkeit der Freud’schen Ödipustheorie, wonach der Sohn seinen Vater zu töten und seine Mutter zu besitzen wünsche, infrage. Malinowskis Text „Mutterrechtliche Familie und Ödipus-Komplex“ löste eine Serie bis heute nicht abreißender Nachfolgedebatten aus, die weit über den Kreis der psychoanalytischen community hinausreichten.
Malinowskis Kritik an Freud könnte man als paradigmatisch für die heute populäre Auffassung ansehen, wonach „westliche Denkmodelle“ mit „fremden“ (i.e. außereuropäischen) Kulturen nichts zu tun hätten – bzw. nichts zu tun haben dürfen. So gesehen wären Malinowskis Thesen die Vorläufer jenes von der Redakteurin vertretenen Prinzips Kultur. Tatsächlich muß der polnische Sozialanthropologe nicht selten als Kronzeuge herhalten, wenn vor der „Projektion Freud’scher (oder generell „westlicher“) Theorien auf außereuropäische Kulturen“ gewarnt wird. Aber diese – häufig Wikipedia-generierte - Sicht auf Malinowskis Freud-Kritik stellt dessen wahre Positionen geradezu auf den Kopf. Denn Malinowski hat weder behauptet, daß Theorien der Psychoanalyse (grundsätzlich) nicht auf außereuropäische Gesellschaften anwendbar seien, noch war er ein (grundsätzlicher) Kritiker der Psychoanalyse. Seiner Kritik an der Psychoanalyse wird man am ehesten gerecht, wenn man sie als
Kritik von innen auffaßt. Nicht von ungefähr trägt Malinowskis Essay „Mutterrechtliche Familie und Ödipuskomplex“ den Untertitel „Eine
psychoanalytische Studie“. Malinowski entwirft in diesem Text eine eigene Variante der Ödipustheorie: Das männliche Kind auf den Trobriands würde nicht seine Mutter, sondern seine Schwester begehren, und nicht seinen Vater sondern den Bruder seiner Mutter zu töten wünschen.
Interessieren soll uns aber nicht Malinowskis Verhältnis zur Psychoanalyse, sondern das, was ihn von den Vertretern des Prinzips Kultur unterscheidet. Und zwar radikal. Jenen, die nicht selten „Malinowski“ sagen und das Gegenteil seiner Positionen vertreten. Der Unterschied liegt in Malinowskis Haltung zur
Universalität. Während Malinowski – zu Recht oder zu Unrecht - behauptete, daß Freuds Ödipustheorie nicht universell genug sei, und daher „nicht ganz“ auf die außereuropäische Gesellschaft der Trobriands anwendbar, und um Freuds Theorie universeller und auf die Gesellschaft der Trobriands anwendbarer zu machen, eine ergänzende Variante der Ödipustheorie vorschlug - während Malinowskis Forderung also auf eine
universellere Psychoanalyse hinausging, hat das Prinzip Kultur die Universalität als solche zu Grabe getragen.
wird fortgesetzt
(1) Emma und die Revolutionen im Iran - das Freudianische und das Benjaminische an der iranischen Freiheitsbewegung (nachzulesen unter den älteren posts in diesem blog).