Marion Vina |
Folgen wir der
näheren Bestimmung dieser beglückenden Erfahrung begegnen wir der zweiten Paradoxie
des Kunstglücks in der Ästhetik Adornos.
Das Subjekt, dem ausgerechnet der Verzicht auf den Anspruch, dass ihm das Kunstwerk „etwas zu geben habe“, den Zugang zu diesem erst öffnet (erste Paradoxie), wird nun, wenn er Glück hat – und das ist die zweite Paradoxie des Kunstglücks nach Adorno – vom Kunstwerk überwältigt:
„[D]iese Augenblicke sind [...] solche [des Überwältigtwerdens,] der Selbstvergessenheit.“28
„Es ist dann so wie wenn [...] in diesem Augenblick das Subjekt in sich erschüttert zusammenstürzen würde. [Es sind] eigentlich Augenblicke, in denen das Subjekt sich selber auslöscht und sein Glück hat an dieser Auslöschung“29
Paradox sind Adorno zufolge die Bedingungen der Erfahrung von Kunstglück, weil das Subjekt, das auszieht, dieses Glück zu gewinnen, erst mal Verzicht leisten muss – und zwar nicht bloß auf sinnliche und intellektuelle „Kunstbeute“. Um das Kunstglück zu gewinnen, muss es auch noch sein Selbst vergessen, es „auslöschen“, also bereit sein, alles zu verlieren.
... sollten sich alle wohlfühlen
Adorno schrieb an seiner unvollendet gebliebenen Ästhetischen Theorie bis zu seinem Tod 1969, die hier zitierte Ästhetik-Vorlesung hielt er im Wintersemester 1958/59. Offenbar gab es schon damals Tendenzen, die zu der Kunstauffassung, die den Erfahrungen des Überwältigtwerdens durch das Kunstwerk zugrunde liegt, in denkbar krassem Gegensatz standen und die Adorno scharf kritisierte. So ist in der 18. Sitzung der Ästhetik-Vorlesung von Subjekten die Rede, die – weit davon entfernt, sich von diesem erschüttern, überwältigen, gar „auslöschen“ zu lassen – das Kunstwerk
„gerade umgekehrt [...] zum Rezeptakulum der Affekte [machen], die man selber hat [...] Es werden auf das Kunstwerk einfach die eigenen Regungen, die eigenen Affekte projiziert [Hervorhebungen von mir].“30
Das Kunstwerk fungiert dabei als Stimulus,
„als so eine Art von Auslöser, als eine Art Hebel, und die ganze Reaktion, die daran anschließt, hat mit der Sache [also mit dem Kunstwerk selbst, Anm. von mir] nichts oder nur jedenfalls im Sinne eines Grenzfalls zu tun.“31
Die Tendenz, die Adorno hier im Blick hat, hat sich seither – und in den allerletzten Jahren offenbar massiv – verstärkt. Bei den heute auf Kunstwerke projizierten „Regungen“ scheint es sich aber vorwiegend um „positive“, lustvolle zu handeln. Anders und genauer: Die Erwartung, die heute an Kunst herantragen wird lautet immer häufiger: Sie möge bitte Wohlbefinden auslösen.
Kunst, die irritiert, oder gar verletzt – Stichwort Trigger Warnings – ist den Trägern dieser Erwartungshaltung ein Unding. Von einer Kunst, die zu erschüttern, zu überwältigen, das „Selbst“ gar „auszulöschen“ vermag, ganz zu schweigen.
„Und ich würde sagen [...], daß das Kunstwerk eben dadurch, daß es jene zugleich kritische und utopische Intention hat [...] schlechterdings und stets ein Verletzendes ist, und daß es dort, wo es nicht mehr verletzt, sondern wo es ganz und gar in die Oberfläche der geschlossenen Erfahrung sich einfügt, eigentlich aufgehört hat, überhaupt ein lebendiges Kunstwerk zu sein. Wie denn jener Typus [...], der von der Kategorie des Geschmacks beherrscht wird, der Typus eines ängstlichen, auf übermäßigen Reizschutz bedachten Menschen ist, der sich zunächst einmal in die Sphäre der Kunst begibt [...], um vor dem Leben sich zu verschließen, und der dann womöglich auch dieses zweite Leben kastriert, indem es alles Verletzende, alles [...] nicht „Schickliche“, alles Anstößige, alles Skandalon daraus entfernt [Hervorhebungen von mir].“32
Dieses in derselben Vorlesung – vor über 60 Jahren also – gehaltene, leidenschaftliche Plädoyer gegen eine „kastrierte“ und für eine lebendige Kunst liest sich so, als hätte Adorno heutige Kunstdebatten im Blick.
Etwa jene, die 2017 dazu führte, dass eine satirisch gemeinte Ausstellung der Malerin Marion Vina in der Zentralmensa der Universität Göttingen vorzeitig beendet wurde, weil einige Studierende die ausgestellten Bilder als „sexistisch“ empfunden hatten. Die Künstlerin selbst meinte, es handle sich – drei Jahrzehnte nach einer sexuellen Missbrauchserfahrung – um ihre erste künstlerische Annäherung an das Thema Erotik. Nachdem erste Rufe nach dem Entfernen der Bilder laut geworden waren, auf die die Betreiber der Ausstellung mit dem Argument der Freiheit der Kunst reagiert hatten, meinte die Vorsitzende des Allgemeinen Studierendenausschusses der Universität, die Verantwortlichen müssten auf die Proteste reagieren und die Bilder entfernen, denn „auf dem Campus“ sollten sich alle „wohlfühlen“.
„Die Zentralmensa sei ein öffentlicher Raum, den die Studenten tagtäglich zum Essen besuchten, keine Galerie, in der man sich bewusst für das Anschauen solcher Bilder entscheiden könne.“33
Dass eine Mensa keine Galerie ist, sei nicht bestritten. Aber: Zu Ende gedacht, müssen Vertreter einer solchen Haltung Kunstwerke aus dem öffentlichen Raum ganz verbannen, sofern ihnen das Potential zugeschrieben werden könnte, dass sie jemand als verletzend empfinden könnte. In letzter Konsequenz dürften Werke der Kunst nur mehr in Galerien und Museen genannten Ghettos präsentiert werden, mit Warnhinweisen am Eingang – wie es bei Spezialkliniken für hochinfektiöse Krankheiten der Fall ist.
Purifiziertes Lust-Ich
Das seine eigenen Regungen auf das Kunstwerk projizierende, das Kunstwerk als „Rezeptakulum seiner Affekte“ missbrauchende Subjekt, das Adorno kritisierte und dessen „Kunstauffassung“ uns in den letzten Jahren immer häufiger – und exemplarisch in der Göttinger Mensa-Affäre – begegnet, erinnert an Freuds „purifiziertes Lust-Ich“, das sich die
„Objekte [der Außenwelt] insofern sie Lustquellen sind“ einverleibt, zugleich alles abstößt, „was ihm im eigenen Inneren Unlustanlaß“ 34
wird. Zwar scheint es Freud hier um den gegenläufigen Mechanismus zu gehen (ein Ich, das sich lustvolle Objekte einverleibt, während die Subjekte, an die Adorno denkt, umgekehrt, ihre eigenen Affekte auf das Kunstwerk projizieren). Bei genauerer Betrachtung beschreibt Adorno aber lediglich eine Variante der selben „Wohlfühlstrategie“, die auch Freud im Blick hat. Eine Strategie, der das ursprüngliche „Real-Ich“, wie es bei Freud heißt (das zwischen Innen- und Außenwelt noch nach objektiven Kriterien zu unterscheiden weiß), in der Konfrontation mit den Objekten der Außenwelt – in unserem Fall in der Konfrontation mit Werken der Kunst – folgt, um sich dabei in eben jenes purifizierte Lust-Ich zu verwandeln, dem
„die Außenwelt [...] in einen Lustanteil [zerfällt], den es sich einverleibt hat, und einen Rest, der ihm fremd bleibt.“35
Bei Adorno projiziert das Subjekt, das er kritisiert, – lustvolle – Affekte auf das Kunstwerk („Der Bürger wünscht die Kunst üppig ...“), um sich diese dann im Sinne des purifizierten Lust-Ichs – lustvoll einzuverleiben.
„Die üblichen Convenus halten es mit der Kunst ganz ähnlich wie mit den Frauen. Die Kunst soll [...] etwas sein, was von der Anstrengung möglichst entbindet, sowie der Spießbürger von der Frau oder auch von der Geliebten erwartet, daß er sich bei ihr erholen, jeder Anstrengung ledig werden darf.“36
wird fortgesetzt
28 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 2016, S.197
29 Ebd.
30 Ebd. S.293
31 Ebd.
32 Ebd. S. 271
33
https://www.goettinger-tageblatt.de/Nachrichten/Kultur/Regional/Ausstellung-geschmackssache-nach-Beschwerden-abgehaengt
34 Sigmund Freud, Triebe und Triebschicksale. In ders., Gesammelte Werke, Bd. X, Frankfurt am Main 1999, S.228
35 Ebd.
36 Adorno, Ästhetik (Vorlesungen 1958/59), S. 296
Das Subjekt, dem ausgerechnet der Verzicht auf den Anspruch, dass ihm das Kunstwerk „etwas zu geben habe“, den Zugang zu diesem erst öffnet (erste Paradoxie), wird nun, wenn er Glück hat – und das ist die zweite Paradoxie des Kunstglücks nach Adorno – vom Kunstwerk überwältigt:
„[D]iese Augenblicke sind [...] solche [des Überwältigtwerdens,] der Selbstvergessenheit.“28
„Es ist dann so wie wenn [...] in diesem Augenblick das Subjekt in sich erschüttert zusammenstürzen würde. [Es sind] eigentlich Augenblicke, in denen das Subjekt sich selber auslöscht und sein Glück hat an dieser Auslöschung“29
Paradox sind Adorno zufolge die Bedingungen der Erfahrung von Kunstglück, weil das Subjekt, das auszieht, dieses Glück zu gewinnen, erst mal Verzicht leisten muss – und zwar nicht bloß auf sinnliche und intellektuelle „Kunstbeute“. Um das Kunstglück zu gewinnen, muss es auch noch sein Selbst vergessen, es „auslöschen“, also bereit sein, alles zu verlieren.
... sollten sich alle wohlfühlen
Adorno schrieb an seiner unvollendet gebliebenen Ästhetischen Theorie bis zu seinem Tod 1969, die hier zitierte Ästhetik-Vorlesung hielt er im Wintersemester 1958/59. Offenbar gab es schon damals Tendenzen, die zu der Kunstauffassung, die den Erfahrungen des Überwältigtwerdens durch das Kunstwerk zugrunde liegt, in denkbar krassem Gegensatz standen und die Adorno scharf kritisierte. So ist in der 18. Sitzung der Ästhetik-Vorlesung von Subjekten die Rede, die – weit davon entfernt, sich von diesem erschüttern, überwältigen, gar „auslöschen“ zu lassen – das Kunstwerk
„gerade umgekehrt [...] zum Rezeptakulum der Affekte [machen], die man selber hat [...] Es werden auf das Kunstwerk einfach die eigenen Regungen, die eigenen Affekte projiziert [Hervorhebungen von mir].“30
Das Kunstwerk fungiert dabei als Stimulus,
„als so eine Art von Auslöser, als eine Art Hebel, und die ganze Reaktion, die daran anschließt, hat mit der Sache [also mit dem Kunstwerk selbst, Anm. von mir] nichts oder nur jedenfalls im Sinne eines Grenzfalls zu tun.“31
Die Tendenz, die Adorno hier im Blick hat, hat sich seither – und in den allerletzten Jahren offenbar massiv – verstärkt. Bei den heute auf Kunstwerke projizierten „Regungen“ scheint es sich aber vorwiegend um „positive“, lustvolle zu handeln. Anders und genauer: Die Erwartung, die heute an Kunst herantragen wird lautet immer häufiger: Sie möge bitte Wohlbefinden auslösen.
Kunst, die irritiert, oder gar verletzt – Stichwort Trigger Warnings – ist den Trägern dieser Erwartungshaltung ein Unding. Von einer Kunst, die zu erschüttern, zu überwältigen, das „Selbst“ gar „auszulöschen“ vermag, ganz zu schweigen.
„Und ich würde sagen [...], daß das Kunstwerk eben dadurch, daß es jene zugleich kritische und utopische Intention hat [...] schlechterdings und stets ein Verletzendes ist, und daß es dort, wo es nicht mehr verletzt, sondern wo es ganz und gar in die Oberfläche der geschlossenen Erfahrung sich einfügt, eigentlich aufgehört hat, überhaupt ein lebendiges Kunstwerk zu sein. Wie denn jener Typus [...], der von der Kategorie des Geschmacks beherrscht wird, der Typus eines ängstlichen, auf übermäßigen Reizschutz bedachten Menschen ist, der sich zunächst einmal in die Sphäre der Kunst begibt [...], um vor dem Leben sich zu verschließen, und der dann womöglich auch dieses zweite Leben kastriert, indem es alles Verletzende, alles [...] nicht „Schickliche“, alles Anstößige, alles Skandalon daraus entfernt [Hervorhebungen von mir].“32
Dieses in derselben Vorlesung – vor über 60 Jahren also – gehaltene, leidenschaftliche Plädoyer gegen eine „kastrierte“ und für eine lebendige Kunst liest sich so, als hätte Adorno heutige Kunstdebatten im Blick.
Etwa jene, die 2017 dazu führte, dass eine satirisch gemeinte Ausstellung der Malerin Marion Vina in der Zentralmensa der Universität Göttingen vorzeitig beendet wurde, weil einige Studierende die ausgestellten Bilder als „sexistisch“ empfunden hatten. Die Künstlerin selbst meinte, es handle sich – drei Jahrzehnte nach einer sexuellen Missbrauchserfahrung – um ihre erste künstlerische Annäherung an das Thema Erotik. Nachdem erste Rufe nach dem Entfernen der Bilder laut geworden waren, auf die die Betreiber der Ausstellung mit dem Argument der Freiheit der Kunst reagiert hatten, meinte die Vorsitzende des Allgemeinen Studierendenausschusses der Universität, die Verantwortlichen müssten auf die Proteste reagieren und die Bilder entfernen, denn „auf dem Campus“ sollten sich alle „wohlfühlen“.
„Die Zentralmensa sei ein öffentlicher Raum, den die Studenten tagtäglich zum Essen besuchten, keine Galerie, in der man sich bewusst für das Anschauen solcher Bilder entscheiden könne.“33
Dass eine Mensa keine Galerie ist, sei nicht bestritten. Aber: Zu Ende gedacht, müssen Vertreter einer solchen Haltung Kunstwerke aus dem öffentlichen Raum ganz verbannen, sofern ihnen das Potential zugeschrieben werden könnte, dass sie jemand als verletzend empfinden könnte. In letzter Konsequenz dürften Werke der Kunst nur mehr in Galerien und Museen genannten Ghettos präsentiert werden, mit Warnhinweisen am Eingang – wie es bei Spezialkliniken für hochinfektiöse Krankheiten der Fall ist.
Purifiziertes Lust-Ich
Das seine eigenen Regungen auf das Kunstwerk projizierende, das Kunstwerk als „Rezeptakulum seiner Affekte“ missbrauchende Subjekt, das Adorno kritisierte und dessen „Kunstauffassung“ uns in den letzten Jahren immer häufiger – und exemplarisch in der Göttinger Mensa-Affäre – begegnet, erinnert an Freuds „purifiziertes Lust-Ich“, das sich die
„Objekte [der Außenwelt] insofern sie Lustquellen sind“ einverleibt, zugleich alles abstößt, „was ihm im eigenen Inneren Unlustanlaß“ 34
wird. Zwar scheint es Freud hier um den gegenläufigen Mechanismus zu gehen (ein Ich, das sich lustvolle Objekte einverleibt, während die Subjekte, an die Adorno denkt, umgekehrt, ihre eigenen Affekte auf das Kunstwerk projizieren). Bei genauerer Betrachtung beschreibt Adorno aber lediglich eine Variante der selben „Wohlfühlstrategie“, die auch Freud im Blick hat. Eine Strategie, der das ursprüngliche „Real-Ich“, wie es bei Freud heißt (das zwischen Innen- und Außenwelt noch nach objektiven Kriterien zu unterscheiden weiß), in der Konfrontation mit den Objekten der Außenwelt – in unserem Fall in der Konfrontation mit Werken der Kunst – folgt, um sich dabei in eben jenes purifizierte Lust-Ich zu verwandeln, dem
„die Außenwelt [...] in einen Lustanteil [zerfällt], den es sich einverleibt hat, und einen Rest, der ihm fremd bleibt.“35
Bei Adorno projiziert das Subjekt, das er kritisiert, – lustvolle – Affekte auf das Kunstwerk („Der Bürger wünscht die Kunst üppig ...“), um sich diese dann im Sinne des purifizierten Lust-Ichs – lustvoll einzuverleiben.
„Die üblichen Convenus halten es mit der Kunst ganz ähnlich wie mit den Frauen. Die Kunst soll [...] etwas sein, was von der Anstrengung möglichst entbindet, sowie der Spießbürger von der Frau oder auch von der Geliebten erwartet, daß er sich bei ihr erholen, jeder Anstrengung ledig werden darf.“36
wird fortgesetzt
28 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 2016, S.197
29 Ebd.
30 Ebd. S.293
31 Ebd.
32 Ebd. S. 271
33
https://www.goettinger-tageblatt.de/Nachrichten/Kultur/Regional/Ausstellung-geschmackssache-nach-Beschwerden-abgehaengt
34 Sigmund Freud, Triebe und Triebschicksale. In ders., Gesammelte Werke, Bd. X, Frankfurt am Main 1999, S.228
35 Ebd.
36 Adorno, Ästhetik (Vorlesungen 1958/59), S. 296