Samstag, 26. Oktober 2013

Warum uns Israel erregt (11)


Potlach
Und das Ritual, so Zizek, sei

letztlich das Ritual des Opfers, das den Raum für intensiven Konsum öffnet. Nachdem wir den Göttern [...] geopfert haben, dürfen wir selbst ein herzhaftes Mahl zu uns nehmen und uns an den Resten gütlich tun. (Slavoj Zizek, Die gnadenlose Liebe, Frankfurt a.M. 2001, S.20)

Aber:

Statt einen freien Konsum ohne Opfer möglich zu machen, erzeugte die moderne ‚totale Ökonomie’ [...] die Paradoxien der Sparsamkeit – es gibt keinen großzügigen Konsum, sondern der Konsum ist nur insoweit gestattet, als er wie die Erscheinungsform seines Gegenteils funktioniert. (Ebd.)

Mit der an Hegel angelehnten Formel vom Konsum, der wie die Erscheinungsform seines Gegenteils funktioniert, verweist Zizek auf die klassische Marketingstrategie des Mengenrabatts: Im (modernen) Kapitalismus ist der Konsument ständig mit der Forderung konfrontiert, mehr zu konsumieren - um zu sparen. Also mehr auszugeben, um weniger auszugeben. Kauf drei - und zahl zwei (Schokoladen, Zahnpastatuben, Hosen etc.)!

Diese und andere „Paradoxien der Sparsamkeit“ resultieren aber aus einem grundlegenderen Zusammenhang: Daß wir überhaupt sparen müssen - etwa, weil wir als Lohnabhängige nichts als unsere Arbeitskraft (zu verkaufen) haben - und am Ende immer draufzahlen: 

Der kleinste Magnat kann über ein Quantum von Diensten und Gütern verfügen wie kein Herrscher zuvor; die Arbeiter jedoch erhalten das sogenannte kulturelle Minmum. Nicht genug, daß sie am Markt erfahren, wie wenig Güter auf sie entfallen, preist der Verkäufer noch an, was sie sich nicht leisten können. Im Verhältnis des Lohns zu den Preisen erst drückt sich aus, was den Arbeitern vorenthalten wird [...] Der Kaufmann präsentiert ihnen den Wechsel, den sie dem Fabrikanten unterschrieben haben. Jener ist der Gerichtsvollzieher fürs ganze System und nimmt das Odium für die anderen auf sich. (Max Horkheimer/ Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1969, S.183)

so Horkheimer und Adorno im Antisemitismus-Kapitel der Dialektik der Aufklärung in enger Anlehnung an Marx.

Aber es sind nicht nur Tausch- und Gebrauchswerte - Geld und Güter - woran heute der durchschnittliche Konsument sparen muß. Oder nicht so sehr: Denn - verglichen mit dem Lebensstandard früherer Jahrhunderte – kann sich das „Quantum von Diensten und Gütern“, über das in den entwickelteren kapitalistischen Gesellschaften heute viele Lohnabhängige verfügen, ebenfalls sehen lassen. Was heute eher fehlt, ist das „herzhafte Mahl“. Jener „intensive“ und „großzügige“ Konsum, dessen Kehrseite, und Voraussetzung, das großzügige, intensive und „herzhafte“ (Aus)geben und Sich-Verausgaben ist. Jenes Geben und jenes Opfern, jener befreiende Exzeß, der - um mit Lacan zu sprechen - den Ritualwert konstituiert. Und dessen "Produktion" uns noch in den 1950er Jahren in den "authentischeren", seither verbotenen Varianten der Potlatch-Rituale nordamerikanischer Indianer begegnete.

Und war der Nationalsozialismus, fragt Zizek, nicht der [...] Versuch, dem Ritualwert durch den Holocaust, diesem gigantischen Opfer für die ‚obskuren Götter’ [...] wieder ihren angestammten Platz zurückzugeben? Folgerichtig war das Objekt der Opferung  der Jude als Inkarnation der kapitalistischen Paradoxien der Sparsamkeit. (Slavoj Zizek, Die gnadenlose Liebe, Frankfurt a.M. 2001, S.20)

In Ausschwitz wurden keine Werte geschaffen, schreibt Postone, sondern vernichtet. In Ausschwitz wurden Werte geschaffen, würde Zizek mit Lacan antworten: Ritualwerte.

wird fortgesetzt

Mittwoch, 16. Oktober 2013

Warum uns Israel erregt (10)



Thrift, thrift, Horatio!

Wenn es sich beim Holocaust, wie Lacan behauptet, um ein Opfer für die „dunklen Götter“ gehandelt haben soll, eben um ein Opfer im wörtlichen Sinn, wenn wir uns also innerhalb der Logik  des Opfers bewegen, dann bewegen wir uns - doch wieder - innerhalb der Logik der Funktionalität: Die Nazis opferten die Juden, um einen (ihnen selbst unbewußten) Zweck zu erreichen.

Um welche Art „Zweck“ es sich dabei handeln könnte, verrät Lacan allerdings nicht. Zumindest nicht hier.

Slavoj Zizek, ein Lacanianer (und Hegelomarxist!), auf dessen Texte mich ebenfalls mein Lehranalytiker aufmerksam gemacht hatte, vergleicht Lacans Redeweise in seinen Seminaren mit der eines Patienten auf der Couch:

In den Seminaren verhält sich Lacan wie der Analysand: er assoziiert [...]  improvisiert, läßt etwas aus und macht Sprünge, spricht sein Publikum an, das damit in die Rolle einer Art kollektiven Analytikers versetzt wird.“

Lacans Schriften hingegen würden sich umgekehrt wie die Interventionen eines Analytikers lesen. Konzentriert, zweideutig, fromel-, oft auch orakelhaft, würden sie den Leser in die Position eines Analysanden versetzen, den die Deutungen seines Analytikers ratlos und mitunter verzweifelt machen würden.

So seien beide, Schriften und Seminare, unverständlich auf je eigene Art. Zizek empfiehlt, bestimmte Seminare zusammen mit den ihnen entsprechenden Abschnitten der Schriften zu lesen - mit dem Ziel gegenseitiger Entschlüsselung.

Aber so wie uns - um beim Vergleich des Lacans der Seminare mit einem Analysepatienten zu bleiben - der Einfall eines Analysanden in Sitzung A den Schlüssel zum Verständnis seines Einfalls in Sitzung B liefern kann, so können sich auch zwei – thematisch (scheinbar) verschiedene - Stellen in den Seminaren Lacans „gegenseitig entschlüsseln“.

Wie das funktionieren könnte, demonstriert Zizek selbst, indem er jene Passage über den Holocaust in Lacans Seminar XI mit einer Stelle aus dem Seminar VI Desir et son interpretation konfrontiert (Slavoj Zizek, Die gnadenlose Liebe, Frankfurt a.M. 2001, S.16). Lacan zitiert dort Hamlets ironisch-verzweifelte Klage darüber, daß die Hochzeit seiner Mutter knapp nach dem Begräbnis seines Vaters stattfgefunden habe (Hamlet, 1. Akt, 2. Szene):

Horatio:
Ich kam zum Begräbnis Deines Vaters.
Hamlet:
Mach Dich nicht lustig über mich, mein Freund,
Ich glaub, Du kamst zur Hochzeit meiner Mutter.
Horatio:
Es stimmt. Sie folgte knapp darauf.
Hamlet:
Man spart, man spart, Horatio [Thrift, thrift, Horatio]! Die Fleischpasteten
Vom Leichenschmaus bot man zur Hochzeit kalt an.

und meint:

Dieser Begriff [thrift] (Lacan verwendet das Wort im englischen Original – Anm. von mir) erinnert uns daran, daß bei den Bequemlichkeiten, welche die moderne Gesellschaft zwischen Gebrauchswerten und Tauschwerten hervorgebracht hat, etwas in der Marx’schen Wirtschaftsanalyse, der für das Denken unserer Zeit dominanten, übersehen wurde – etwas, dessen Stärke und Ausmaß wir in jedem Augenblick empfinden, nämlich die Ritualwerte [Hervorhebung von mir] (zit. nach Zizek, ebd.).

Nach Zizek ist „thrift“ für Lacan nicht bloß eine unspezifische Form der „Sparsamkeit“, sondern die „Weigerung das Trauerritual angemessen durchzuführen“ (Ebd.). Diese spezifische Art von Sparsamkeit schmälere „den Wert des Rituals“. Und das Ritual, so Zizek weiter, sei

letztlich das Ritual des Opfers, das den Raum für intensiven Konsum öffnet. Nachdem wir den Göttern [...] geopfert haben, dürfen wir selbst ein herzhaftes Mahl zu uns nehmen und uns an den Resten gütlich tun (Ebd. S.20).

wird fortgesetzt

Freitag, 11. Oktober 2013

Zizek in Teheran (57)



Aus dem Bericht des Gefängnisarztes

[...]

Ich begegnete dem Übersetzer im Wald, d.h. im - großen - Gefängnishof. Das Gefängnis befindet sich im Norden von Nord-Teheran, an den Hängen des Elburs, in einem Kiefernwald. Vater hat das Gefängnis in den Wald und den Wald in das Gefängnis integriert, indem er ein Stück des Waldes im Gefängnishof stehen und von jugendlichen Delinquenten Baumhauszellen bauen ließ, die sie anschließend bewohnten. Zusammen mit den - in den Gefängnishof, d.h. in den Wald, hineinragenden - Schubladen- und Rucksackzellen sowie den künstlichen Inseln im großen künstlichen Teich im Wald des - großen - Gefängnishofes, bilden die Baumhauszellen die in der Weltarchitektur bekanntlich bekanntesten Gebäudeteile der Anstalt. Am bekanntesten ist das Baumhaus mit der Spiegelfassade: Eine Haut aus Spiegelglas überzieht nahtlos Fenstern, Türe, Oberlichte und die übrigen Flächen der Außenwand.

Die Schubladenzellen hatte Vater gebaut, weil im Sommer in Teheran das Schlafen auf Dächern sehr üblich ist. Vater hatte es sich zum Grundsatz gemacht, daß es den Häftlingen im Gefängnis nicht schlechter gehen sollte als draußen, in der Freiheit, sie sollten die Möglichkeit haben, nachts im Sommer auf den Dächern der Anstalt zu schlafen - sein entsprechender Antrag war von der entsprechenden Abteilung im Justizministerium jedoch abgelehnt worden.

So war die Idee der Schubladenzellen entstanden (Vater selbst vermied das Wort Zelle, er sagte Schubladenraum oder nur: Schublade). Eine Schubladenzelle ist eine aus dem Gebäude, wie eine Schublade, mittels Elektromotor ausfahrbare Zelle, die sich so in eine Balkonzelle verwandelt. Man müßte  Balkonkäfig sagen, denn sie ist von allen, in den Gefängnishof hineinragenden, Seiten - und oben - vergittert.

Drei Jahre nach der Fertigstellung des Habitat, als das Gefängnis unmittelbar nach der Revolution aus allen Nähten zu platzen drohte, hatte Vater sechs zusätzliche Zellen - wie Rucksäcke - vor sechs Fenstern zum großen Gefängnishof hängen lassen. Die Rucksackzellen hängen an Stahlseilen, die, zweimal umgelenkt, über das Dach des Gebäudes verlaufen und in der straßenseitigen Fassade verankert sind.

Die künstlichen Inseln im künstlichen Teich des Gefängnishofwaldes haben einen rein ästhetischen Zweck, Vater nannte sie meine - oder auch eine - Spielerei.

Ich begegnete dem Übersetzer im Wald, in der Betonlichtung. Beim Tai Chi. Tai Chi ist einmal die Woche. Der Sportwart war krank, angeblich, ich vertrat ihn, er ist wahrscheinlich nebenbeschäftigt.

wird fortgesetzt

Donnerstag, 3. Oktober 2013

Warum uns Israel erregt (9)



„Ich behaupte, daß keine Geschichtsauffassung, die sich auf hegelomarxistische Prämissen stützt, ... [vom Holocaust, Anm. von mir] Rechenschaft zu geben imstande ist, bei dem es sich zeigt, daß den dunklen Göttern zu opfern, etwas ist, dem, in einer Art monströsen Befangenheit, nur wenige nicht erliegen.“

Hier erscheint Lacan nicht bloß schwer verständlich - auch nachdem wir die Stelle „entschlüsselt“ haben, fällt es uns schwer, seine Behauptung nachzuvollziehen. Denn: Einen Zusammenhang zwischen dem Begriff des Opfers im wörtlich-ursprünglichen Sinn (also im Sinne des Tausches: „etwas opfern, um etwas wertvolleres zu erhalten“) und dem Nationalsozialismus scheint es nur dort zu geben, wo der Nationalsozialismus seinen eigenen Anhängern Opfer abverlangte. Ein „guter Nazi“ mußte bereit sein, seine materiellen und geistigen Ressourcen und, wenn es sein mußte, auch sein Leben zu opfern, um Führer, Volk und Vaterland zu dienen. Das Opfer, das der Nationalsozialist brachte, hatte eine konkrete Funktion. Er gab etwas, im Extremfall sein Leben, um der Volksgemeinschaft - im Krieg etwa - einen Vorteil zu verschaffen.

Das „Opfern“ der Juden hingegen hatte überhaupt keinen - rational faßbaren - Zweck.

Darauf verweist die Behauptung Lacans, daß

keine Geschichtsauffassung, die sich auf hegelo-marxistische Prämissen stützt ... [vom Holocaust] Rechenschaft zu geben imstande ist.

Eine Behauptung, die auf die Mehrzahl (traditioneller) marxistischer Autoren wohl auch zutrifft - auf jene jedenfalls, die den Antisemitismus und den Holocaust als Mittel zu einem anderen, häufig ökonomischen, Zweck zu erklären versuchen.

Horkheimer und Adorno, die mit einiger Berechtigung als „Hegelomarxisten“ bezeichnet werden dürfen, teilten diese Auffassung allerdings nicht – oder nur bedingt. In der zwanzig Jahre vor jenem Lacan-Seminar veröffentlichten Dialektik der Aufklärung wird die Annahme eines den Antisemitismus motovierenden ökonomischen Zwecks jedenfalls zurükgewiesen:

„Daß die Demonstration seiner ökonmomischen Vergeblichkeit die Anziehungskraft des völkischen Heilmittels [i.e. des Antisemitismus, Anm. von mir] eher steigert als mildert, weist auf seine wahre Natur hin [...] Gegen das Argument mangelnder Rentabilität hat sich der Antisemitismus immun gezeigt. Für das Volk ist er ein Luxus.“ (Max Horkheimer/ Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1969, S.179)

Die in jüngerer Zeit vom marxistischen Theoretiker Moishe Postone vertretenen Thesen über den modernen Antisemitismus stellen eine „Zweckrationalität“ des Holocaust ebenfalls in Abrede, gehen dabei über die Theorien Adornos und Horkheimers aber hinaus. Hatten letztere dem Antisemitismus - bei aller „ökonomische[r] Vergeblichkeit“ - noch eine „Zweckmäßigkeit für die Herrschaft“ (Ebd., S.179) attestiert, hatte nach Postone der Holocaust weder eine politische noch eine militärische Funktion.

Postone meint, daß der moderne Antisemitismus nicht bloß, wie Horkheimer glaubte (und wie es im traditionellen Antisemitismus tatsächlich der Fall gewesen sei), die Juden als „Träger von Geld“ wahrnehme. Der moderne Antisemitismus identifiziere, so Postone, die Juden mit dem Kapitalismus in einem viel umfassenderen Sinn - der auch den Sozialismus und den Kommunismus, als Reaktionen auf den Kapitalismus, miteinschließe. So sei der Antisemit imstande, die Juden als geheime Macht sowohl hinter dem Kapitalismus als auch dem Sozialismus auszumachen.

Die Juden wurden nicht bloß als Repräsentanten des Kapitals angesehen (in diesem Fall wären die antisemitischen Angriffe wesentlich klassenspezifischer gewesen), sie wurden vielmehr zu Personifikationen der unfaßbaren, zerstörerischen, unendlich mächtigen, internationalen Herrschaft des Kapitals [...] Die Überwindung des Kapitalismus und seiner negativen Auswirkungen wurde mit der Überwindung der Juden gleichgesetzt.“ (Moishe Postone, Nationalsozialisten und Antisemitismus,
http://www.anarchismus.at/antifaschismus/faschismus-und-nationalsozialismus/367-postone-nationalsozialismus-und-antisemitismus)

Für den modernen Antisemiten sei „der Jude“, so Postone, die Personifikation der „abstrakten“ (genauer: der abstrakt scheinenden) Seite des Kapitalismus. Abstraktheit, Unfaßbarkeit, Universalität, Mobilität“ (Ebd.) – jene Merkmale, die der moderne Antisemit den Juden zuordne, seien genau jene Merkmale, die nach der Analyse von Marx der „erscheinenden abstrakten Seite“ (Ebd.) der im Kapitalismus vorherrschenden gesellschaftlichen Formen zukommen würden. 

(Die Auseinandersetzung mit der Frage, was genau es mit der „erscheinenden abstrakten Seite“ der „im Kapitalismus vorherrschenden gesellschaftlichen Formen“ auf sich hat, i.e. die Auseinandersetzung mit Postones „wertkritischem“ Ansatz, würde sich lohnen, über den Rahmen dieses Textes aber hinaus gehen. Zu empfehlen ist die Lektüre von Postones Artikel „Nationalsozialismus und Antisemitismus“:
http://www.anarchismus.at/antifaschismus/faschismus-und-nationalsozialismus/367-postone-nationalsozialismus-und-antisemitismus).

Postone, Adorno und Horkheimer scheinen also, indem sie der „Unzweckmäßigkeit“ des Holocaust, in je verschiedener Akzentsetzung, das Wort reden, Lacan recht zu geben, der die „hegelomarxistischen“ Erklärungsansätze des Holocaust wegen eben jenes Moments der „Unzweckmäßigkeit“ für ungültig erklärt. Auf dem zweiten Blick stoßen wir aber auf eine überraschende Paradoxie: Wenn es sich, wie Lacan behauptet, beim Holocaust um ein Opfer für die „dunklen Götter“ gehandelt hatte, also um ein Opfer im ursprünglichen und wörtlichen Sinn, wenn wir uns also innerhalb der Logik des Opfers bewegen, dann bewegen wir uns zugleich - und doch wieder - innerhalb der Logik der Funktionalität: Die Nazis opferten die Juden, um einen - ihnen unbewußten - Zweck zu erreichen.

wird fortgesetzt