Jenen „blanken Hass“ zog Natascha Kampusch auf
sich, weil sie unserem Bedürfnis, sie als reines, heiliges Opfer zu
imaginieren, zuwiderhandelte: Indem sie, so jedenfalls der Verdacht der
Öffentlichkeit, (freiwillig) Sex mit Priklopil hatte.
Wenn aber ein Fall wie der Natascha Kampuschs das Bedürfnis auszulösen
vermag, sie - auf der Ebene unbewußter Phantasien - zum rituellen Opfer zu machen,
dann müßte dieses Bedürfnis auch, und erst recht, im Falle des Holocaust am
Werk sein. Als, mit Lacan zu sprechen, monströse Befangenheit, die uns (oder manche von uns) veranlaßt, die im Holocaust vernichteten Juden als Ritualwert produzierende Opfer
zu imaginieren. Genauer: Sie noch
einmal als Ritualwert produzierende Opfer zu imaginieren. Denn, wie gesagt: Der Holocaust war bereits für die Nazis – und auch
hier wiederum auf der Ebene unbewußter Phantasien - ein gigantisches Opferritual,
an dessen Ritualwert wir unbeteiligte Nachgeborene ebenfalls teilhaben wollen (in
einem gewissen paradoxen Sinn produzieren wir in jener unbewußt phantasierten Opferweihe unseren Anteil an dem von den Nazis produzierten ursprünglichen Ritualwert - eine Art Ritualmehrwert - allerdings selbst).
Geeignet zur Produktion von Ritualwerten sind aber nur „opferwürdige“, i.e.
geweihte, reine, unschuldige Opfer - auf keinen Fall (Kriegs)verbrecher. An der Quelle
jener Unfähigkeit meiner, und nicht nur meiner,
Vorstellungskraft, einen Juden/Israeli als (Kriegs)verbrecher zu imaginieren, stünde
also das Bedürfnis, den
dunklen
Göttern zu opfern [und dieses Opfern in der Phantasie, zwecks Produktion eines nachträglichen rituellen Mehrwerts, immer wieder zu wiederholen - Anm. von mir], [...] dem,
in einer Art monströsen Befangenheit, nur wenige nicht erliegen.
Der einen oder dem anderen mögen diese Überlegungen weit hergeholt
erscheinen, und ähnlich schwer nachvollziehbar wie Lacans Rede von den dunklen
Göttern - was dem Umstand geschuldet sein mag, daß sich die Phantasien, von
denen hier die Rede ist, dem Bewußtsein entziehen.
Aber es gibt einen Autor, der jene vermuteten unbewußten Phantasien von
Ritual und Opferweihe, die ich mühsam aus Indizien ableiten mußte, direkt und im
hellen Licht des Bewußtseins entwickelt und ausformuliert hat. Die Rede ist von
Ignaz Maybaum, amerikanisch-jüdischer, aus Wien gebürtiger Theologe, und
einer jener Autoren, die den Holocaust aus jüdisch-theologischer Sicht zu
erklären und einzuordnen versuchten.
Maybaum vertritt die These, daß "The innocent who died in Auschwitz, not for the sake of their own sins but because of the sins of others, atone for evil; they are the sacrifice which is brought to the altar and which God acknowledges favorably. The six million, the dead of Auschwitz an of other places of horror, are Jews whom our modern civilization has to canonize as holy martyrs; they died as sacrificial lambs because of the sins inherent in western civilization. Their death purged western civilization so that it can again become a place where men can live, do justly, love mercy, an walk humbly with God." (Ignaz Maybaum: A Reader, hrsg. von Nicholas de Lange, New York, 2001, S. 168; Hervorhebungen von mir)
Für bare Münze genommen ist Maybaums These schlicht verrückt. Aber sie hat
als Wahnsinn Methode - oder insofern methodischen Wert, als sie uns hilft, das
Bedürfnis, das sich in jener Unfähigkeit der Vorstellungskraft ausdrückt,
besser zu verstehen: Daß die jüdischen Opfer des Holocaust als „sacrificial
lambs“ gestorben sein sollen, erinnert uns natürlich an Christus als Erlöser. Als
Gottes Opferlamm, das unschuldig stirbt, um uns von der Schuld zu befreien.