Sonntag, 8. Januar 2012

"Dabei schreiben wir doch schon 1806!"

Wenn der Zug der Geschichte in den Abgrund führt, wie Benjamin meint, dann haben die Revolutionen im Iran nicht die Notbremse gezogen, sie sind - im Gegenteil - aufs Gas gestiegen.


Kämpfer der konstituionellen Revolution im Iran, 1905 bis 1911

Ein vor kurzem aus Teheran nach Wien emigrierter Freund - nennen wir ihn Kave - schloß einen Bericht über seine erste Begegnung mit dem Rassismus hierzulande mit den Worten: Das es so etwas noch gibt. Dabei schreiben wir doch schon 2011! Ich mußte an eine Szene aus der Verfilmung von Jane Austens Sense and Sensibilty denken, in der einer der Protagonisten, ähnlich empört wie mein Freund aus Teheran, ausruft: Dabei schreiben wir doch schon 1806! – woraufhin im Kino gelacht wurde.

Wären wir Teheraner nicht überaus höflich, und wäre mir der österreichische Rassismus aus eigener Erfahrung nicht allzu bekannt – ich hätte über das Doch-schon-2011 meines Freundes genauso gelacht wie über das Doch-schon-1806 im Kino. Das Gelächter über das Doch-schon-1806 im Kino hatte sich natürlich auf die Jahreszahl 1806 bezogen, wohingegen mein - aus Rücksicht unterdrücktes - Lachen über das Doch-schon-2011 meines Freundes mit dem Doch-schon zu tun gehabt hätte.

Hätte ich meine Rücksichtnahme beiseite geschoben und tatsächlich gelacht, hätte ich (nachdem ich fertig gelacht hätte) meinen belesenen und politisch interessierten Freund gefragt, wie er denn nach der iranischen Erfahrung der letzten einhundert Jahre an ein solches Doch-schon überhaupt glauben könne.

Wenn es nämlich ein Land gibt, das geeignet wäre, einen an diesem Doch-schon - am Gedanken also, es würde auf der Welt von Jahr zu Jahr freier, brüderlicher und gerechter, zugehen - irre werden zu lassen, ist es der Iran.

Vor einhundert Jahren erkämpften sich iranische Kaufleute, Handwerker, Intellektuelle, aber auch Teile des Klerus und der Aristokratie, während der blutigen, sogenannten konstitutionellen Revolution, 1905 bis 1911, ein Parlament und eine demokratische Verfassung nach belgischem Vorbild. Dabei kämpften und siegten sie gegen die absolut herrschenden Kajaren–Kaiser und ihrem Verbündeten, dem zaristischen Russland. Frauen(rechtlerinnen) spielten bei dieser - überwiegend säkularen - Revolution übrigens eine herausragende Rolle.

Unter der Pahlevi-Dynastie (1925 bis 1979), die die Kajaren ablöste, blieb die konstitutionell-demokratische Verfassung in Kraft. De facto waren die Pahlevi-Kaiser aber Dikatoren, und ihre Regime repressiver als die zum Teil schwachen Kajaren-Kaiser. Eine Ausnahme bildeten die Jahre 1941 bis 1953, die wohl demokratischste Periode in der Geschichte Irans, an deren Ende ein weiterer revolutionärer Schub stand: Die Bewegung zur Verstaatlichung des iranischen Erdöls, die mit dem Namen des damaligen Premierministers, Mohammad Mossadegh, verbunden ist. 1953 wurde Mossadegh gestürzt - danach begann die Diktatur des zweiten und letzten Pahlevi-Kaisers.

1979 kam es zur Islamischen Revolution – die entgegen anderslautender Gerüchte das Prädikat islamisch durchaus zurecht trägt, war sie doch von Anfang islamisch geprägt. Dennoch zielte die Mehrheit der Revolutionäre auf eine gerechtere und freie Gesellschaft. Was herauskam, ist bekannt. Nicht genug, daß die iranische Gesellschaft nicht freier wurde; daß Freiheiten, die es unter dem letzten Kaiser noch gab, etwa das Recht der Frauen auf Scheidung, oder das Sorgerecht für geschiedene Frauen, um nur zwei Beispiele zu nennen, abgeschafft wurden - in der Islamischen Republik erlebten die Iraner(innen) gänzlich neue - bzw. seit langem unbekannt gewesene - Dimensionen der Unfreiheit: Kopftuchzwang, die Todesstrafe für Homosexuelle, Steinigung bei außerehelicher Liebe, die Todesstrafe für den Abfall vom Islam, die Entrechtung hundertausender Angehöriger religiöser Minderheiten und anderes mehr. Unfreiheiten, die man sich im Iran der 1950er und 1960er Jahre nicht hätte vorstellen können, zum Teil vielleicht nicht einmal zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, zur Zeit der konstitutionellen Revolution.

Hier liegt allerdings eine doppelte Unvorstellbarkeit vor: Daß ein Ehemann in der Islamischen Republik seine Ehefrau, die er beim Ehebruch erwischt hat, ohne Strafverfolgung befürchten zu müssen, töten kann, 9-jährige Mädchen hingegen strafmündig sind – das hätte sich vor einhundert Jahren eine Frauenrechtlerin der konstitutionellen Revolution nicht vorstellen können. Umgekehrt können wir im Jahre 2011 uns nicht vorstellen, daß es Frauenrechtlerinnen im Iran vor einhundert Jahren überhaupt gab.
Wie wir uns ohnehin nicht vorstellen können, daß es in einem Land, in dem sich 1979 eine islamische Revolution ereignete, 1905 bis 1911 eine demokratisch-liberale stattgefunden haben soll.

Revolutionen sind für Marx die Lokomotiven der Weltgeschichte, die deren Grundtendenz zum Fortschritt – jenes Doch-schon meines Freundes Kave – noch beschleunigen sollen. Die iranische Erfahrung scheint Marx, und Kave, aber krass zu widersprechen. Und sie befindet sich dabei in allerbester Gesellschaft: Seit Jahren wird die Rede von der Revolution als Lokomotive fast nur mehr im Zusammenhang mit dem Widerspruch zitiert, die sie beim Literaturkritiker und Philosophen Walter Benjamin erfahren hat:

Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotiven der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind Revolutionen der Griff des in diesem Zuge reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.

Anders als für Marx ist für Benjamin Geschichte die Stätte des Unheils,

eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft,

und wenn denn geschichtlicher Fortschritt für Benjamin überhaupt einen Sinn hat, dann als ein Fortschreiten der Herrschenden von einem Sieg zum nächsten. So gesehen sollten uns Revolutionen nicht die Befreiung in der Geschichte bescheren, sondern die Erlösung von ihr.

Wird diese Geschichtstheorie Benjamins der iranischen Erfahrung gerechter als diejenige von Marx, und meines Freundes Kave? Was Marx‘ Geschichts-Optimismus - und Kaves Doch-schon – betrifft, bzw. Benjamins radikalen Pessimismus, scheint dies der Fall zu sein. Was vor einhundert Jahren so hoffnungsvoll begann, mit einem für ein islamisches Land des Jahres 1905 unmöglichen demokratischen Aufbruch, endete mit einem Im-Grunde-Unmöglichen anderer Art: Der Islamischen Republik.

Die Rolle der Revolutionen scheint Benjamin aber, zumindest was den Iran anbelangt, ebenso falsch einzuschätzen wie Marx. In den letzten einhundert Jahren scheint es im Iran nach jeder revolutionären Anstrengung noch schlimmer geworden zu sein. Die konstitutionelle Revolution mündete in die Diktatur des ersten, die Bewegung zur Verstaatlichung des Erdöls in die Diktatur des zweiten Pahlevi-Kaisers. Und die islamische Revolution in ein Mörderregime, das uns an das Universum eines perversen Fantasy-Autors erinnert.

Wenn der Zug der Geschichte in den Abgrund führt, wie Benjamin meint, dann haben die Revolutionen im Iran nicht die Notbremse gezogen, sie sind, ganz im Gegenteil, aufs Gas gestiegen. Das drängt sich zumindest im Fall der islamischen Revolution auf.

wird fortgesetzt