Sechster und letzter Teil
Der Vorsitzende der britischen Scharia-Räte ist kein Einzelfall, und seine Haltung charakterisiert nicht bloß Vertreter eines „moderaten und höflichen“ Islams - zu denen, neben dem Londonder Imam, auch die islamischen Neu-Denker im Iran zählen -, sondern auch bestimmte Ausprägungen des „islamischen Fundamentalismus“: Die Verfassung der Islamischen Republik Iran etwa scheint von den selben Motiven beseelt, die auch unseren Imam in London zu bewegen scheinen: Die Übertragung der Prinzipien eines modernen, demokratischen Rechtsstaates „ins Islamische“. Hier zeigt sich wieder einmal, daß wir dem Phänomen des „islamischen Fundamentalismus“ nicht gerecht werden, wenn wir ihn (bloß) als Flucht aus der Moderne zu begreifen versuchen, und nicht als eine Reaktion auf die Moderne - innerhalb der Koordinaten der Moderne.
Gilt es also bloß abzuwarten, und Tee zu trinken, bis die „islamische Kultur“ ihrer Eigenart entprechende Formen der Demokratie, der Rechtsordnung, der Freiheit - überhaupt der Moderne – entwickelt hat? Und hätten wir von einer solchen Übersetzung der Moderne „ins Islamische“ nicht eigentlich nur Gutes zu erwarten?
Wir zögern bei der Bejahung dieser Frage. Und das nicht bloß wegen des Widerspruchs zwischen Theorie und Praxis, wie sie uns beispielhaft in der Diskrepanz zwischen der politischen Realität im Iran und der Verfassung der Islamischen Republik begegnet - letztere scheint an den Grundsätzen moderner Demokratien orientiert zu sein, wohingegen für die politische Realität im Iran der Satz gilt: „Hier gibt es die Freiheit der Meinungsäußerung, nicht aber die Freiheit nach der Meinungsäußerung“. Entscheidender als das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis scheint hier nämlich das Verhältnis der Theorie zur Theorie zu sein, genauer: der Theorie zur Theorie hinter der Theorie.
Bei den zahlreichen, im Westen, wie in der sogenannten islamischen Welt, geführten Debatten über das Verhältnis und die Vereinbarkeit von Islam und Demokratie/Islam und Moderne werden zwei - entscheidende - Fragen kaum je gestellt:
- Gibt es zwischen der Erneuerung/Neuinterpretation des Islams auf der einen und der Modernisierung/Demokratisierung von Gesellschaften mit islamischer Bevölkerungsmehrheit auf der anderen Seite überhaupt einen Zusammenhang?
- Und wenn ja, welchen?
Daß diesem doch sehr naheliegenden, Fragen geradezu systematisch gemieden werden - ja, daß überhaupt immer bloß nach der Vereinbarkeit von Demokratie und Islam gefragt wird, fast nie nach der Rolle, die dem Faktor Islam in den Demokratisierungsprozessen jener Gesellschaften zukommen mag, weist auf einen blinden Fleck in diesem Diskurs hin. Und wirft weitere Fragen auf:
- Kann es sein, daß das Motiv hinter den diversen islamischen Erneuerungs-Diskursen - ungeachtet der je persönlichen Motive ihrer einzelnen Repräsentanten - die Sorge um die (bedrohte/als bedroht empfundene) Hegemonie des Islams über Gesellschaften mit islamischer Bevölkerungsmehheit ist?
- Daß es, bei jenen Diskursen der Erneuerung um die Rettung des Hegemonie-Anspruchs des Islams über jene Gesellschaften geht?
- Daß die niemals ausgesprochene Theorie hinter der Theorie der Modernisierung des Islams also lauten müßte: Islamisch geprägte Gesellschaften können, Nein, sollen, einzig und allein über eine Erneuerung des Islams den Weg in die Moderne finden – und nicht etwa durch eine Säkularisierung jener Gesellschaften, die der Religion von außen jenen Platz zuweist, der ihr in einer modernen, säkularen Demokratie zukommen sollte?
Wieder also: Volle Identität.
In der Vorstellung, der Weg jener Gesellschaften hin zu Demokratie und Moderne führe allein über eine Erneuerung des Islams erscheinen Modernisierung und Demokratisierung als „kulturelle Prozesse“: Nicht Strukturen und Institutionen bildeten die Basis für Demokratie, Freiheit, und Rechtsstaatlichkeit, sondern Demokratie, Freiheit, und Rechts-staatlichkeit wären erst zu haben, wenn die mit ihnen verbundenen Werthaltungen in jenen Kulturen verwirklicht sein würden. Demokratisierung und Modernisierung gewinnen so eine zutiefst moralische Qualität. Der Weg hin zur Demokratie und in die Moderne stellt sich als langwieriger, unendlich mühe- und opfervoller, ja geradezu unmöglicher Prozeß der moralischen Erneuerung dar.
Dieser niemals ausgesprochene Diskurs des „Nur-über-den-Islam“ ist eng mit jenen Kultur-und Identitäts-Diksursen verwandt, die in diversen islamisch geprägten Gesellschaften Hochkunjunktur haben - nicht nur bei „moderaten und höflichen“, sondern gerade auch bei den „nicht ganz so moderaten und höflichen“ Vertretern des Islams. „Kulturelle Inavsion“ etwa (gemeint ist die „kulturelle Inavsion“ des Westens) sind die in den Reden des iranischen Revolutionsführers Ali Khamanei am häufigsten verwendeten Worte, an denen sich immer häufiger die Klage über das Fehlen „einheimischer“, der „iranisch-islamischen Kultur angepaßter“ Humanwissenschaften anschließt.
Interkulturelle Kompetenz: Von Polizisten, Tschuschen und Negern
Die Kulturalisierung der gesellschaftlichen und politischen Debatten findet aber nicht nur in Gesellschaften der sogenannten islamischen Welt statt, sondern auch in Europa. In ihrer Ausgabe vom 22. Dezember 2012 bringt die österreichische Tageszeitung „Der Standard“ zwei Interviews. Eines mit einem Polizisten, das andere mit einem Philosophen. Der Polizist - Konrad Kogler ist sein Name, und er ist Generaldirektor für öffentliche Sicherheit - sagt: „Es ist wichtig Menschen mit Migrationshintergrund in die Polizei zu holen, um interkulturelle Kompetenz aufzubauen ... Wir wollen nicht, daß diese Bevölkerunggruppen Parallelgesellschaften aufbauen, in denen Probleme nur innerhalb der Community gelöst werden.“
Interkulturelle Kompetenz: Ein weiterer Begriff aus der Diskurskiste des Kulturprinzips. Dem Generaldirektor geht es aber gerade nicht um eine Verständigung zwischen „den Kulturen“. Er ist, ganz im Gegenteil, der Meinung, daß man Menschen mit „Migrationshintergrund“ am besten von Polizisten mit einem ebensolchen Hintergrund „beamtshandeln“ läßt. Denn wahre Verständigung, so die hier wirksame Logik des Kulturprinzips, gäbe es nur innerhalb ein und derselben „Kultur“. In der Sprache des polizeilichen Durchschnittsrassismus: „Nur ein Tschusch/ein Neger kann einen Tschuschen/einen Neger verstehen.“
In welchem Sinne in einer Gesellschaft, in der alle den selben Gesetzmäßigkeiten des Kaufens, des Verkaufens, des Konsumierens, des Arbeitens, des Arbeitsverlustes etc. etc. unterworfen sind, von „Paralellgesellschaften“ die Rede sein kann, bleibt ein Rätsel. Man kann natürlich die Auffassung vertreten, und das mit einiger Berechtigung, daß es in dieser „Gleichheit“ sehr viel Ungleichheit gibt. Auch, daß diese Ungleichheit seit Jahren zunimmt. Diese - soziale – Ungleichheit meint der Generaldirektor, wenn er von „Paralellgesellschaften“ spricht, aber nicht. Ihm geht es um so etwas wie „kulturelle“ Paralellgesellschaften. Wie aber ausgerechnet ein Konzept, in dem für jede einzelne „Kultur“ eine eigene, „kulturgerechte“ Polizistentruppe vorgesehen ist, so daß „die Kulturen“ erst recht unter sich bleiben, der Entstehung jener „Paralellgesellschaften“, wenn es sie denn gäbe, entgegenwirken soll, ist ein weiteres Rätsel.
Der Philosoph, Detlev Horster ist sein Name, und er ist emeritierter Professor für Sozialphilosophie mit den Schwerpunkten Ethik und Recht,wird auf die Beschneidungsdebatte angeprochen. Im österreichischen Parlament, sagt die Interviewerin, sitzen mehrheitlich nichtjüdische und nichtmuslimische Abgeordnete - und fragt dann: „Dürfen Nichtreligiöse oder andere Konfessionen […] Juden und Muslimen vorschreiben, wie und ob sie ihre religiösen Riten auch heute noch durchführen dürfen?“ Darauf der Philosoph: „Nein, aber die Abgeordneten haben zumindest die Pflicht zu überlegen, ob es so sein muß, denn man kann auch jüdichen Glaubens sein, ohne beschnitten zu sein […] Ist es nicht an der Zeit, daß man einen Ritus auch mal ändert? Eine vergleichbare Sache war die Ohrenbeichte. Die kannte man bis zum vierten Laterankonzil 1215 nicht, weil die Gemeinde als Ganze vor Gott ihre Sünden bekannte. Die Ohrenbeichte war ein Einschnitt, aber man hat weiterhin geglaubt, man war weiter Christ.“
Das ist das Kulturprinzip in Reinkultur. Ein Konzept von Gesellschaft, in dem ein Abgeordneter nicht mehr als Vertreter seiner Wähler wahrgenommern wird – aller seiner Wähler -, denen er ungeachtet ihres oder seines religiösen oder „kulturellen“ Hintergrunds verpflichtet sein soll, sondern als religiöser/nichtreligiöser, christlicher/nicht christlicher, moslemischer/ nicht-moslemischer Abgeordneter. Einem solchen Konzept von Gesellschaft ist das, was Gesellschaft zuallererst ausmacht, abhanden gekommen. Es ist dies das Konzept einer Nicht-Gesellschaft, in der es nur mehr Religionen und „Kulturen“ gibt – und dazwischen gar nichts. Vor allem keinen neutralen, öffentlichen Raum. Der besagte Abgeordnete gerät dann unversehens von der Sphäre der einen Kultur/Religion in die einer anderen - und ist auf einmal angehalten, sich, als „christlicher“ oder „nichtreligiöser“, jedenfalls „nicht-jüdischer“ /„nicht-moslemischer“ Abgeordneter, Gedanken über die Erneuerung moslemischer oder jüdischer Rituale zu machen.
Die Vorstellung, daß Menschen in allererster Linie „ihre Religion“ oder „ihre Kultur“ repräsentieren - und dann lange nichts -, sitzt mittlerweile offenbar so tief, daß es dem Philosophen nicht einfällt, zu sagen, daß die Erneuerung von Religionen und Ritualen selbstverständlich nicht zu den Aufgaben demoktratisch gewählter Parlamentsabgeordneter eines säkularen Staates gehört. Sondern, daß sie angehalten sind, dort, wo religiöse Rituale in Widerspruch zu einem Rechtsprinzip der Gesellschaft (zu) geraten (scheinen) (in der Beschneidungsfrage wäre dies das Prinzip der körperlichen und seelischen Integrität eines Menschen), eine Grenze zu ziehen: „Bis hierher und nicht weiter.“ Vertretern des Islams beispielsweise ist es in modernen, säkularen Staaten nicht erlaubt, Frauen wegen „Ehebruchs“ zu steinigen, Dieben die Hand abzuhacken, Konvertiten oder Homosexuelle hinzurichten etc. – und dies ganz unabhängig vom religiösen/nicht-religiösen oder „kulturellen“ Hintergrund einzelner Parlamentensabgeordneter in jenen Staaten. Wie dann einzelne religiöse Gemeinschaften innerhalb der Grenzen, die ihnen der Gesetzgeber von außen zieht, mit ihren Ritualen umgehen, ist, im Sinne der Religionsfreiheit, einzig und allein ihre Sache.
Die Tatsache, daß jedes fünfte Mitglied im Kabinett des französischen Präsidenten Francois Hollande „Migrationshintergrund“ hat, und die Reaktionen der Medien darauf, erscheinen vor dem Hintergrund jenes, vom Kulturprinzip beherrschten Konzepts von Gesellschaft - das die aktuellen Debatten in ganz Europa beherrscht, und auch in diesen beiden Interviews zutage tritt - in einem neuen Licht.
Die Bestellung der Minister mit „Migrationshintergrund“ ist alles andere als die Konsequenz einer in der französischen Gesellschaft tatsächlich verwirklichten Gleichheit aller, ungeachtet ihres „kuturellen“ Hintergrunds. Wäre dies der Fall, wäre die Bestellung der Minister mit „Migrationshinter-grund“ keine Sensation. Jene Minister sind aber nicht ungeachtet, sondern wegen ihrer Verschiedenheit von der Mehrheitsbevölkerung, ja als Repräsentanten dieser Verschiedenheit in die Regierung berufen wurden.
In den USA gibt es seit der Ära Reagan einen konservativen Diskurs, der rassistische und geschlechtliche Diskriminierungen zwar verurteilt, deren Existenz in den Vereinigen Staaten aber leugnet - und so den Kampf gegen rassistische und geschlechtliche Diskriminierung, indem er ihn für gegenstandslos erklärt, hintertreibt. Die Bestellung jener Minister mit „Migrationshintergrund“ folgt, ungeachtet der persönlichen Motive, die Hollande zu dieser Entscheidung bewogen haben mögen, einer ähnlichen Logik: Die Existenz rassistischer Diskriminierung oder der zunehmenden sozialen Ungleichheit werden, nicht wie in den USA mit den Mitteln des Diskurses, sondern durch eine symbolische Inszenierung an der Spitze des Staates - geleugnet.
Ende