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Silvester ist zum anderen der Name eines Textes, den ich zur Jahreswende 1999/2000 geschrieben habe.
Silvester
1
Sieben Tage und sieben Nächte, nein zwei Tage und keine Nacht hat Bernd die Silvesternachtmusik vorbereitet. Eine CD nach der anderen auflegen kann jeder. Aber der Bernd hat einen Ruf zu wahren. Seit sieben Jahren finden die Gäste Bernds Silvesternachtmusik ganz besonders toll und Bernd will, daß es so bleibt. Daher ist er Stunde um Stunde vor der Musikanlage gesessen und hat den Inhalt von vielen CD’s in wenige Minidisks gegossen, bis er die Musik für die Silvesternacht so geordnet hatte, wie er sie haben wollte. Auf jeder Minidisk steht mit grüner Leuchtschrift eine Nummer, so kann auch ein anderer die Tanzmusik betreuen, wenn der Bernd wieder einmal durch die Zimmer geht und die neu angekommenen Gäste begrüßt. Den meisten Gästen muß sich der Bernd als Gastgeber vorstellen, weil er diejenigen, die er kennt, alle gebeten hat, so viele Leute mitzunehmen wie nur möglich.
Jetzt sitzt wieder der Bernd selbst hinter der Musikanlage in der Ecke des kleinen untervermieteten Zimmers, das unmittelbar an das Wohnzimmer anschließt, wo das Tanzen stattfindet und spielt „Aber bitte mit Sahne” von Udo Jürgens.
Ich sitze im Wohnzimmer auf der Chaiselongue. Ein großer Teddybär umarmt mich von hinten, seine Knollennase bohrt sich zwischen meine Schulterblätter, seine pummeligen Beine klammern sich seitlich an meinen Hintern. Gerade singt der Udo Jürgens: „ ... daß der Herr ihren Weg ins Himmelreich bahne ... aber bitte mit Sahne ”. Ich glaube zuerst, daß es in dem Lied um drei Schulmädchen geht, die in einer Konditorei Mehlspeisen mit viel Sahne essen, während sie die Schule schwänzen und daß ein Mädchen nach dem anderen stirbt. Ich frage die Lisa, die in dem großen Ohrensessel sitzt, warum und woran die Schulmädchen sterben. Die Lisa erklärt, daß das Lied nicht von Schulmädchen, sondern von drei älteren Frauen handelt, die regelmäßig zum Mehlspeisen-Essen in eine Konditorei gehen.
Auf dem dunklen Wohnzimmer-Parkettboden erscheint barfüßig ein Mädchen mit langen rotbraunen Haaren und stämmigen Waden. Es hat einen schwarzen Rock an, der bis zur Mitte ihrer stämmigen Oberschenkeln reicht. Das Mädchen ist mir schon vorhin aufgefallen, als sie sich über die Bank des Fensters zum Innenhof mit den vielen Platanen beugte, ihr Rock hatte sich über ihren Hintern gespannt, der sich sowohl nach hinten wölbte, als auch seitlich ausladend war, was selten vorkommt, wie man sich bei genaueren Hinsehen auf Mädchenhintern überzeugen kann. Das Mädchen nenne ich im Geiste Sybille, weil sie drall ist und mich an eine dralle Sybille von früher erinnert. Jetzt schießt die dralle Sybille auf die Lisa zu, mit der sie in der Küche gerade ein paar Worte gewechselt hat, klopft ihr zweimal auf die Schultern und ruft: „Abba!”, obwohl der Udo Jürgens gespielt wird. Dann verschwindet sie wieder in der Menge und ich verliere sie aus den Augen.
Ich bin mit der Lisa zehn Jahre verheiratet gewesen. Seit Oktober sind wir geschieden. Wenn die Mutter fragt, warum ich die Lisa verlassen habe, sage ich, die Leidenschaft habe gefehlt. Auch der Lisa sage ich, daß die Leidenschaft gefehlt hat. Dem Bernd sage ich dasselbe. Er freue sich, hat der Bernd bei der Begrüßung gesagt, daß wir beide zu seiner Silvesterparty gekommen sind. Lisa und ich sind die ersten Gäste gewesen. Ich war froh gewesen, daß sonst noch niemand da war, weil ich nicht gewußt hätte, wie ich hätte tun sollen, wenn sie mich Hand in Hand mit der Lisa bei der Tür hätten hereinkommen gesehen.
Aber als die Gäste gekommen waren, waren sie mir alle fremd gewesen.
Die dralle Sybille ist wieder zu sehen. Sie steht hinten beim Fenster, über das sie sich vorhin gebeugt hat, und das zum Innenhof mit den Platanen aufgeht. Sie bewegt die drallen Arme zackig auf und ab, dazu nickt sie in einem fort.
In der Küche erzähle ich später - neben der Cornelia stehend - rasch aufeinanderfolgende laute Witze. Ich habe mitbekommen, daß die Cornelia mit der Sybille gekommen ist. Die Cornelia hat Glupschaugen und einen sehr flachen Hintern. Mit Seitenblicken in kurzen Abständen zeige ich der Sybille, daß ich mich für sie und nicht für die Cornelia interessiere.
Wieder im Wohnzimmer sagt mir Lisa ins Ohr, sie sei, obwohl wir nicht mehr verheiratet seien, auf die Dralle eifersüchtig. Die Lisa nennt die Dralle die Dralle, so wie ich sie in Gedanken die Dralle nenne, weil sie meine Gedanken kennt. Ich habe gerade die Lisa gebeten, sich den Arsch der Drallen anzusehen, der sich wieder über die Fensterbank spannt. Der Arsch der Drallen, erkläre ich Lisa (ich nenne die Dralle der Lisa gegenüber nicht „die Dralle“, sondern nur „das Mädchen”) sei größer und ihre Beine dicker, als der Arsch und die Beine der Lisa, woraus folge, daß die Figur der Lisa besser sei, als die der drallen Sybille. Trotzdem, erkläre ich der Lisa, sei der Arsch der Sybille für mich immer noch ein guter Arsch und ihre Beine immer noch gute Beine.
Als wir verheiratet waren, ist die Lisa immer gelassen geblieben, wenn ich sie auf andere Frauen aufmerksam machte, die dickere Beine, Arme, Brüste oder Ärsche hatten als sie. Auch war sie gelassen geblieben, als ich jedesmal weiters erklärt hatte, daß mir diese Frauen trotzdem gefielen. Nie hatte sich die Lisa, als wir verheiratet waren, auf solche Frauen eifersüchtig gezeigt. Jetzt aber, da wir nicht mehr verheiratet sind, ist die Lisa eifersüchtig auf die dralle Sybille, die uns gerade ihre Vorderseite zeigt und mit den Armen in der Luft herumrudert.
In der Küche rede ich mit der Cornelia über eine Ansichtskarte, die auf dem weißen Küchenschrank klebt, die Reproduktion eines Biedermeyer-Gemäldes. Man sieht eine Stufenpyramide, die die Lebensalter des Mannes darstellt. Auf der höchsten Stufe steht ein Fünfzigjähriger im schwarzen Frack, der viel jünger aussieht als fünfzig. Auf der Stufe selbst steht ein Spruch, der besagt, daß es ab Fünfzig unaufhaltsam bergab geht. Der Zwanzigjährige, der auf der zweiten Stufe steht, hat in der einen Hand einen Blumenstrauß, mit der anderen faßt er ein Biedermeyer-Mädchen um die Taille. Der Dreißigjährige ist ein Jäger und hat Kind und Frau neben sich. Auf den anderen Stufen stehen die Männer allein da. Weil allen in der Küche fad ist, hören sie mir alle zu, wie ich der Cornelia, laut genug, daß es die dralle Sybille hört, die kleinen verschwommenen Schriftzüge der Sprüche auf den Pyramidenstufen vorlese. Um den dummen und abgeschmackten Sprüchen den Anschein von Bedeutung und Würde zu geben, mache ich zu jedem Spruch mit dem rechten Zeigefinger zackige Bewegungen. Alle lachen und ich lache am lautesten. Einmal schaue ich beim Lachen der Drallen direkt ins Auge. Bei Licht betrachtet ist sie nicht hübsch. Sie lächelt mich an. Ich denke: „O wenn Dein Gesicht Deinem großartigen Arsch entsprechen würde“, und lächle zurück während ich mir vorzustellen versuche, wie das Gesicht der Sybille ausschauen müßte, um ihrem Arsch zu entsprechen.
Um Mitternacht stoße ich mit Lisa, Bernd und Bernds Freundin, Petra, an. Dann tanzen die Lisa und ich den Neujahreswalzer. Seit der Hochzeit mit den hundert Gästen im Restaurant am Grazer Schloßberg haben wir nicht miteinander getanzt. Ich bin Nicht-Tänzer. Und auch Lisa, die den Goldstar hat, hat seit der Hochzeit nicht mehr getanzt.
Nach dem Neujahreswalzer verschwindet die Lisa. Erst denke ich, sie sei am Klo. Ich sitze wieder auf der Chaiselongue neben dem Riesen-Teddybären, der jetzt auf dem Rücken liegt und auf die Decke schaut. Die dralle Sybille tanzt mit einem kleinen Dunkelhaarigen, der sich in der Küche neben die Lisa gesetzt und mit ihr hatte reden wollen. Die Lisa, als ich sie beim Walzertanzen gefragt hatte, was sie von dem „kleinen Schwarzen“ halten würde, hatte gemeint : „Zu klein, uninteressant.” Auch als wir verheiratet waren, hatte die Lisa, wann immer ich sie gefragt hatte, wie ihr ein anderer Mann gefallen würde, ihn entweder zu klein gefunden oder uninteressant.
Als sie vor mir stehen, läßt der kleine Schwarzhaarige von der drallen Sybille und tanzt mit Cornelia weiter. Die Sybille wirft ihre Hände in die Höhe, als ob man hinter ihr „Hände hoch!” gerufen hätte und sagt: „Schicksal!”. Dann nimmt sie mich bei der Hand, reißt mich hoch und beginnt sich mit mir zu drehen. Es ist ein Walzer, aber nicht mehr der Neujahreswalzer. Ich erkläre der Sybille, daß ich kein Tänzer bin, aber sie meint, daß sie mich schon führen würde. Während sie mich herumdreht, merke ich, wie kräftig sie ist.
Die Lisa kommt wieder ins Wohnzimmer. Ich sehe ihr Gesicht im Halbdunkel und weiß, daß sie vorhin aus dem Zimmer gegangen ist, weil auch sie an den Hochzeitswalzer hat denken müssen. Ich küsse die Sybille flüchtig auf die Backen und wünsche ihr für das neue Jahr alles Gute. Dann gehe ich Hand in Hand mit der Lisa aus dem Wohnzimmer in Bernds Schlafzimmer. Dort türmen sich die Mäntel der Partygäste auf dem Futon-Bett und auf der weißen IKEA-Truhe. Wir gehen zum Schlafzimmerfenster, das zu dem anderen Innenhof aufgeht, der kleiner und schmutziger ist als der Innenhof mit den Platanen, und wo nichts wächst. „Ich vermisse Dich.”, sagt die Lisa. Es sei nicht nur so, daß wir jetzt, da wir wieder reden könnten, bloß gute Freunde seien. Ja, es ist mehr, bestätige ich.
Ich denke an Ravenna. Einige der Kirchen hatte man auch nachts besichtigen können. In einer der Kirchen hatte es irgendwo Wasser gegeben, vielleicht in einer Krypta. Lisa und ich waren Hand in Hand an einem Geländer gestanden und hatten ins Wasser hinuntergeschaut. In meiner Erinnerung ist das Wasser dunkel, aber es gibt auch lichte Stellen, wo sich die Mosaikfiguren spiegeln. Die meisten Figuren sind Tiere, ein Storch kommt mir in den Sinn, ein weißer Storch mit einem hellorangen Schnabel vor einem grünen Mosaik-Hintergrund.
Unten im Innenhof ist gerade so viel Licht, daß man erkennen kann, daß die Pflastersteine gelb sind wie schlechte Zähne, und daß ein schmaler Eisenbahngleis den Hof überquert. Bernds Großvater, der aus dem Böhmischen stammte, war Fabrikant gewesen und hatte seine Fabrik hier im Haus.
„Willst Du nicht ... wollen wir nicht ins Wohnzimmer?“, frage ich Lisa. „Du kannst ja gehen“, sagt sie „Ich will Dir kein Klotz am Bein sein“. „Nein, nein“. Ich strecke mich auf Bernds Ehebett aus. Ich schaue auf die Uhr, es ist halbzwei, jetzt bin ich müde. Trotzdem setze ich mich wieder auf und beginne nach den Freunden zu fragen. Am Telefon, wenn ich nicht weiter weiß, frage ich auch nach den Freunden, das sind die gemeinsamen Freunde in Graz.
Obwohl sie, als ich von der gemeinsamen Wohnung ausgezogen war, nach Wien ziehen wollte, ist die Lisa in Graz geblieben. Ich hatte schon immer von Graz wegziehen wollen, weil ich nie freiwillig nach Graz gekommen war, immer war ich dort hingebracht worden, das erste Mal durch Geburt, das zweite Mal als Zwölfjähriger von den Eltern, das letzte Mal wegen der Krankenhausstelle.
Als ich mich, Monate nach meinem Auszug aus der gemeinsamen Wohnung, in der Schweizer-Klinik beworben hatte, hatten wir uns wieder besser verstanden. Ich war wieder in die gemeinsame Wohnung gezogen. Das war im März gewesen. Die Freunde hatten gemeint: „Vielleicht könnt ihr es in der Schweiz nochmal versuchen“. Die Lisa hatte gemeint: „Vielleicht bist Du zufriedener in der Schweiz“. An einem Sonntag auf einer frischgestrichenen Bank im Grazer Stadtpark sitzend, hatte ich der Lisa erklärt, daß ich allein in die Schweiz gehen würde. Das war im Mai gewesen.
Die Tanzfläche im Wohnzimmer ist so überfüllt, daß uns die Tänzer regelmäßig auf die Zehen steigen. Die Lisa sitzt jetzt wieder im Ohrensessel und ich auf der Chaiselongue. Auch die dralle Sybille, während sie eng umschlungen mit der Cornelia tanzt, tritt mir auf die Zehen. Sie merkt es, dreht den Kopf zu mir um und zwinkert mir über die rechte Schulter zu. Auf einmal sehe ich die dralle Sybille nur mit einem weißen Höschen bekleidet, vor mir auf dem Bett. Der hintere Teil ihres Höschens hat sich in ihre Arschspalte hineingerollt. Ich beuge mich über ihren Arsch und blicke in die Spalte hinunter. Es ist ein Abgrund der wächst und weiter wächst. Tief unten, am Grund des engen Tales zwischen den beiden Arschbackenbergen liegt wie eine weißgetünchte Pipeline der eingerollte hintere Slipteil. Ich gebe mir einen Ruck und lege mich auf den Sybillen-Arsch. Mein Unterleib verschwindet in der steilen Landschaft. Ich fasse die Sybille an den Oberarmen und beuge mich hinunter bis meine linke Gesichtshälfte ihr rechtes Gesicht berührt. Ich flüstere „Hallo”, ganz leise, als klebten meine Lippen an ihr rechtes Ohr. Die Sybille blickt mich verzückt an. Ihr Gesicht verändert sich und ist jetzt noch weniger hübsch, als vorhin in der Küche. Das Weiche an ihrem Gesicht läßt es jetzt wie eine Teigmasse aussehen, die auseinanderfallen wird. Die Augen, die Nase, die Lippen im Gesicht der Sybille gleiten auseinander und werden länger und breiter. Ich schüttle ein paar Mal den Kopf und bin wieder da.
Eine Frau mit blassem Gesicht und roten Haaren hat sich neben mich auf die Chaiselongue gesetzt. Sie spricht zu einer anderen, einer großen dunkelhäutigen Frau, die neben ihr sitzt. Weil sich die zwei Frauen einander vorgestellt haben, sobald sie sich beide, vom Tanzen geschafft, auf die Chaiselongue haben fallen lassen, weiß ich, daß die mit dem blassen Gesicht Eva und die Dunkelhäutige Lisa heißt. Irgendwann beginnt die Eva der Dunkelhäutigen von einem schottischen König zu erzählen. Ich weiß nicht wie die Eva auf den schottischen König kommt, vielleicht weil sie Dokumentarfilme macht. Vielleicht habe ich auch etwas versäumt, weil mir noch die weiße Pipeline am Hinterteil der Sybille nachhängt. Der schottische König, erzählt die Eva, sei liebestoll gewesen. Jeden Abend habe er, als Bettler verkleidet, an der Tür eines anderen Bürgerhauses geklopft und um Verpflegung und Unterkunft für eine Nacht gebeten. In der Nacht habe er dann die Tochter des Hauses verführt. Mit der Zeit habe das Gerücht vom liebestollen, als Bettler verkleideten König in Schottland die Runde gemacht. Daraufhin hätten tausende Schottenmädchen, die schon immer davon geträumt hatten, eine Nacht in den Armen des liebestollen Königs zu verbringen, gewöhnliche Bettler, die zufällig Unterkunft in ihrem Haus gefunden hatten, verführt, in der Meinung, es handle sich bei den gewöhnlichen Bettlern um den liebestollen König. Der Witz dabei sei, so die Dokumentarfilmemacherin Eva, daß keines der Mädchen je erfahren hätte, ob sie es mit einem gewöhnlichen Bettler oder mit dem König getrieben hatte, weil sie gar nicht erwartet hätte, daß der als gewöhnlicher Bettler verkleidete vermeintliche König sein Inkognito preisgeben würde. Der König wiederum, hätte nicht mehr wissen können, ob das Mädchen, das er gerade verführte, seinem Zauber als Mann verfallen war, oder ob sie sich ihm nur hingegeben hatte, weil sie in ihm den König gesehen hatte.
Die Lisa, die Anglistik studiert hat und als Englisch-Übersetzerin arbeitet, meint, daß ihr der liebestolle schottische König nichts sage. Die Filmemacherin und die dunkelhäutige Lisa sitzen nicht mehr auf der Chaiselongue. Sie tanzen eng umschlungen und barfüßig wie vor ihnen die Cornelia und die Sybille mitten auf dem Parkettboden in Bernds Wohnzimmer. Die Eva läßt die Fingerspitzen ihrer Rechten auf dem Rücken der dunkelhäutigen Lisa auf und ab fahren, wobei sie die Hand schüttelt, als ob sie Gitarre spielen würde. Die dunkelhäutige Lisa ist, wie ich jetzt sehen kann, groß und sehr zierlich. Die Eva und die dunkle Lisa sind jetzt die einzigen Tänzer auf dem Wohnzimmer-Parkett. Ich mache die Augen zu und sehe keine Bilder mehr. Es gibt nichts als das Hämmern der Technomusik.
Die dralle Sybille steht wieder bei der Fensterbank, reibt ihren ausladenden Hintern an ihr und beugt sich immer weiter zurück, wie Akrobatinnen im chinesischen Zirkus, bis sie fast zum Himmel - er ist fahl und dunkelgrau heute Nacht - hinaufschauen kann. Die Lisa - meine Lisa - ist wieder eingenickt. Auf dem Parkettboden von Bernds Wohnzimmer tanzen wieder mehr Leute.
Ich stehe auf und stelle mich wortlos neben die Sybille.
„Wenn Du so weiter machst, Sybille, wirst Du abstürzen.“, sage ich ihr. Die Dralle schwitzt und ich rieche ihren Schweiß, weil sie immer noch dabei ist, sich weiter und weiter zurückzubeugen. Sie kämpft um jeden Millimeter.
„Ich heiße Gerlinde“, sagt sie vor Anstrengung stöhnend, während sie den fahlen Nachthimmel anstarrt. „Wie kommst Du auf Sybille?“
„Ich habe einmal eine Sybille gekannt. Sie war auch so ... wie Du ... so drall.“ „Und - war es Liebe?“
„Es war mehr eine Affäre. Ich war damals verheiratet.“
„Und jetzt? Was bist Du jetzt?“
„Geschieden. Meine Ex-Frau sitzt dort im Ohrensessel“.
Die Gerlinde schnellt hoch wie ein Stehaufmännchen und fängt prustend zu lachen an. Sie wackelt noch ein paar Mal vor und zurück bis sie ganz zum Stehen kommt.
„Deine Ex ist aber hübsch“, sagt sie, „gar nicht drall ... eher aristokratisch würde ich sagen. So wie ihr miteinander ... so wie Du mit ihr tust, dachte ich, daß ihr zusammen seid. Du kümmerst Dich ... so ... um sie.“
„Wir waren zehn Jahre zusammen. Letztendlich ... die Leidenschaft hat gefehlt.“
Zwischen der Gerlinde und mir an der Fensterbank und der Lisa im Ohrensessel haben sich mittlerweile so viele Gäste gestellt, daß die Lisa, wie sie im Ohrensessel den Kopf hängen läßt nicht mehr zu sehen ist. Zwischen Gerlindes Mund (ihre Lippen sind weder dick noch dünn, weder hart noch weich) und meinem Ohr hat sich Bernds Musik geschoben, die immer lauter wird. Eine Nummer aus der Rocky-Horror-Picture-Show.
„Don’t get strung out by the way I look.
Don’t judge a book by its cover.
I’m not much of a man by the light of day.
But by night I’m one hell of a lover.“
Mir fällt ein, daß die Lisa und ich nie auf Hochzeitsreise waren. Im Geiste sehe ich die Lisa mit dem Frank’N’Furter von der Rocky-Horror-Picture-Show, wie er sie gerade befummelt und wie sie heißer und heißer wird vor Verlangen. Das Gesicht der ansonsten blassen Lisa in meinem Geiste ist hochrot aber auch die ansonsten blasse Haut ihres Halses, ihrer Arme und ihrer Beine ist vor lauter Verlangen und Erregung hochrot, wie nach einem Sonnenbrand.
Ich denke, die Lisa, wenn sie mit mir wirklich auf Hochzeitsreise unterwegs gewesen und dem Frank’N’Furter von der Rocky-Horror-Picture-Show in die Hände gefallen wäre, wäre ganz cool geblieben, weil sie ihn uninteressant gefunden hätte. Später hätte sie mir unberührt von seinen Annäherungsversuchen erzählt, wahrscheinlicher aber ist, daß sie die Annäherungsversuche des Frank’N’Furter gar nicht als solche wahrgenommen hätte, so wie sie, als wir verheiratet waren, nie die Annäherungsversuche der Männer als solche wahrgenommen hatte, obwohl ich sie jedesmal darauf aufmerksam gemacht hatte, mit den immer gleichen Worten, jeder Blinde könne sehen, daß dieser oder jener einen Annährungsversuch in ihre Richtung hatte machen wollen.
Ich möchte zur drallen Sybille sagen, daß ich sie berühren und abtasten möchte, daß ich ihren drallen Körper mit den Händen abtasten und mit spitzen Fingern in sie hineinfahren, in alle ihre Körperöffnungen hineinfahren möchte. Aber ich bin müde, müder als vorhin, als ich neben der Lisa auf Bernds Ehebett liegend auf die Uhr geschaut hatte.
Ich muß mit jemandem reden. Die Lisa schläft immer noch. Auch kann ich mit der Lisa nicht darüber reden, daß ich die Dralle haben will, aber nicht haben kann, weil ich müde bin und weil sie, die Lisa, da ist, wenn auch die halbe Zeit schlafend. Vielleicht steckt mich Lisas Müdigkeit an. Als wir verheiratet waren, kam ich, wenn ich der Lisa etwas erzählen wollte des öfteren nicht weiter, oder ich kam nur ganz schleppend weiter, weil mir die Worte nicht einfallen wollten, und ich fragte dann sie, weil ich glaubte, sie sei zuständig für die Worte, weil sie beruflich mit Sprachen zu tun hat, nach Worten, die mir nicht einfallen wollten. Kein einziges Mal war der Lisa auch nur ein Wort, nach dem ich gefragt hatte, eingefallen. Ich hätte sie würgen können in diesen Momenten, weil ich das Gefühl hatte, sie verweigere mir meine, mir zustehenden Worte.
Ich gehe zum Bernd, der gerade in das an sich untervermietete Zimmer neben dem Wohnzimmer gelaufen kommt und hektisch an seiner Musikanlage herumzudrehen beginnt. Ich traue mich nicht, zu sagen, daß ich reden möchte. Ich frage ihn bloß, ob ich den Sessel, der neben dem Bücherregal im untervermieteten Zimmer steht, ins Wohnzimmer mitnehmen darf.
„Ich kann jetzt nicht reden“, sagt Bernd, ohne mich anzusehen. „Ja, den Sessel kannst nehmen.“
Ich gehe zur schlafenden Lisa zurück und setze mich auf die linke Ohrensessel-Armlehne. Plötzlich wacht sie auf und starrt mich an.
„Gehst Du jetzt in den Keller?“, fragt sie.
„Wieso in den Keller?“
„Na, die Winterreifen holen.“
Ich weiß was los ist. Ich fasse sie sanft am linken Handrücken.
„Hey, Baby, ist ja gut.“ Die Lisa zieht ihre Linke heftig zurück.
„Ich bin nicht verwirrt!“ faucht sie mich an.
Als wir verheiratet waren war, war die Lisa immer wieder einmal verwirrt aus dem Schlaf aufgefahren und hatte wirres Zeug geredet. Früher hatte ich sie, wenn sie aus dem Schlaf aufgefahren war und wirres Zeug geredet hatte, sanft in die Arme genommen und ihr gesagt, daß es schon gut sei und daß sie verwirrt sei. Das hatte sie immer wütend und die Wut hatte sie nüchtern gemacht. Später hatte ich nichts mehr gesagt, sie bloß in die Arme genommen und festgehalten.
„Ich kann nicht mehr“, sagt die Lisa. Sie steht auf und geht schwankend in Bernds Schlafzimmer. Ich gehe mit. Im Schlafzimmer türmen sich auf dem Bett und auf der weißen IKEA-Truhe die Mäntel der Party-Gäste. Wir legen alle Mäntel, die auf dem Bett liegen auf die Truhe und legen uns ohne uns auszuziehen nebeneinander auf Bernds Ehebett. Ich schaue auf die Uhr. Es ist Viertel nach zwei. Ich bin nicht sicher, ob ich noch müde bin. Ich sehe die Dralle wie sie in weißer Unterwäsche eng umschlungen mit dem Frank’N’Furter von der Rocky-Horror-Picture-Show tanzt, ich sehe wie der Frank’N’Furter seine Fingerspitzen am Rücken der Drallen auf und abfahren läßt, wie seine rechte Hand in dem weißen Höschen verschwindet. Das Wort „Höschen“ spüre ich auf meiner Zunge, obwohl ich es nur gedacht habe. Das Wort „Höschen“ auf der Zunge zu spüren ist köstlich, ich kann seine Buchstaben riechen und schmecken, ich kann das ö des „Höschens“ mit der Zungenspitze berühren, es ist eng und weich und heiß. Ich fahre mit der Zungenspitze ins ö des Höschens hinein und streiche mit den Fingerkuppen über die weichen, stimmhaften Buchstaben „s“ und „ch“ des Höschens. Ich beneide den Frank’N’Furter nicht nur um die dralle Sybille, die er gerade nimmt, sondern vor allem darum, daß er in das Höschen hinein darf.
Ich drehe mich zur Lisa um. Sie starrt auf die Decke. Ob sie weiß, daß ich gerade ... Ich mache die Augen zu. Vorhin bin ich von der Sybille an der Fensterbank wortlos weggegangen. Sie hat wohl gemerkt, daß ich mit der Lisa in Bernds Schlafzimmer gegangen bin und es bis jetzt nicht mehr verlassen habe. Die Sybille wird sich wohl denken, das mit der Scheidung ist ein Schmäh gewesen, das ich ihr - weiß der Kuckuck warum - erzählt habe, oder sie wird sich denken, daß das mit der Scheidung schon stimme, aber daß ich die Lisa wieder zurück haben wolle und daß ich sie, die Sybille, nur benütze, um die Lisa eifersüchtig zu machen.
Lange Zeit starre ich auf die Decke bis ich merke, daß die Lisa eingeschlafen ist. Ich hatte gedacht, daß ich, sobald die Lisa eingeschlafen ist - sobald ich sie schlafen gelegt habe, hatte ich gedacht - , sofort ins Wohnzimmer zurück würde zur Sybille und zu den Tänzern. Aber ich bleibe liegen. Ich bin nicht müde und bleibe trotzdem liegen. Ich hatte gedacht, daß ich, egal ob müde oder nicht, ins Wohnzimmer zurück würde, sobald nur die Lisa schläft. Auch als Todmüder hatte ich gedacht, würde ich ins Wohnzimmer zur Sybille zurück. Jetzt aber bin ich hellwach und gar nicht müde und bleibe dennoch liegen und weiß, daß ich liegen bleibe bis ich einschlafe.
Drei, vier Hände tasten meinen Körper ab, es sind Frauen- und Männerhände. Ich setze mich auf und reibe mir den Halbschlaf aus den Augen. Jemand dreht das Licht auf. Cornelia und der kleine Dunkelhaarige stehen am Bettrand und starren mich entsetzt an. Wir haben unsere Mäntel gesucht, stammeln sie gleichzeitig, wir hatten sie auf dem Bett abgelegt gehabt. Dann fangen sie gleichzeitig prustend zu lachen an, genauso wie vorhin die Gerlinde an der Fensterbank, als ich ihr erklärt hatte, daß ich geschieden sei. Ich stehe auf und drehe das Licht ab. Es wundert mich, daß ich eingeschlafen bin. Wollte ich nicht ins Wohnzimmer gehen, zur Sybille und zu den Tänzern? Bin ich so müde, gewesen, daß ich gegen meinen Willen eingeschlafen bin? Cornelia und der Dunkelhaarige verlassen grußlos das Schlafzimmer.
Als ich wieder aufwache, ist es still in der Wohnung. Im Halbschlaf, nachdem die Cornelia und der Dunkelhaarige weg gegangen waren, habe ich noch andere ins Zimmer kommen und Mäntel holen gehört. Keiner hat an meinem Körper herumgetastet. Es hat sich wohl herumgesprochen, daß zwei in Bernds Ehebett liegen, die die Mäntel auf dem Bett auf die IKEA-Truhe gelegt haben. Es hat sich wohl auch herumgesprochen, daß zwei in Bernds Schlafzimmer liegen, die im Oktober sich scheiden haben lassen, die Hand in Hand zur Party gekommen und die meiste Zeit beieinander gesessen sind, und die jetzt, ohne den Bernd zu fragen, sich nebeneinander in sein Bett gelegt haben.
Die Lisa ist die ganze Zeit über nicht aufgewacht. Im Halbschlaf habe ich Bernds Stimme gehört, wie er zu irgendwem sagte, der P. und die Lisa, das sind Freunde von mir, die übernachten auch hier. Ein Anderer übernachtet also auch hier. Der Bernd selbst übernachtet bei Petra, weil er schon seit langem de facto bei Petra wohnt und nicht mehr hier, bei sich. Ich frage mich, ob der Andere, der hier übernachtet nicht die Gerlinde sein könnte. Was würde denn dafür sprechen, daß unter den fünfzig Partygästen ausgerechnet die Gerlinde beim Bernd übernachten würde? Nichts würde dafür sprechen, daß von den fünfzig ausgerechnet die Gerlinde hier übernachten würde. Gesetzen Falles, sie wäre nicht in Wien zuhause sein oder würde nicht nach Hause gehen wollen - ist sie denn nicht hübsch genug um mitgenommen zu werden? Wenn sie nicht ohnehin mit jemandem hergekommen ist. Derjenige, der mit ihr womöglich hergekommen ist, hätte ja nicht ständig bei ihr sein müssen. Es ist doch üblich, daß ein Paar eine Party besucht, denke ich, ohne ständig beisammen zu sein. Die Cornelia und der kleine Dunkelhaarige zum Beispiel sind womöglich so ein Geheimpaar. Vielleicht hat der Dunkelhaarige die Cornelia aber erst hier auf Bernds Silvesternachtparty kennengelernt. Vielleicht hat er sich an die Cornelia herangemacht, nachdem er bei der Gerlinde abgeblitzt ist, die ihn womöglich zu klein findet, obwohl sie, im Unterschied zu der Lisa, kleiner ist als er, was ich bemerkt habe, als sie - die Gerlinde - eng umschlungen mit ihm getanzt hat.
Ich schaue zur Lisa hinüber. Sie hat den Mund halb offen, als wäre sie tot. Langsam stehe ich auf und gehe in Bernds Wohnzimmer. Es ist stockdunkel. Ich spüre trotzdem, daß das Wohnzimmer schon wieder blitzsauber ist. Der Bernd und die Petra sind schon jeder für sich saubere Menschen, als Paar sind sie außerordentlich saubere Menschen. Die Türe des kleinen an sich untervermieteten Zimmers (der Martin, Bernds Untermieter ist gerade verreist), das ans Wohnzimmer anschließt, ist zugesperrt. Dort drinnen liegt der Andere, der heute beim Bernd übernachtet. Über die Küche gehe ich ins Badezimmer, das ebenfalls neben dem kleinen untervermieteten Zimmer liegt. Auch die Türe zwischen dem Badezimmer und dem kleinen untervermieteten Zimmer ist zugesperrt. Auf einmal habe ich die absolute Gewißheit, daß dort drinnen niemand anderer liegt, als die dralle Sybille.
Was soll ich tun? Der Gedanke, die Nacht mit der drallen Sybille in derselben Wohnung zu verbringen, ohne den Versuch unternommen zu haben, sie zu nehmen, wäre unerträglich. Während ich auf den kalten Kachelboden von Bernds Badezimmer sitze, tanzt mir Sybilles draller Hintern im Geiste herum - Sybilles Hintern, wie er an die Fensterbank gerieben wird, wie er vor meiner Nase herumkreist, während ich auf der Chaiselongue sitze und die Sybille, mit der Cornelia tanzt, wie er sich mir darbietet, nackt mit dem eingeklemmten Pipeline-Höschen zwischen den Arschbacken. Zwischen den Bildern von Sybilles Hintern tauchen solche von ihrem Gesicht auf, das mir unhübsch vorgekommen war. Aber jetzt ist das Gesicht der drallen Sybille vom Gesicht der eigentlichen Sybille, der Sybille von vor zehn Jahren überlagert. Die frühere Sybille hatte ein hübsches Gesicht, ein rundes und dennoch sehr feines Gesicht. Ich hatte die Augen der früheren Sybille geliebt, obwohl ich vorhin der Gerlinde gesagt hatte, sie wäre nur eine Affäre gewesen. Die Augen der früheren Sybille waren wie sie schräg - wie die Augen einer Frau aus Ostasien - in ihrem Gesicht lagen, betörend gewesen. Wenn wir uns liebten, flüsterte ich ihr ins Ohr, ihre Augen würden mich liebestoll machen, obwohl wir uns, wenn wir uns liebten, niemals hatten sehen können, weil wir uns immer im Dunkeln liebten und mit geschlossenen Augen. Die eigentliche Sybille war, als ich sie kennenlernte, achtzehn gewesen und ich siebenundzwanzig.
Es muß etwas geschehen, sonst geht die Nacht vorüber ohne daß etwas geschieht.
Ich stehe auf und gehe zu der Türe hinter der - im kleinen untervermieteten Zimmer - die dralle Sybille schläft. Im Schlüsselloch steckt ein verrosteter Schlüssel, den ich herauszuziehen versuche, um in das untervermietete Zimmer hineinschauen zu können, als könnten meine Augen in dem stockdunklen Zimmer irgendetwas erkennen. Aber der alte, verrostete Schlüssel scheint mit dem Schlüsselloch verwachsen zu sein. Ich ziehe fester und fester bis mir klar wird, daß, wenn ich fortfahre an dem Schlüssel zu ziehen, die Türe aus dem Rahmen fallen könnte.
Ich kann nicht anders. Ganz langsam drücke ich - mit beiden Händen - die Türklinke hinunter. Das Zittern meiner Hände ignoriere ich, so gut es geht. Plötzlich beginnt die Türklinke laut zu quietschen. Ich habe Angst. Nicht nur die Sybille, auch die Lisa im Schlafzimmer wird aufwachen. Die Lisa, nachdem sie aufgewacht ist, wird in einem noch nie dagewesenem Verwirrtheitszustand durch die Wohnung laufen, vielleicht wird sie derart verwirrt sein, daß sie nicht merken wird, was passiert. Ich lasse ich die Türklinke aus. Dann gebe ich mir einen Ruck und stoße die Tür zum kleinen an sich untervermieteten Zimmer zwischen Bernds Bade- und Wohnzimmer auf.
2
Die dralle Sybille sitzt vor dem kleinen Tisch auf dem die Musikanlage gestanden ist - der Bernd hat sie wohl schon zur Petra mitgenommen - in einem Bürosessel, ein dicker, großer Foliant liegt vor ihr. Sie hebt den Kopf und dreht ihn lässig in meine Richtung, als hätte nicht das Knarren der Türklinke, sondern ein Windhauch an ihrer nackten Schulter sie gestört. Außer der hellgrünen Unterwäsche hat sie nichts an. Aber nicht nur Sybilles Unterwäsche ist grün, das ganze untervermietete Zimmer ist von einem hellgrünen Licht erfüllt. Es ist eine Art Meeresgrün, nur etwas greller, wie das Licht einer grünen Neonröhre, für ein reines Neonlicht aber wieder zu sanft. Das Licht nimmt mir mein Zittern und ich kann ruhiger atmen. Das peinliche Gefühl, das einer hat, der nachts, ohne anzuklopfen, in das Zimmer eines fremden Mädchens eindringt, hat mich verlassen.
Ich schaue auf die nackte Haut der drallen Sybille. Ich kann nicht aufhören ihre nackte Haut anzuschauen, nicht nur, weil es Sybilles nackte Haut ist, eine sehr weiße, aber nicht blasse Haut, nein, da ist noch etwas: Das sanfte, grüne Neonlicht hat sich wie ein grüner Film über alles in Bernds untervermietetem Zimmer gelegt. Nur die sehr weiße, aber keineswegs bleiche Haut der drallen Sybille ist vom allgegenwärtigen grünen Licht frei. Die Haut der Sybille ist eine Unterwasser-Insel, die umgeben von grünem Wasser, trocken geblieben ist, als gehörten das Höschen und der BH einer anderen Wirklichkeit an als die Haut.
Die Sybille dreht sich in ihrem Bürosessel halb zu mir um. Sie rückt nach vor, drückt ihr Kreuz durch und schiebt den Kopf zurück, so daß sie beinahe von unten zu mir hinauf schaut. Ihr Mund ist halb offen, sie schiebt ihre Unterlippe vor, lächelt verhalten und schaut mir in die Augen. Ich schaue zurück. Ihre Augen, obwohl frei vom meeresgrünen Neonlicht, sind im Meer versunkene Augen.
„Was ist das für ein Buch?“, frage ich.
Sie öffnet ihren Mund noch weiter. Ihre Lippen bilden ein O. Jetzt ziehen sie sich rasch zusammen und gehen genauso rasch wieder auseinander. Die dralle Sybille in der meeresgrünen Unterwäsche an Bernds Arbeitstisch sitzend, will etwas sagen, vielleicht hat sie etwas gesagt, aber ich habe nichts gehört. Jetzt nimmt sie einen zweiten Anlauf. „Du hast mich verletzt“, höre ich sie sagen, aber es ist nicht wirklich die halbnackte Sybille an Bernds Arbeitstisch, die das sagt. Die Worte kommen wohl aus ihrer Richtung, aber nicht aus ihrem Mund. Es ist, als würde das flüssige, grüne Licht selbst die Worte erzeugen, die aus Sybilles Mund zu kommen scheinen. Die Worte der drallen Sybille sind auf eigenartige Weise entstellt. Als hätte man in der Mitte zwischen ihr und mir ein grünes Lichtnetz ausgebreitet, ein Gewebe, durch dessen siebartige Maschen Sybilles Worte gedrückt würden, so daß sie, solange sie sich noch auf ihrer Seite des Netzes befinden, noch ganz sind, beim Durchgang durch das Lichtnetz aber zerstückelt werden. Auf meiner Seite finden sich die zerstückelten Wortteile zwar wieder, sie raffen sich irgendwie wieder zusammen, es sind aber nicht mehr dieselben Worte, die sie jenseits des Netzes noch waren - sie sind entstellt, verschoben, verdrückt. Genaugenommen hatte ich vorhin etwas anderes gehört. Nicht „Du hast mich verletzt“, vielmehr etwas wie „Dou hest möch vorlatzt“.
Mir wird kalt ums Herz.
Noch ein paar Mal ziehen sich die Lippen der drallen Sybille zusammen und gehen rasch auseinander. Wieder bleibt sie stumm dabei. Jetzt aber, wo ihre Lippen verschlossen sind, höre ich etwas:
„Aber ich verzeihe Dir“.
Wieder ist, wenn ich genau sein wollte, etwas anderes zu hören:
„Abarr öch verzaja derr.“
„Was verzeihst Du mir?“, frage ich und schaue dabei in ihre Richtung, als hätte die Sybille selbst den Satz gesagt. Die Sybille scheint meine Worte gehört zu haben. Sie schaut mich an, ein leichtes Zittern durchfährt sie, dann dreht sie ihren Kopf von mir weg und starrt die verschlossene Tür zwischen Bernds untervermietetem Zimmer und seinem Wohnzimmer an. Wieder höre ich etwas, aber es ist keine Stimme im Raum, sondern eine Stimme in mir, ich sehe auch Bilder, bewegte Bilder, eine Art Film, nein, Teile verschiedener Filme, die gleichzeitig und nacheinander in meinem Kopf vorgeführt werden. In den Filmszenen spielen die Sybille, nicht die jetzige Sybille, sondern die seinerzeitige Sybille und ich die Hauptrolle.
In den Filmszenen sehe ich mich, wie ich durch eine große fremde Stadt laufe und etwas unverständliches brülle, wie mir die Sybille nachläuft und wie ich zurückschaue, ob sie mir nachläuft, wie umgekehrt die Sybille durch eine andere große fremde Stadt läuft und ich ihr hinterherlaufe, beide brüllen wir, außer Atem, einander unverständliches zu. Wie wir in einem fremden Lokal sitzen und die Sybille weint und ich brülle und einen Teller auf eine Karaffe und dann auf den Tisch knalle, so daß der Teller auseinander bricht. Wie ich ins Klosett des fremden Lokals flüchte und lange warte, dann an den Tisch zurückkehre, an der die Sybille immer noch sitzt und auf den Boden starrt. Vom zerbrochenen Teller ist nichts mehr zu sehen. Wie mir in einem anderen fremden Lokal die Sybille gegenübersitzt, wie ich sie endlos anbrülle, bis ich ganz heiser und leise werde, wie die Sybille mich anstarrt, wie ich ihr auf einmal ins Gesicht spucke, wie sie aus dem fremden Lokal geht, wie dann ein dunkelhäutiger Kellner besonders freundlich zu mir spricht, beschwichtigend, was ich nicht aushalte, so daß ich das Lokal verlasse. Draußen trete ich in eine fremde Straße, wo mich Sybille erwartet, ihr Gesicht ist tränenverschmiert, aber sie lächelt und streckt mir ihre Hand entgegen. Ich schaue ihre Hand an, die herabhängt, als hätte sie eine Handlähmung, ihre Finger sind klein und ihre Fingernägel ganz abgekaut. Die Sybille erzählt mir, daß der freundliche dunkelhäutige Kellner ihr Hilfe angeboten habe, sie habe aber seine Hilfe abgelehnt. Wie ich ein Mobiltelefon ans Ohr haltend mit zackigen Schritten durch eine fremde Hügellandschaft laufe, wie ich ins Handy hineinbrülle, wie meine Stimme erstickt, wie ich weine, wie ich ins Mobiltelefon hineinrufe und hineinweine, daß ich sie, die Sybille, nicht aushalte, wie die Sybille mir ins Mobiltelefon hineinsagt, daß es sie tödlich verletzt, daß ich sie nicht aushalte.
Wie ich im Wartehäuschen eines fremden Kleinstadtbahnhofs hineingehe und die dort sitzende Sybille zwinge mit mir in eine Wohnung zu gehen. Wie ich auf dem Weg in die fremde Wohnung mehrmals mit der Faust auf ihren Rücken einschlage, bis sie laut zu weinen beginnt. Wie ich sie in der fremden Wohnung einsperre, ihr die Geldtasche aus der Hosentasche ziehe und aus dem Fenster schmeiße. Wie ich sie in die Küche der fremden Wohnung zerre, und während ich sie am Oberarm festhalte und anbrülle, die Kühlschranktür aufreiße, einen halbleeren Fruchtjoghurtbecher über ihr Gesicht ausleere, Margarine, Orangen-Marmelade, Butter, Milch und Honig über ihren Körper ausleere. Wie ich sie ins Badezimmer der fremden Wohnung vor dem großen Schrankspiegel zerre, und sie anschreie, mit den Worten: „Schau Dich an, was Du bist!“. Wie sie etwas später in derselben fremden Wohnung zu mir ins Bett kommt, sich an mich schmiegt und mich anfleht, wir sollten wieder gut miteinander sein. Wie wir uns anschließend lieben und gleichzeitig kommen.
Das alles läuft in meinem Kopf ab, während der Körper der Sybille von heute nacht, die fortfährt, die verschlossene Tür zwischen Bernds untervermieteten Zimmer und seinem Wohnzimmer anzustarren, steif und bewegungslos wird. Plötzlich, ruckartig, als lenkte ein Anderer ihre Bewegungen, dreht sie mir den Kopf zu. Wieder ist eine Stimme im Raum. Wieder heißt es:
„Du hast mich verletzt“, eigentlich: „Dou host moch vorlatzt.“.
Dann, auf einmal, richtet sich die Sybille auf und schiebt den Bürosessel weg. Sie dreht mir den Rücken zu und beginnt mit der rechten Hand ihren nackten Rücken auf und abzufahren. Ihre Bewegungen sind wie das hellgrüne Neonlicht fließend und werden schneller und schneller, ihre beiden Hände beschreiben Kreise auf ihrem Rücken, die rechte Hand verschwindet in ihrem Höschen, ihre Linke fährt durch ihre rotbraunen Haare, wirft sie immer wieder nach vorn, packt sich dann plötzlich am Schopf und zieht ihren Kopf hinunter. Jetzt hat sie den Kopf so weit hinuntergebeugt, daß sie mit den Haaren den hellgrünen Parkettboden kehren könnte. Mit der anderen Hand hält sie den mittleren Teil ihres Höschens und zieht ihn rasch hinauf und hinunter. In einem langsamen Rhythmus beschreibt sie Kreise mit ihrem Arsch.
Die kreisenden Kopfbewegungen der Sybille werden langsamer bis sie ganz aufhören. Jetzt steht die Sybille aufrecht und kreist nur mehr ihren Arsch.
Die Filmszenen in meinem Kopf sind verschwunden. Ich frage mich, woher die Filmszenen kommen. Sie müssen etwas mit der Sybille von heute nacht zu tun haben, mit meinem Leben können sie jedenfalls nichts zu tun haben, so ratlos und verzweifelt wie die Filmszenen in meinem Kopf mich gemacht haben, bin ich in meinem Leben noch nie gewesen. Auch als ich die Lisa verlassen habe, bin ich nie wirklich ratlos gewesen oder verzweifelt. Es hat eineinhalb Jahre gedauert, bis ich die Lisa habe verlassen können. Dreimal bin ich in diesen eineinhalb Jahren aus der gemeinsamen Wohnung aus- und dann wieder in die gemeinsame Wohnung eingezogen, aber kein einziges Mal beim Ein- und beim Ausziehen bin ratlos gewesen oder verzweifelt. Wenn die Lisa hat mir vorhält, daß ich den ganzen eineinhalb Jahren weder verzweifelt gewesen bin noch ratlos, halte ich ihr entgegen, daß sie selbst derart verzweifelt und ratlos gewesen war, daß es für uns beide ausgereicht hatte.
Jetzt liegt die dralle Sybille auf dem Futon-Bett des untervermieteten Zimmers, auf dem - wie ich jetzt erst merke - kein Bettzeug liegt, sondern nur ein zerknittertes hellgrünes Leintuch. Der alte Foliant, der vorhin auf Bernds Arbeitstisch lag, liegt jetzt unter dem Schoß der drallen Sybille. Die Sybille liegt auf dem Bauch, ihr Arsch spannt sich über den dicken alten Folianten, so wie er sich vorhin über das Wohnzimmerfenster zum großen Innenhof mit den Platanen gespannt hatte. Irgendwann muß sie, ohne daß ich es bemerkt hätte, das neongrüne Höschen ausgezogen haben, sodaß ich jetzt alles, was Sybilles unterer Körper zu bieten hat, sehen kann. Ich denke und freue mich, daß die Sybille sich ausgezogen hat, um mir ihren Arsch darzubieten. Aber die Abwesenheit ihres Höschens enttäuscht mich. Ich finde die vielen weichen Falten und die rosa Schleimhaut, die jetzt zu sehen sind, abstoßend und unübersichtlich - feucht, viel zu weich und behaart, das genaue Gegenteil des Glatten, Festen und Klaren ihres Arsches, bevor sie ihr hellgrünes Höschen ausgezogen und mir ihren Schoß geöffnet hatte.
Ich denke, der Arsch der Sybille, bevor sie sich ausgezogen und ihren Schoß geöffnet hatte, war drall in das Nichts des leeren Raumes hineingeragt, um zu zeigen, daß es etwas gibt auf der Welt und nicht vielmehr nichts.
Aber die zerklüfteten Weichteile ihres offenen Schosses, die ich jetzt sehen muß (und bei denen ich, obwohl ich in der Tür in einiger Entfernung vom Körper der Sybille stehe, den Eindruck habe, sie wären mir vor die Nase gesetzt), sagen aus, daß das Nichts und die Leere des Raumes ihre Ausläufer tief in den Arsch der drallen Sybille gebohrt haben. Noch liegen die Weichteile des Schosses der drallen Sybille einander eng an. Aber das von behaarter Haut und weicher Schleimhaut überzogene Fleisch kann jederzeit auseinanderklaffen und die Höhlen, die es birgt in ihrer ganzen Häßlichkeit bloßlegen.
Niemals, als wir verheiratet waren, habe ich die Höhlen von Lisas Schoß anschauen wollen. Ich habe den Arsch der Lisa immer geliebt, obwohl er nicht so drall war, wie die Ärsche der früheren und jetzigen Sybille. Nichtsdestotrotz ist er fest und genügend groß. Ich habe den Arsch der Lisa, solange wir verheiratet waren, immer gerne angefaßt und betrachtet. Jedoch bereits die oberen Reihen von Lisas blonden Schamhaaren habe ich nicht sehen und anfassen wollen. Schon die oberen Reihen von Lisas Schamhaaren sind für mich niemals Ausstülpungen gewesen, die in den leeren Raum hinausragen, sondern Vorboten des Hineinragens des leeren Raumes in ihren Schoß. Daher habe ich die Lisa, solange wir verheiratet waren, stets nur im Dunkeln geliebt, daher habe ich, solange wir verheiratet waren, niemals den Kopf in den nackten Schoß der Lisa vergraben. Daher habe ich, solange wir verheiratet waren, niemals den offenen Schoß der Lisa gesehen.
Ich schaue wieder auf die Sybille. Auch ihr Büstenhalter ist weg. Sie liegt noch immer auf dem großen alten Folianten und beginnt jetzt ihren Schoß an seinem Deckel zu reiben. Ihr Hintern beschreibt kleine und große Kreise, nach mehreren Kreisen bewegt sie ihn blitzschnell und ruckartig nach vorne und unten, als ob sie den dicken, alten, unter ihrem Schoß begrabenen Folianten, vögeln würde.
Ich gehe auf den Körper der nackten Sybille zu und beuge mich über sie.Ich habe beschlossen, ihre Bewegungen als Aufforderung zu verstehen, ihrem Körper das anzutun, was sie dem Körper des Folianten antut.
Ich stütze die Hände beidseits ihres Körpers auf das zerknitterte Leintuch und senke meinen Körper zentimeterweise auf den Körper der drallen Sybille.
Auf einmal wird alles anders. Das Licht, die Farben, die Temperatur. Das kleine untervermietete Zimmer ist jetzt auf einmal dunkel, das neongrüne Licht ist verschwunden und mit ihm auch seine Wärme, die ich erst jetzt, nachträglich, da sie dahin ist, empfinden kann. Bernds untervermietetes Zimmer ist zwar nicht vollkommen dunkel geworden, vielmehr hat sich ein Farbfilm in einen Schwarzweißfilm verwandelt. Es riecht nach Kälte und es gibt auch einen anderen schwereren Geruch, ähnlich dem Geruch vieler ausgeblasener Kerzen. Jetzt merke ich, daß niemand unter mir liegt. Mein Körper hat den Körper der drallen Sybille einen kurzen Augenblick lang berührt. Ihre Haut brennt noch auf meinem Schwanz und meinen Oberschenkeln. Nicht, daß die Sybillenhaut heiß gewesen wäre - sie ist heiß und kalt zugleich gewesen, wie eine Meeresbrise, die Luftströme mit verschiedenen Temperaturen heranschafft. Aber die zarte und feste Oberfläche und der eigenartige Duft ihrer Haut hat sich meiner Haut so heftig mitgeteilt, daß ich jetzt brenne.
Unter mir liegt die kühle, glatte und rauhe Oberfläche des Deckels des alten Folianten. Ich liege mit meinem steifen Schwanz auf dem alten Buch, als ob es das selbstverständlichste wäre in Bernds untervermietetem Zimmer auf einen alten Folianten zu liegen. So selbstverständlich wie Hand in Hand mit der Lisa zu Bernds Silvetserparty zu kommen, mich, ohne den Bernd zu fragen mit ihr in sein Schlafzimmer zu legen, mich spätnachts in Bernds untervermietetes Zimmer zu schleichen, dort die dralle mir fremde Sybille vorzufinden, das Zimmer in hellgrünes Licht getaucht zu sehen, das nicht von dieser Welt ist, die Sybille mit mir sprechen zu hören mit einer Stimme, die nicht ihre Stimme ist, anzunehmen, daß die Sybille, die nicht aussieht wie sie selbst, sondern wie die Sybille von früher, mir ihren Schoß öffnet, mich auf ihre nackten Arsch zu legen, zu merken. daß sie nicht mehr da ist, wie wenn sie nie dagewesen wäre, auf einen alten Folianten zu liegen, das davor unter dem Schoß der drallen Sybille gelegen ist, mit steifem Schwanz - als ob es das selbstverständlichste wäre.
Ich bin es gewohnt, jedes Buch, das mir unterkommt, egal ob mich der Titel interessiert oder nicht, und die meisten Titel interessieren mich nicht, in die Hand zu nehmen und aufmerksam durchzublättern. Jetzt aber liege ich, wie seit Stunden auf dem altehrwürdigen Buch, wie wenn ich es bebrüten wollte, als ob es für mich nie einen anderen Umgang mit Büchern gegeben hätte, als den, auf ihnen zu liegen. Das Buch mag, anders als das hellgrüne Licht von dieser Welt sein, aber aus Bernds Bücherbeständen stammt es ganz sicher nicht. Ich hatte über die Jahre sämtliche von Bernds Büchern meiner Angewohnheit gemäß in der Hand und aufmerksam durchgeblättert, wenngleich mich die meisten der insgesamt ohnehin wenigen Bücher des Bernd nicht interessierten. Die allermeisten von Bernds Büchern sind Reisebücher, Sportbücher und Ratgeber in Liebes- und Partnerschaftsdingen, weil der Bernd nach der Scheidung von der Dietlinde auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage war, warum seine Ehe gescheitert war, aber auch nach einer Frau, um mit ihr eine Familie zu gründen.
Mein Schwanz ist immer noch steif, obwohl das dicke, altehrwürdige Buch weder rund, noch warm ist, noch weich, noch zwischen seinen Buchdeckeln Vertiefungen oder Hohlräume hat. Im Unterschied zur verschwundenen drallen Sybille öffnet es sich mir auch nicht, vielmehr bleibt es abgeschlossen und bietet meinem steifen Schwanz nichts als die kühle, rauhe und glatte Oberfläche eines alten Buchdeckels.
Draußen dämmert es schon. Immer noch erregt mich das dicke, altehrwürdige Buch. Oder ist es die Spur der Körperhaut der Sybille, die sich auf der Haut meines Schwanzes und meiner Oberschenkel eingebrannt hat? Nein, die Körperhaut der Sybille spüre ich lange nicht mehr, weder auf meiner Schwanz- noch auf meiner Oberschenkelhaut. Das einzige was ich spüre und was nicht aufhört, mich zu erregen, ist der kühle, rauhe und glatte Deckel des dicken, altehrwürdigen Buches. Ich frage mich, ob ich nicht wissen will, wie es denn heißt und was in ihm geschrieben steht und kann in mir keine Neugier für den Inhalt des dicken, altehrwürdigen Buches ausmachen, bloß das anhaltende Begehren seiner Oberfläche.
Ich wundere mich, daß die Begierde nach dem dicken, alten Folianten, sich gleichbleibt und nicht nach mehr verlangt. Zum Beispiel habe ich nicht das geringste Verlangen, in den Leib des altehrwürdigen Buches einzudringen, obwohl es ein leichtes wäre, es aufzuschlagen und meinen Schwanz auf das aufgeschlagene Buch zu legen. Wenn sich die aufgeschlagene Stelle etwa in der Mitte des Buches befände, wären die aufgeschlagenen Seiten die oberste Schicht einer Haut, die sich über zwei dralle Rundungen spannen würde. Aber, nichts, keine Macht dieser Welt, kann mich dazu bewegen, aufzustehen, um meinen Schwanz in das Innere des altehrwürdigen Buches einzutauchen, weil ich mich von der kühlen, rauhen und glatten Oberfläche des Deckels keine Sekunde zu trennen vermag.
3
An der Ungeduld in Lisas Stimme merke ich, daß sie schon länger auf mich einredet. Die Lisa sitzt im Schneidersitz neben meinem Kopf auf dem Futon-Bett in Bernds untervermietetem Zimmer und schaut auf das Fenster zum großen Innenhof mit den Platanen.
„Warum, hast Du hier geschlafen und nicht neben mir?“ Die Lisa versucht in den Tadel in ihrer Stimme etwas Verspieltes hineinzulegen.
„Ich ... habe...ich wollte ... ich konnte nicht einschlafen ...ich habe ein Buch gesucht ... zum ...“
„Zum drauflegen?“
„Ich ... konnte einfach nicht einschlafen.“
„Der Bernd hat keine interessanten Bücher, bloß Reisebücher und Liebesratgeber.“
Ich spüre meinen Schwanz nicht mehr. Er ist völlig in sich zusammengesunken.
„Ich habe auch nichts gefunden, was mich interessiert hätte.“
„Und was ist das?“
Mein Schwanz, obwohl er völlig in sich zusammengesackt ist, spürt, daß die Lisa mit einem Finger ein paar Mal auf den dicken Folianten tippt. Dann zieht sie ihn mir weg.
„Österreichischer Straßenatlas 1975“ verkündet sie laut. Ich richte mich auf. Im Schneidersitz sitze ich der Lisa gegenüber, die schon die längste Zeit im Schneidersitz neben meinem Kopf gesessen und zum Hoffenster geschaut haben muß. Das Buch, das sie in der Hand hält, ist nicht der dicke, alte Foliant, obwohl kein Zweifel bestehen kann, daß sie ihn gerade unter meinem in sich zusammengesackten Schwanz weggezogen hat. Die Lisa hält ein gelbes verglichen mit dem dicken, altehrwürdigen Buch viel dünneres Buch mit einem Plastikeinband in der Hand. Ich reiße der Lisa das Buch aus der Hand. Es ist das Österreichische Straßenatlas von 1975. Ich schlage den Atlanten auf, gemäß meiner Angewohnheit, jedes Buch, das in meine Hand kommt, aufzuschlagen und zu überfliegen. In der Mitte des Straßenatlanten liegt ein vergilbtes Zeitungsblatt. Es ist ein Blatt des Völkischen Beobachters aus dem Jahre 1942. Links oben steht in schwarzen Lettern :
„Wegelagerer des Krieges“.
Es ist der Titel einer Bildreportage über den Partisanenkrieg auf der Halbinsel Krim. Ich überfliege die Bild-Untertitel. Immer wieder kommen die Worte „Banditen“ und „Untermenschentum“ vor. Ganz unten zeigt eine Karikatur zwei Kampfpiloten der Wehrmacht, die auf einer tropischen Insel lässig an ihrem Kampfflugzeug lehnen und zwei dralle exotische Mädchen beobachten. Die Brüste und die Hüften der beiden exotischen Mädchen werden von exotischen Blättern bedeckt. Der eine Pilot auf der Karikatur sagt zum anderen: „Im Herbst, wenn die Blätter fallen, komme ich wieder.“
„Auf dem Buch bist Du gelegen“, sagt die Lisa. Es ist nicht klar, ob sie mich was fragen oder etwas feststellen will. Sie sagt „Buch“ obwohl ein Straßenatlas kein Buch ist, als ob sie wüßte, daß ich in Wirklichkeit auf dem dicken, alten Folianten gelegen bin.
„ Ich habe mich ... selbst befriedigt“, sage ich und senke den Kopf so tief es geht. Über den mittlerweile vollständig zusammengesackten Schwanz halte ich meine beiden Hände, obwohl um ihn zu bedecken eine halbe völlig ausreichen würde. Als wir verheiratet waren, habe ich oft masturbiert. Seitdem ich von der Lisa getrennt in der Schweiz lebe, masturbiere ich täglich. Niemals, als ich mit der Lisa verheiratet war, konnte ich ihr gestehen, daß ich masturbiere. Auch jetzt kann ich ihr nicht gestehen, daß ich, da ich in der Schweiz alleine lebe, täglich masturbiere. Die Lisa hat noch nie masturbiert. Sie schaut jetzt wieder zum Fenster hinaus, das zum Innenhof mit den Platanen aufgeht. Sie wird noch lange schweigen und nicht fragen, warum ich ausgerechnet den Österreichischen Straßenatlas aus dem Jahre 1975 zum masturbieren brauche.
4
Später im Café Museum werde ich mit dem Österreichischen Straßenatlas von 1975 auf dem Schoß da sitzen. Die Lisa wird im Klo sein. Der Österreichische Straßenatlas wird immer noch einen gelben Einband aus Plastik haben und dünner sein als das dicke, altehrwürdige Buch. Mir gegenüber wird ein Mädchen sitzen mit kurzen strohblonden Haaren, eine Touristin, der Sprache nach aus Osteuropa, neben ihrem Freund, einem hochgewachsener Mann mit dunklen gelockten Haaren und einer abgewetzten Lederjacke. Beide werden sich die ganze Zeit über dem Reiseführer und einen Wiener Stadtplan beugen und laut in einer slawischen Sprache diskutieren. Die junge blonde Touristin wird weder besonders hübsch noch besonders abstoßend sein. Sie wird eine Stupsnase haben und ein etwas zu langes Kinn. Sie wird ein paar Mal aufschauen und in meine Richtung blicken. Auch ich werde immer wieder vom Österreichischen Straßenatlas aufblicken und zu ihr schauen. Ich werde nicht wissen, ob ich sie anschaue, weil sie mir gefällt, oder weil mich ihr Interesse an mir interessiert.
Die Lisa wird sich wie immer viel zu lange am Klo aufhalten. Ich werde an das Mödlinger Gymnasium denken. Immer wenn einer während der Stunde aufs Klo gegangen war, hatte ihn der Zach, der Sohn des Unfallchirurgen, sobald er wieder zurück war, gefragt, ob es geschmeckt hatte.
Auch nachdem die Lisa vom Klo zurückgekommen sein wird, werde ich fortfahren in kurzen Abständen die strohblonde Osteuropäerin anzuschauen.
Im Österreichischen Straßenatlas von 1975 wird die ganze Zeit lang immer die selbe Stelle aufgeschlagen sein. Am rechten unteren Rand der ungeraden Seite wird ein Miniaturstadtplan von Graz zu sehen sein. Der Grazer Schloßberg wird wie ein braunes Muttermal aus dem Miniaturstadtplan aufragen. Ich werde abwechselnd das braune Muttermal im Straßenatlas und die Stupsnase der Osteuropäerin anschauen. Die Lisa wird die Salzburger Nachrichten lesen. Einmal werde ich die Lisa von der Seite her anschauen und merken, daß sie die Salzburger Nachrichten gar nicht lesen wird. Sie wird bloß auf die Salzburger Nachrichten auf ihrem Schoß hinunterstarren. Es wird mir einfallen, daß, als die Lisa und ich uns gerade einmal ein paar Tage gekannt hatten, wir einmal stundenlang im Wiener Cafe´ Eiles nebeneinander gesessen sind. Die Lisa hatte sich Illustrierte geholt. Ich hatte den ersten Band von Fenichels „Psychoanalytische Neurosenlehre“ zur Hand gehabt. Stundenlang hatte die Lisa die Illustrierten lesend geschwiegen und ich hatte gemerkt, daß ich nichts sagen mußte. Eine Woche später hatte ich der Lisa einen Heiratsantrag gemacht. Der Mutter hatte ich erzählt, daß ich die Lisa heiraten würde, weil sie stundenlang neben einem sitzen konnte, Illustrierten lesend, ohne daß man mit ihr reden müßte. Die Frauen, die ich vor der Lisa gehabt hatte, hatte ich der Mutter erzählt, wären mit der Lisa verglichen Hysterikerinnen gewesen. Ständig wären die Frauen, die ich vor der Lisa gehabt hatte, in Bewegung gewesen, ständig hätten sie mit mir reden wollen, ständig wären sie unzufrieden, fahrig und fordernd gewesen.
Ich werde, während ich abwechselnd die Lisa und das braune Muttermal im Miniaturstadtplan des Österreichischen Straßenatlas von 1975 anschauen werde, an die Hochzeitsfeier im Grazer Schloßberg-Restaurant mit den hundert Gästen denken. Die Osteuropäerin wird zusammen mit ihrem hochgewachsenen Begleiter das Cafe´ Museum verlassen haben, ohne beim Weggehen zu mir zurückzuschauen, was meine Vermutung bestätigen wird, daß sie sich nur für mein Interesse an ihr interessiert gehabt haben wird und nicht für mich. Plötzlich wird mir schwer ums Herz werden. Ich werde merken, daß mir bislang noch nie schwer ums Herz geworden ist in meinem ganzen Leben noch nicht und daß ich daher gar nicht gewußt haben werde, wie es ist, wenn einem schwer ums Herz ist. Die Sybille wird mir in den Sinn kommen und im Geiste werde ich nach Worten suchen, um mit der Lisa über die Sybille reden zu können, aber die Lisa wird mir zuvorkommen. Die Dralle wird sie sagen, hatte es ganz schön auf Dich abgesehen gehabt. Ich werde sagen, daß mich die Lisa zum Tanz aufgefordert hatte, nachdem die Lisa aus dem Wohnzimmer gegangen war. Ich werde an die heftige, ruckartige Bewegung denken, mit der mich die Sybille hochgezogen hatte. Das heftige, ruckartige Hochziehen wird mehrmals hintereinander in meinem Kopf stattfinden und jedesmal so intensiv, daß ich mein Kreuz durchdrücken und meinen Hintern ruckartig nach vor bewegen werde, als ob mich jemand unsichtbarer im Wiener Cafe´ Museum an die Hand nehmen und mit einer heftigen, ruckartigen Bewegung aufrichten wollte
Die Lisa, die nichts von meinem Besuch spätnachts in Bernds untervermietetem
Zimmer gemerkt haben wird, wird neben mir im Wiener Café Museum sitzend zu weinen beginnen. „Ach“, wird die Lisa sagen und „Scheiße“. Dann wird sie aus ihrer großen schwarzen Handtasche ein Taschentuch herausziehen (Als ich mit der Lisa verheiratet war, habe ich diese Handtasche immer „Oma-Tasche“ genannt, so wie ich alle Handtaschen der Lisa, die alle groß und dunkel waren, immer „Oma-Taschen“ genannt habe im Unterschied zu den Taschen der Sybille, der früheren Sybille, die immer Mädchentaschen waren, klein, hell und manchmal grell).
„Vermißt Du nie ...“, wird die Lisa sagen und dann wieder „Vermißt Du nie ... “. Dann erst wird sie richtig in Tränen ausbrechen und in meinem Geist wird das Pipeline-Höschen in der Arschspalte der drallen Sybille auftauchen. „Ja doch ...“, werde ich sagen, obwohl die Lisa noch keinen Satz fertig gesprochen haben wird und nach ihrer Hand greifen., die sie zwischen ihren Oberschenkeln eingeklemmt halten wird. Während ich „Ja doch“ sage wird der dralle Arsch der Sybille in meinem Geist langsam aufgeblasen, so daß die Falten zwischen ihren Oberschenkeln und ihren Arschbacken langsam verschwinden werden. Der dralle, aufgeblasene Arsch der Sybille, der aufgeblasen sein wird wie die Brüste einer aufblasbaren Sexpuppe, wird mich maßlos stören. Statt mich mit dem aufgeblasenen Sexpuppen-Arsch der Sybille abzugeben, werde ich mich lieber um die Lisa kümmern wollen. Aber ich werde beim besten Willen den Sybillen-Arsch nicht wegkriegen können. Wie Schmeißfliegen an einem Haufen Scheiße wird sich das Bild des aufgeblasenen Sybillen-Arsches an meinem Geist festkrallen und nicht von ihm lassen wollen. Ich werde zuerst ganz langsam, damit es niemand im Café Museum merken kann, meinen Kopf zu schütteln beginnen und dann schneller und schneller. Mittlerweile wird die Lisa leise vor sich hinschluchzen. Der aufgeblasene Sybillen-Arsch wird nicht mehr nur in meinem Geist, sondern auch vor meiner Nase herumtanzen und wird sich über meine Lippen stülpen, so daß ich weder werde atmen noch sprechen können. Weil ich die Lisa, die fortfahren wird vor sich hinzuschluchzen nicht werde mit Worten trösten können, werde ich ihre zwischen ihren Oberschenkeln eingeklemmte Hand zu streicheln versuchen.
Plötzlich werde ich wild, einem mächtigen Zwang folgend, zuerst mit der freien anderen Hand, dann aber auch mit der Hand, die gerade versucht haben wird, die eingeklemmte Hand der Lisa zu streicheln, auf den drallen aufgeblasenen Arsch der Sybille, der mittlerweile zu einem monströsen Organ angeschwollen sein wird, einzuschlagen versuchen. Immer wilder und wütender werde ich mit beiden Händen um mich schlagen, um den monströsen angeschwollenen Arsch zu vertreiben, der sich über mein Gesicht gestülpt haben wird, und dabei mit der einen Hand in Wirklichkeit auf Lisas Oberschenkeln und Lisas Hand einschlagen, die ich gerade habe streicheln wollen und mit der anderen immer heftiger auf mein Gesicht.
Wie man böse Geister lautstark mit Rasseln und Tschinellen zu vertreiben versucht, werde ich am Morgen nach Bernds Silvesternachtparty im Wiener Café Museum in kurzen Abständen laute, schrille Schreie ausstoßen, während ich mit der einen Hand auf Lisas Oberschenkel und mit der anderen auf mein Gesicht einschlagen werde.