Aber es stimmt nicht, wird U. entgegnen, daß rituelle Opfer in jedem Fall unschuldig und gut sein – oder
erscheinen müssen. Nicht nur wegen der Absurdität des Gedankens, die Nazis hätten die von ihnen
vernichteten Juden – und sei es auf der Ebene unbewußter Phantasien - als rein
und unschuldig imaginiert. Gegen „Unschuld“ als unbedingt
notwendiges Merkmal des Objekts des rituellen Opfers sprechen auch historische Befunde: Im
alten Rom waren Kultopfer und Rechtsprechung verknüpft: Verbrecher, Betrüger
und Meineidige wurden häufig den Göttern geopfert. Und die Azteken opferten ihrem
Kriegs- und Sonnengott, und anderen ihrer Götter, Kriegsgefangene, also verhaßte
Feinde. Um die Würde des Opfers zu erlangen, mußte der Todgeweihte - ob schuldig oder
nicht – allerdings zunächst geweiht, also rituell
gereinigt werden. Bevor ihnen der Priester die Brust aufschneiden und das Herz herausreißen
durfte, wurde der Körper der Opfer für den aztekischen Kriegsgott
mit der Opferfarbe Grau bestrichen.
Ich kenne U. und werde auf seinen Einwand vorbereitet sein. Hier müssen
wir differenzieren, werde ich sagen, „rein“ im Sinne von „kultisch rein“ und „geweiht“,
muß tatsächlich nicht immer mit „unschuldig“ oder „gut“ ident sein, wie es im
Mythos vom Opfertod Christi der Fall ist - und, einem spontanen Einfall
folgend, fortfahren: Ich habe mich immer gefragt, warum Neonazis und ihre
Verwandten im Geist den Holocaust immer nur leugnen, statt ihn einfach zu
begrüßen. Könnte es sein, daß der Holocaustleugner einem Mißverständnis seines Unbewußten unterliegt? Denn der – unbewußte –
Subtext seiner Aussage: „Der Holocaust
kann nicht wahr gewesen sein“ könnte lauten: „Der Holocaust kann als Opferritual nicht wahr gewesen sein“
- weil Juden niemals „rein“, „gut“, „unschuldig“ sein können - und daher keine
rituell geeigneten Opfer.
Ali Khamenei, der Führer der Islamischen Republik Iran, der auf seiner
offiziellen Website den Holocaust als „fiktives Ereignis“ bezeichnet, („When a person expresses his objection to the myth of Holocaust, and announced [sic] that he does not believe
it, they throw him into prison. They sentence him to prison for denying a fictitious event“ [Hervorhebungen von
mir. Der hier zitierte englische Text findet sich auf der Website Khameneis]), nannte in einer Ansprache vor Angehörigen der Basij-Milizen, im November 2013, Israel einen unreinen tollwütigen Hund. Juden wie Hunde gelten im schiitischen Islam als najes: (kultisch) unrein. Und najes, der Begriff, den Khamenei
in jener Ansprache für Israel verwendete, verweist unmißverständlich auf die religiöse
Dimension seiner Aussage - und straft die Behauptung, die Islamische Republik
kenne keine Feindschaft gegen Juden, sie sei „bloß antizionistisch“, Lügen.
Weiter oben habe ich in Zusammenhang mit der Geschichte der Judenfeindlichkeit
im (schiitischen) Islam den Begriff Tabu-Angst verwendet. Angesichts von Ali Khameneis Rede von Israel als unreinen tollwütigen Hund ist man versucht, eine neue
Kategorie einzuführen: Tabu-Wut. Eine Wut, die sich aus der
Enttäuschung speist, an jenem herzhaften Mahl, jenem gigantischen Opferritual
nicht teilhaben zu können, weil es nie stattgehabt haben kann - weil Juden zu
unrein sind, um wahre Opfer zu sein.
Khamenei, wird U. sagen, und die anderen Holocaust-Leugner,
unterliegen also demselben Mißverständnis
des Unbewußten, dem auch Du, zusammen mit Barenboim und Maybaum und anderen, unterliegst.
Denn auch Dein Unbewußtes geht davon aus, daß das Opfer, um Ritualwert generieren
zu können, absolut rein und unschuldig sein muß – daher jene Unfähigkeit Deiner
Vorstellungskraft.
Auf diese Wendung des Gesprächs werde ich nicht vorbereitet sein, und U.
recht geben müssen. Dann werde mich zurücklehnen - und warten, wie es U. diesmal schaffen würde, meine Thesen mit der Tagespolitik in Beziehung zu setzen.
Aber U. wird, nach einem Augenblick des Zögerns, das Thema wechseln. Und das
Nachdenken über die Konsequenzen meiner Analyse mir - und meinen Lesern - überlassen.
Ende