Dienstag, 29. Januar 2013

Zizek in Teheran (24)

Mir fällt ein: Daß der Elektrische, der echte, über 70 sein müßte, falls er noch leben sollte, Nein, 75. Dieser ist also nicht der Elektrische. Obwohl er es ist.

Und was wollen Sie im Haus des Vergessens?

Ich brauch eine Gehirnwäsche.

Der Elektrische entnimmt der Ernte 23-Packung eine Ernte 23, geschickte Elektrikerfinger, obwohl elegant, geradezu damenhaft, oder gerade weil. Auf meiner linken Schulter ruht eine Hand. Ich zucke. Und fast entlädt sich mein Schrecken. Als greller, mädchenhafter Schrei. Siehe Munch. Wofür ich mich, wie die Erfahrung zeigt, schäme (daß in den Der-Schrei-Bildern von Munch der Typ im Vordergrund, mit dem weit geöffneten Mund, gar nicht schreit, sich vielmehr, weil die Natur schreit, die Ohren zuhält, ist Dir, wie ich hoffe, bekannt, LeserIn?).
Schirin ist‘s. Die wieder Schirin ist, nicht Narges, dennoch muß mein Blick ein Entsetzen enthalten, das sich in ihrem spiegelt, aber kurz. Guten Tag, Herr Morad!, grüßt sie, freudig und überrascht, den Elektrischen, Nein, freudig und erregt: Guten Tag! Sie geben also nicht auf?
Die gleiche Teheranische Liebenswürdigkeit, die sie mir gegenüber an den Tag gelegt hat, vorhin, das tut weh, LeserIn, das Vorhin ist eine Ewigkeit her, das tut weh, auch wenn Schirin zwar unendlich sympathisch ist, aber unendlich hübsch ist sie nicht.

Der Elektrische freut sich ebenfalls und beide beginnen, mich zu ignorieren. Ob sie seinen Antrag an die Sonderkommission weitergeleitet habe, will er wissen, Schirin lächelt bloß, unendlich hübsch ist sie nicht, mag schon sein, unendlich unhübsch aber auch nicht, und will dem Elektrischen, indem sie ihn bei der Hand nimmt, auf einen der beiden bastbezogenen, blaulackierten Stühle setzen, die auf einmal rechts neben dem Eingang der Bibliothek der in der Sprache Teherans verfaßten Bücher des Internats Islamischer Mädchen stehen, und aussehen wie Tavernenstühle in Griechenland, zwischen den Stühlen ein blaulackierter Tavernentisch.

Der Elektrische will sich setzen, da auf einmal zuckt Schirin zusammen, als sei ihr etwas Entsetzliches widerfahren oder eingefallen, ergreift sie die Hand des Elektrischen und zieht ihn mit einem Ruck in die Höhe. Warum?, sagt der Elektrische, schaut aber mich an, ratlos, als sei ich der Lehrer.

Schirin beginnt jetzt, den Elektrischen zu ignorieren, indem sie ihr Ignorieren meiner Person beendet, oder unterbricht, und sich, wie schon im Haus des Vergessens, für ihre Unaufmerksamkeit entschuldigt, nimmt sie mich an der Hand, unendlich sanft, die unendliche Sanftheit der Hand eines Mädchens kann das Fehlen unendlichen Hübschseins mehr als kompensieren, sage ich, oder ein Vers der - traditionellen oder avantgardistischen - Teheraner Lyrik, nimmt sie mich bei der Hand, und weist mir jenen bastbezogenen, blaulackierten Tavernenstuhl zu, den sie gerade dem Elektrischen zuweisen wollte. Der Elektrische hat sich inzwischen, nach wie vor ratlos, zu dem anderen griechischen Stuhl hinbegeben. Wir setzen uns gleichzeitig. Während aber ich sitzenbleibe, nachdem ich mich hingesetzt habe, springt der Elektrische gleich wieder auf, und beginnt einen seltsamen, zackigen Tanz. D.h. er zuckt und rudert mit den Armen, eigentlich mit dem ganzen Körper herum. Weiters brüllt er. Wie am Spieß. Und ist von zackigen, blauen und grünen Blitzen umgeben. Wie in einem Zeichentrickfilm.

wird fortgesetzt

Samstag, 19. Januar 2013

Zizek in Teheran (23)

Ist das hier, der Elektrische fährt fort, seinen Kopf nach links und nach rechts zu strecken, ganz hektisch, das Institut für Gehirnwäsche?, als suchte er etwas. Hinter mir liegendes. Ich zeige, mit dem linken Daumen, und ohne zurückzuschauen, nach hinten: Das ist das Haus des Vergessens der Bibliothek der in der Sprache Teherans verfaßten Bücher des Internats Islamischer Mädchen. Sind Sie ein islamisches Mädchen?

Der Elektrische lacht, herzhaft, wie ich es von ihm kenne, und wiegt den Kopf. Was Zustimmung bedeutet.

Darf ich rein?

Vielleicht glaubt er, ich sei der Wächter.

Tun Sie es nicht. Übrigens kenne ich Sie natürlich -

Der Elektrische strahlt, sein elektrisches Strahlen, das ich und sämtliche Kinder im ganzen Teheran lieben. In den 70ern.

Du kennst mich? Rassi, rassi? Im Ernst? Az koja miyai shoma? Woher kommst Du?

- von vor der Revolution.

Von vor der Revolution ist nicht geistreich gemeint. Nicht als Antwort auf

Woher kommst Du?

sage ich:

Von vor der Revolution,

sondern ich setze meinen eigenen Satz

Übrigens kenne ich Sie natürlich -

fort:

Übrigens kenne ich Sie natürlich von vor der Revolution.

Der Elektrische streckt mir eine Packung Ernte 23 entgegen.

Az Alman ovardam. Shoma az koja miyai? Die sind aus Deutschland. Und Sie? Woher kommen Sie?

Zu sagen: Aus Teheran wäre zwecklos. Der Elektrische hat mich als Auslands-Teheraner schon erkannt. Mit der untrüglichen Sicherheit … Diesen Satz kannst Du zum Beispiel vollenden. LeserIn. Google „Mit der untrüglichen Sicherheit“, und wähle eines der Ergebnisse. Aber in Anführungzeichen: „Mit der untrüglichen Sicherheit“:

Mit der untrüglichen Sicherheit einer Schauspielerin …
Mit der untrüglichen Sicherheit der Erinnerung, von der Proust lebt …
Mit der untrüglichen Sicherheit ihrer achtzehn Jahre …
Mit der untrüglichen Sicherheit für das Timing der Szenen …
Mit der untrüglichen Sicherheit, daß jede, wirklich jede, Lebenssituation und –krise nicht nur überstanden, sondern auch …

Wo waren wir, Leser? Wo ich herkäme, fragt der Elektrische.

Aus Graz, sage ich. Natürlich.

Khob hala man oontoo chera naram? Und warum soll ich da nicht rein?

Ja, warum eigentlich nicht?

Das ist ein Internat für Islamische Mädchen.

Der Elektrische lacht wieder. Sehr - islamisch schaust Du aber nicht aus. Womit er recht hat.

Ich bin hiereinmal zur Schule gegangen. Vor der Revolution.

Da schau her, sagt der Elektrische. Ich war auch einmal dort. Er meint in Deutschland und streckt mit wieder Ernte 23 entgegen.

Graz liegt aber nicht in Deutschland.

Eine Zeit lang schaut mich der Elektrische an, dann in die Ferne.

Yaghoot-am mishnasi? Meinen Rubin Kennst Du auch?

Klar.

Habe ich in Deutschland gekauft.

Ich weiß.

Du erinnerst Dich, LeserIn, Der Rubin ist das Haus des Elektrischen, ein alter, roter Mercedes. Mit Schrägdach.

Mir fällt ein, daß Morad Barghi, der echte Barghi, sollte er noch leben, über 70 sein müßte, Nein, 75. Dieser Elektrische ist also nicht der Elektrische. Obwohl er es ist. Er ist ihm nicht ähnlich. Er ist es.

wird fortgesetzt

Freitag, 11. Januar 2013

Zizek in Teheran (22)



Es reicht. Ich erhebe mich aus dem Feauteuil. Feierlich. Gemächlich. Und renne. Ein viktorianisches Wohnzimmer ist es nicht mehr, es gibt noch -

Es gibt noch
Ein Draußen
Atme ich
Luft.

Das Leben
Ist schön,
trotz allem
Trotz(e)!
Allem!
Geht weiter.
Ist
eine Berg-
Und Talfahrt
Ist wie ein Buch

siehe: http://sprueche.woxikon.de/leben

Und weiters:
Zu kurz,
um ein langes Gedicht zu machen.

Also Ein kurzes:

Ta shaqayegh hast
zenedegi bayad kard

Solange es Klatschmohn gibt,
mußt Du leben

sagt einer, der genauso auschaut. Solange es Klatschmohn gibt  
– auch das, werte LeserIn, ist Teheraner Lyrik. Ich trete aus dem Haus des Vergessens der Bibliothek der in der Sprache Teherans verfaßten Bücher des Internats Islamischer Mädchen. Er steht vor mir, und streckt seinen Kopf. Nach links, dann nach rechts usw. Sucht er etwas? Hinter mir?
„Sagt einer, der genauso ausschaut“, hast Du nicht verstanden, LeserIn, ich weiß. Will heißen: Genauso wie einer, der unvermutet vor Dir steht, und sagt:

Solange es Klatschmohn gibt,
mußt Du leben

Nämlich so:

Jung, aber nicht mehr ganz so. Panamahut (im Bild, links, ist es kein Panamahut, ich weiß). Hosenträger. Hager. Krawatte. Hinten etwas längeres, vorne sehr schütteres Haar. Früh gealtert. Aber schaut nicht schlecht aus. Panamahut mit aufgebogener Krempe. Schlacksig, melancholisch, heiter. Unendlich sympathisch. Sperrt den Mund auf, wenn er singt, sperr-angel-weit, singt er laut, und posiert.

Zusammenfassung
: Altvaterisch, aus den 70ern, wie der Beiststelltisch, im Haus des Vergessens, aus den 70ern, der in den 70ern aber schon altvaterisch aussah.

Sie verzeihen, Morad Barghi mein Name (zu Deutsch: Morad, der Elektrische). Jeder kennt mich in Teheran. Sie leben im Ausland? Daß sie in Teheran jeden Auslands-Teheraner stante pede erkennen, ist verwunderlich. Wahrscheinlich. Aber ich bin müde. Ich bin Analytiker, um nicht alles selbst zu erleben. Reizschutz heißt das. Und jetzt das alles. Nicht nur jetzt, auch früher. Zuviel Leben. Angefangen mit Narges. Dann Graz, Medizin, Literatur, Psychiatrie, Revolution. Ingeborg. Und jetzt Teheran. Eine mystery fiction. Hey, Myster Gott! Ich weiß schon, daß es Dich nicht gibt. Aber kannst Du aufhören, mich unterhalten zu wollen? Der Gefängnisarzt sagt einen Text auf, statt zu assoziieren, einen altertümlichen, aus einer europäischen Sprache in die Sprache Teherans übersetzten, wenn er nicht über seine Eroberungen oder seine Impotenz spricht. Sodann die Narzisse im Garten, das Internat Islamischer Mädchen, auf dem Gelände unserer Schule, Schirin, Das Haus des Vergessens, BCI, das Hafez-Gedicht, die Harfe, und am Ende Narges - die Liste dient dem Überblick, LeserIn. Und daß Du auf das Kommede Appetit kriegst.

Den Elektrischen kenn ich eh. Von: Vor der Revolution. Held der Fernsehserie: Morad, der Elektrische.

Er ist unablässig in Bewegung.

Sie suchen etwas?

Die Fernsehserie hieß in Wahrheit: Der sein Haus auf den Schultern trägtKhane be doosh. Oder wenn Du es eleganter übersetzt haben willst: Kannst Du es selbst übersetzen. Die wörtliche Übersetzung habe ich Dir schon geliefert. Du willst ja nicht, daß ich alles allein mache.

Morad, der Elektrische, der sein Haus auf den Schultern trägt. Sein Haus ist ein Auto, ein alter, roter Mercedes. Mit Schrägdach. D.h. es war schon in den 70ern ein alter, roter Mercedes. Und nannte sich Yaghoot. Aufgepaßt: Es nannte sich. Verstehst Du? Es - sich. Das Auto hatte einen Auto-nomen Auto-namen. Yaghoot - nicht Yahoo! Ya-ghoot: Ru-bin. Das Auto des Elektrischen nannte sich Rubin. Und war ein Haus.

wird fortgesetzt

Montag, 7. Januar 2013

Warum wir fremde Kulturen nicht respektieren sollten - und die eigene auch nicht

Sechster und letzter Teil

Der Vorsitzende der britischen Scharia-Räte ist kein Einzelfall, und seine Haltung charakterisiert nicht bloß Vertreter eines „moderaten und höflichen“ Islams - zu denen, neben dem Londonder Imam, auch die islamischen Neu-Denker im Iran zählen -, sondern auch bestimmte Ausprägungen des „islamischen Fundamentalismus“: Die Verfassung der Islamischen Republik Iran etwa scheint von den selben Motiven beseelt, die auch unseren Imam in London zu bewegen scheinen: Die Übertragung der Prinzipien eines modernen, demokratischen Rechtsstaates „ins Islamische“. Hier zeigt sich wieder einmal, daß wir dem Phänomen des „islamischen Fundamentalismus“ nicht gerecht werden, wenn wir ihn (bloß) als Flucht aus der Moderne zu begreifen versuchen, und nicht als eine Reaktion auf die Moderne - innerhalb der Koordinaten der Moderne.

Gilt es also bloß abzuwarten, und Tee zu trinken, bis die „islamische Kultur“ ihrer Eigenart entprechende Formen der Demokratie, der Rechtsordnung, der Freiheit - überhaupt der Moderne – entwickelt hat? Und hätten wir von einer solchen Übersetzung der Moderne „ins Islamische“ nicht eigentlich nur Gutes zu erwarten?

Wir zögern bei der Bejahung dieser Frage. Und das nicht bloß wegen des Widerspruchs zwischen Theorie und Praxis, wie sie uns beispielhaft in der Diskrepanz zwischen der politischen Realität im Iran und der Verfassung der Islamischen Republik begegnet - letztere scheint an den Grundsätzen moderner Demokratien orientiert zu sein, wohingegen für die politische Realität im Iran der Satz gilt: „Hier gibt es die Freiheit der Meinungsäußerung, nicht aber die Freiheit nach der Meinungsäußerung“. Entscheidender als das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis scheint hier nämlich das Verhältnis der Theorie zur Theorie zu sein, genauer: der Theorie zur Theorie hinter der Theorie.

Bei den zahlreichen, im Westen, wie in der sogenannten islamischen Welt, geführten Debatten über das Verhältnis und die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie/Islam und Moderne werden zwei - entscheidende - Fragen kaum je gestellt:

- Gibt es zwischen der Erneuerung/Neuinterpretation des Islams auf der einen und der Modernisierung/Demokratisierung von Gesellschaften mit islamischer Bevölkerungsmehrheit auf der anderen Seite überhaupt einen Zusammenhang?

- Und wenn ja, welchen?

Daß diesem doch sehr naheliegenden, Fragen geradezu systematisch gemieden werden - ja, daß überhaupt immer bloß nach der Vereinbarkeit von Demokratie und Islam gefragt wird, fast nie nach der Rolle, die dem Faktor Islam in den Demokratisierungsprozessen jener Gesellschaften zukommen mag, weist auf einen blinden Fleck in diesem Diskurs hin. Und wirft weitere Fragen auf:

- Kann es sein, daß das Motiv hinter den diversen islamischen Erneuerungs-Diskursen - ungeachtet der je persönlichen Motive ihrer einzelnen Repräsentanten - die Sorge um die (bedrohte/als bedroht empfundene) Hegemonie des Islams über Gesellschaften mit islamischer Bevölkerungsmehheit ist?

- Daß es, bei jenen Diskursen der Erneuerung um die Rettung des Hegemonie-Anspruchs des Islams über jene Gesellschaften geht?

- Daß die niemals ausgesprochene Theorie hinter der Theorie der Modernisierung des Islams also lauten müßte: Islamisch geprägte Gesellschaften können, Nein, sollen, einzig und allein über eine Erneuerung des Islams den Weg in die Moderne finden – und nicht etwa durch eine Säkularisierung jener Gesellschaften, die der Religion von außen jenen Platz zuweist, der ihr in einer modernen, säkularen Demokratie zukommen sollte?

Wieder also: Volle Identität.

In der Vorstellung, der Weg jener Gesellschaften hin zu Demokratie und Moderne führe allein über eine Erneuerung des Islams erscheinen Modernisierung und Demokratisierung als „kulturelle Prozesse“: Nicht Strukturen und Institutionen bildeten die Basis für Demokratie, Freiheit, und Rechtsstaatlichkeit, sondern Demokratie, Freiheit, und Rechts-staatlichkeit wären erst zu haben, wenn die mit ihnen verbundenen Werthaltungen in jenen Kulturen verwirklicht sein würden. Demokratisierung und Modernisierung gewinnen so eine zutiefst moralische Qualität. Der Weg hin zur Demokratie und in die Moderne stellt sich als langwieriger, unendlich mühe- und opfervoller, ja geradezu unmöglicher Prozeß der moralischen Erneuerung dar.

Dieser niemals ausgesprochene Diskurs des „Nur-über-den-Islam“ ist eng mit jenen Kultur-und Identitäts-Diksursen verwandt, die in diversen islamisch geprägten Gesellschaften Hochkunjunktur haben - nicht nur bei „moderaten und höflichen“, sondern gerade auch bei den „nicht ganz so moderaten und höflichen“ Vertretern des Islams. „Kulturelle Inavsion“ etwa (gemeint ist die „kulturelle Inavsion“ des Westens) sind die in den Reden des iranischen Revolutionsführers Ali Khamanei am häufigsten verwendeten  Worte, an denen sich immer häufiger die Klage über das Fehlen „einheimischer“, der „iranisch-islamischen Kultur angepaßter“ Humanwissenschaften anschließt.

Interkulturelle Kompetenz: Von Polizisten, Tschuschen und Negern

Die Kulturalisierung der gesellschaftlichen und politischen Debatten findet aber nicht nur in Gesellschaften der sogenannten islamischen Welt statt, sondern auch in Europa. In ihrer Ausgabe vom 22. Dezember 2012 bringt die österreichische Tageszeitung „Der Standard“ zwei Interviews. Eines mit einem Polizisten, das andere mit einem Philosophen. Der Polizist - Konrad Kogler ist sein Name, und er ist Generaldirektor für öffentliche Sicherheit - sagt: „Es ist wichtig Menschen mit Migrationshintergrund in die Polizei zu holen, um interkulturelle Kompetenz aufzubauen ... Wir wollen nicht, daß diese Bevölkerunggruppen Parallelgesellschaften aufbauen, in denen Probleme nur innerhalb der Community gelöst werden.“

Interkulturelle Kompetenz: Ein weiterer Begriff aus der Diskurskiste des Kulturprinzips. Dem Generaldirektor geht es aber gerade nicht um eine Verständigung zwischen „den Kulturen“. Er ist, ganz im Gegenteil, der Meinung, daß man Menschen mit „Migrationshintergrund“ am besten von Polizisten mit einem ebensolchen Hintergrund „beamtshandeln“ läßt. Denn wahre Verständigung, so die hier wirksame Logik des Kulturprinzips, gäbe es nur innerhalb ein und derselben „Kultur“. In der Sprache des polizeilichen Durchschnittsrassismus: „Nur ein Tschusch/ein Neger kann einen Tschuschen/einen Neger verstehen.“

In welchem Sinne in einer Gesellschaft, in der alle den selben Gesetzmäßigkeiten des Kaufens, des Verkaufens, des Konsumierens, des Arbeitens, des Arbeitsverlustes etc. etc. unterworfen sind, von „Paralellgesellschaften“ die Rede sein kann, bleibt ein Rätsel. Man kann natürlich die Auffassung vertreten, und das mit einiger Berechtigung, daß es in dieser „Gleichheit“ sehr viel Ungleichheit gibt. Auch, daß diese Ungleichheit seit Jahren zunimmt. Diese - soziale – Ungleichheit meint der Generaldirektor, wenn er von „Paralellgesellschaften“ spricht, aber nicht. Ihm geht es um so etwas wie „kulturelle“ Paralellgesellschaften. Wie aber ausgerechnet ein Konzept, in dem für jede einzelne „Kultur“ eine eigene, „kulturgerechte“ Polizistentruppe vorgesehen ist, so daß „die Kulturen“ erst recht unter sich bleiben, der Entstehung jener „Paralellgesellschaften“, wenn es sie denn gäbe, entgegenwirken soll, ist ein weiteres Rätsel.

Der Philosoph, Detlev Horster ist sein Name, und er ist emeritierter Professor für Sozialphilosophie mit den Schwerpunkten Ethik und Recht,wird auf die Beschneidungsdebatte angeprochen. Im österreichischen Parlament, sagt die Interviewerin, sitzen mehrheitlich nichtjüdische und nichtmuslimische Abgeordnete - und fragt dann: „Dürfen Nichtreligiöse oder andere Konfessionen […] Juden und Muslimen vorschreiben, wie und ob sie ihre religiösen Riten auch heute noch durchführen dürfen?“ Darauf der Philosoph: „Nein, aber die Abgeordneten haben zumindest die Pflicht zu überlegen, ob es so sein muß, denn man kann auch jüdichen Glaubens sein, ohne beschnitten zu sein […] Ist es nicht an der Zeit, daß man einen Ritus auch mal ändert? Eine vergleichbare Sache war die Ohrenbeichte. Die kannte man bis zum vierten Laterankonzil 1215 nicht, weil die Gemeinde als Ganze vor Gott ihre Sünden bekannte. Die Ohrenbeichte war ein Einschnitt, aber man hat weiterhin geglaubt, man war weiter Christ.“

Das ist das Kulturprinzip in Reinkultur. Ein Konzept von Gesellschaft, in dem ein Abgeordneter nicht mehr als Vertreter seiner Wähler wahrgenommern wird – aller seiner Wähler -, denen er ungeachtet ihres oder seines religiösen oder „kulturellen“ Hintergrunds verpflichtet sein soll, sondern als religiöser/nichtreligiöser, christlicher/nicht christlicher, moslemischer/ nicht-moslemischer Abgeordneter. Einem solchen Konzept von Gesellschaft ist das, was Gesellschaft zuallererst ausmacht, abhanden gekommen. Es ist dies das Konzept einer Nicht-Gesellschaft, in der es nur mehr Religionen und „Kulturen“ gibt – und dazwischen gar nichts. Vor allem keinen neutralen, öffentlichen Raum. Der besagte Abgeordnete gerät dann unversehens von der Sphäre der einen Kultur/Religion in die einer anderen - und ist auf einmal angehalten, sich, als „christlicher“ oder „nichtreligiöser“, jedenfalls „nicht-jüdischer“ /„nicht-moslemischer“ Abgeordneter, Gedanken über die Erneuerung moslemischer oder jüdischer Rituale zu machen.

Die Vorstellung, daß Menschen in allererster Linie „ihre Religion“ oder „ihre Kultur“ repräsentieren - und dann lange nichts -, sitzt mittlerweile offenbar so tief, daß es dem Philosophen nicht einfällt, zu sagen, daß die Erneuerung von Religionen und Ritualen selbstverständlich nicht zu den Aufgaben demoktratisch gewählter Parlamentsabgeordneter eines säkularen Staates gehört. Sondern, daß sie angehalten sind, dort, wo religiöse Rituale in Widerspruch zu einem Rechtsprinzip der Gesellschaft (zu) geraten (scheinen) (in der Beschneidungsfrage wäre dies das Prinzip der körperlichen und seelischen Integrität eines Menschen), eine Grenze  zu ziehen: „Bis hierher und nicht weiter.“ Vertretern des Islams beispielsweise ist es in modernen, säkularen Staaten nicht erlaubt, Frauen wegen „Ehebruchs“ zu steinigen, Dieben die Hand abzuhacken, Konvertiten oder Homosexuelle hinzurichten etc. – und dies ganz unabhängig vom religiösen/nicht-religiösen oder „kulturellen“ Hintergrund einzelner Parlamentensabgeordneter in jenen Staaten. Wie dann einzelne religiöse Gemeinschaften innerhalb der Grenzen, die ihnen der Gesetzgeber von außen zieht, mit ihren Ritualen umgehen, ist, im Sinne der Religionsfreiheit, einzig und allein ihre Sache.

Die Tatsache, daß jedes fünfte Mitglied im Kabinett des französischen Präsidenten Francois Hollande „Migrationshintergrund“ hat, und die Reaktionen der Medien darauf, erscheinen vor dem Hintergrund jenes, vom Kulturprinzip beherrschten Konzepts von Gesellschaft - das die aktuellen Debatten in ganz Europa beherrscht, und auch in diesen beiden Interviews zutage tritt - in einem neuen Licht.

Die Bestellung der Minister mit „Migrationshintergrund“ ist alles andere als die Konsequenz einer in der französischen Gesellschaft tatsächlich verwirklichten Gleichheit aller, ungeachtet ihres „kuturellen“ Hintergrunds. Wäre dies der Fall, wäre die Bestellung der Minister mit „Migrationshinter-grund“ keine Sensation. Jene Minister sind aber nicht ungeachtet, sondern wegen ihrer Verschiedenheit von der Mehrheitsbevölkerung, ja als Repräsentanten dieser Verschiedenheit in die Regierung berufen wurden.

In den USA gibt es seit der Ära Reagan einen konservativen Diskurs, der rassistische und geschlechtliche Diskriminierungen zwar verurteilt, deren Existenz in den Vereinigen Staaten aber leugnet - und so den Kampf gegen rassistische und geschlechtliche Diskriminierung, indem er ihn für gegenstandslos erklärt, hintertreibt. Die Bestellung jener Minister mit „Migrationshintergrund“ folgt, ungeachtet der persönlichen Motive, die  Hollande zu dieser Entscheidung bewogen haben mögen, einer ähnlichen Logik: Die Existenz rassistischer Diskriminierung oder der zunehmenden sozialen Ungleichheit werden, nicht wie in den USA mit den Mitteln des Diskurses, sondern durch eine symbolische Inszenierung an der Spitze des Staates - geleugnet.

Ende