Ende der 90er habe ich, angeregt durch meinen Freund, den Publizisten Iradj Haschemizadeh, die Erzählung Der Autobus nach Schemiran der iranischen Autorin Goli Taraghi ins Deutsche übertragen.
Hier der erste Teil der Geschichte.
Aber bevor ich's vergesse: Einen Text zu veröffentlichen, der von einem Teheraner Busfahrer handelt, ohne über die anhaltende brutale Unterdrückung der Teheraner Busfahrergewerkschaft durch das Teheraner Regime zu schreiben, ist fast ein Verbrechen -
Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es das Schweigen über so viele Untaten einschließt!
Der dort ruhig über die Straße geht
Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde
Die in Not sind?
(Bert Brecht)
2005 wurde bei der Teheraner Busgesellschaft nach Jahrzehnten wieder eine unabhängige Gewerkschaft gegründet. Diese wurde dann auch - aus Unzufriedenheit mit ihren miserablen Arbeitsbedingungen - von vielen der über 17.000 Beschäftigten der Gesellschaft aktiv unterstützt. In den darauffolgenden Monaten kam es zu Repressalien des Regimes gegen Gewerkschafter und deren Sympathisanten. Bis Dezember 2005 wurden 29 Gewerkschafter verhaftet und in das als Folterzentrum bekannte Evin-Gefängnis eingewiesen. Am 25.Dezember wurden jedoch nach einem Busfahrerstreik alle Inhaftierten - bis auf den Gewerkschaftsvorsitzenden, Mansur Osanloo - wieder freigelassen. Da die Behörden sich weigerten, auch Osanloo freizulassen, rief die Gewerkschaft für den 28. Januar 2006 zum Streik auf - eine ernsthafte Herausforderung für das Regime, bedenkt man, daß ein lückenloser Busfahrerstreik die 12-Millionen-Metropole Teheran lahmlegen könnte...
Am 27. Jaunar wurden 100 Personen festgenommen, am folgenden Tag 1000 weitere Personen, darunter einfache Beschäftigte, Ehefrauen und sogar Kinder (!), wie etwa die 12-jährige Tochter eines Gewerkschaftsmitglieds, die geschlagen und anschließend brutal in einen Polizeibus geworfen wurde ... Sicherheitskräfte und Vertreter der Busgesllschaft bedrohten die Fahrer, schlugen sie und zwangen sie an ihren Arbeitsplatz zurück. Rund 30 der Verhafteten wurden schwer verletzt und mußten ärztlich behandelt werden.
(Quelle: Jährliche Übersicht über Verletzungen der Gewerkschaftsrechte des Internationalen Gewerkschaftsbunds)
Über den weiteren Fortgang der Ereignisse werde ich in den folgenden posts berichten.
Jetzt aber der erste Teil von
Der Autobus nach Shemiran
Der Autobus der Linie 70 fährt uns davon. Meine kleine Tochter läuft ihm nach, gibt noch vor der Kurve auf und bleibt stehen. Wir warten auf den nächsten. Plötzlich hat es zu schneien begonnen. Ein staubiger Schimmer erfüllt die Luft, das Tohuwabohu der Stadt vergeht, es wird angenehm still. Alles ist weiß, sanft und ruhig. Passanten verschwinden wie phantasierte Schatten im Nebel, Häuser und Bäume verschwimmen. Acht Jahre leben wir schon in Paris und haben noch nie einen solchen Schnee erlebt. Ich höre die Großmutter:
"Die Engel dort oben machen Hausputz. Sie wischen den Staub von den Wolken und kehren die Himmelsteppiche."
Ich denke an die Winter in Teheran, an das hohe, weiße Elbursgebirge unter dem Himmel aus Türkis, an die nackten Bäume in unserem Garten, die eingeschlafenen Bäume, die versunken sind in einem Traum von der Rückkehr der Zugvögel.
In den Tagen der Kindheit wollte der Schnee, war er einmal da, nicht aufhören zu fallen. Es schneite - am Samstag, am Sonntag, am Montag, ich zählte die Tage, am Dienstag, am Mittwoch, am Donnerstag. Zehn, zwanzig Zentimeter, einen halben Meter, bis die Türen zugefroren waren und wir schneefrei hatten, eine Woche lang.
Welch unglaubliches Glück! Eine Woche am Morgen im Bett bleiben dürfen, eine Woche mit tausend Kousins und Kousinen auf der Straße spielen, eine Woche ohne Angst vor der Schuldirektorin, oder dem griesgrämigen Mathematiklehrer. Eine Woche ohne das Lesenmüssen von Büchern, die dich müde und krank machen, und ohne Hausübungen, eine Woche ohne das Auswendiglernen von langen Gedichten voller Unsinn, und kalligraphischen Übungen mit schwarzer Tinte.
Wie glücklich ich war, wenn wir Gäste hatten, und der Schnee die Straßen versperrte und all die Leute zwei drei Nächte in unserem Haus verbringen mußten. Zu den Dauergästen unseres Hauses zählten folgenden Personen:
- Meine geliebte, magere Großmutter, die Tag und Nacht betete und Gott ständig um Geld, Gesundheit und ein langes Leben für uns bat.
- Bibijan,die schwerhörige, altersschwachsinnige Tante der Mutter, die mich für meinen Bruder, meinen Bruder für meinen Kousin, meinen Kousin für den Sohn des Nachbarn und den Sohn des Nachban für mich hielt.
- Die wunderbare Tante Asar, Mutter mehrerer kleiner Quälgeister, die in den Gängen des Hauses Bockhüpfen spielten, Türen, Wände, Bäume bekletterten, oder kreischend wie eine Horde wilder Affen das Treppengeländer hinunterrutschten.
- Onkel Ahmad Chan, der sanftmütigste Zahnarzt der Welt, dem es das Herz brach, wenn er jemanden einen Zahn ziehen mußte, und der mit den Tränen kämpfte, wenn eines von uns Kindern weinte.- Mein Großonkel, Offizier der Artillerie, der sich vor Pferden, Gewehren und Kanonen fürchtete und bald nach seinem Eintritt in die Armee die Offizierskluft gegen eine Schürze eingetauscht hatte, und zuhause die herrlichsten Konfitüren machte und Wollpullover strickte.
- Die dicke, faule Tuba Chanom schließlich, die seltsame Geschichten erzählte, mit Djinns und Geistern in Verbindung stand und hexen konnte.
Sie alle blieben in unserem Haus bis der Schnee geschmolzen war. Ich liebte die Zimmer mit den vielen Menschen, die Teppiche, auf denen nebeneinander Matratzen lagen, die Unmengen verschiedenster Leckereien auf den Tischen: Die Karafen mit Scharbat, die Schalen mit Granatäpfeln, Scholehsard, Pistazien, Sohan, Isfahaner Gaz und dem köstlichen Baklava meiner Mutter.
In den Gängen unseres Hauses schlängelten sich tausend Düfte, die mich beglückten und verwirrten. Der Tobak in der Wasserpfeife der Großmutter, die Dämpfe der Kräutertees der Bibijan, der Duft des Safrans auf dem warmen Reis, der Duft von Zimt und Kümmel, von Rosenwasser, gebratenen Zwiebeln und halbverbrannten Kababspießen auf heißer Kohle. Ich liebte es, mit dem Getuschel der Erwachsenen und ihrem heimlichen Lachen, das aus den Nebenzimmern drang, einzuschlafen, lauschte dem weichen Klang des Tars meines jüngeren Onkels, dem süßen Sing-Sang meiner Tante Asar, dem Klappern der Pantoffel der Mutter auf den Treppen - und schlief ein. Mitternachts wachte ich auf. Die Lichter brannten, die Erwachsenen waren noch wach, von der Küche her hörte ich das Kommen und Gehen, das Klirren von Deckeln und Töpfen und schlief wieder ein, schlief einen Schlaf leichter als der Flug eines verspielten Papierdrachens.
Heute abend schaue ich wieder dem Schneetreiben zu, glücklich und verzückt, wie in den Tagen der Kindheit. Auch meine Tochter ist hellauf begeistert, wirbelt herum, wirft von ihren kleinen Händen geformte Schneebälle um sich. Immer wieder hüpft sie auf die Straße - sie kann die Ankuft des 70ers nicht erwarten. Ihre Ungeduld erinnert mich an das Rasen meines damals noch kleinen Herzens, als ich abends, nach Schulschluß, ängstlich, mit auf das Ende der Straße fixierten Blicken auf meinen Freund Asis-Agha wartete.
Ich schaue hinauf und öffne den Mund, bis ich die Schneeflocken auf meiner Zunge spüre. Sie schmecken herrlich und duften wie tausend Jasminblätter aus den Gärten des Himmels. Ich spüre, wie meine Füße den Boden verlieren. Ich schwimme in der Luft und finde mich in einer Glaskugel wieder, die ein geheimer Atem zurückbläst entlang der Zeit.
Ich schaue hin. Ich bin zehn. An der Kreuzung nahe der Schule warte ich auf den Bus nach Schemiran. Unser Haus liegt am Ende der Welt. Wir leben zwischen Hügeln und leeren Grundstücken. Es gibt keine Nachbarn. Manchmal hört man nachts die Schakale heulen. Meine Muttre fürchtet sich dann. Hassan Agha, unser Koch, fürchtet sich auch und legt seine Matratze auf den Gang vor die Zimmertüre des Vaters. Ich liebe dieses Haus mitten im Nichts. Mir machen sie keine Angst, die große Wasserzisterne, der Swimmingpool mit den vielen Kröten, die schwarzen Schatten der Bäume, die aussehen wie Bösewichte. Hinter den Buchsbäumen liegt mein Versteck. Ich horte meinen Vorrat unter den Ziegeln. Die Schularbeiten, bei denen ich durchgefallen bin, vergrabe ich, aus Angst vor der Mutter.
Die weißen Pappeln sind meine Spielgefährten. Jede hat ihren Namen. Die höheren sind Jungen. Wenn ich von der Schule komme, werfe ich die Schultasche hin und laufe zu ihnen, erzähle ihnen, wie mein Tag war, ezige ihnen die Zeichnungen, lese ihnen aus meinem Persischbuch vor. Manche Bäume sind dumm und gähnen gelangweilt, manche, die Neidischen, Bösartigen, hören mir mit Absicht nicht zu. Meine Freunde unter den Bäumen küsse ich und klebe ihnen meine eben noch gekauten Kaugummis auf ihre Blätter. Die, die schlechtes hinter mit hergeredet haben, schlage ich und binde ihre Zweige mit einem Seil aneinander.
Die Busfahrt zur Firus-Kuhi-Schule dauert über eine Stunde. Mein älterer Bruder darf den Schul- und Nachhauseweg alleine gehen. Ich aber muß Hand in Hand mit Hassan Agha zur Schule. Ohne seine Erlaubnis dürfte ich nicht einen einzigen Schritt machen. Ich mache aber, was ich will. Sollte Hassan Agha es wagen, mich bei der Mutter zu verpfeifen, mache ich ihn fertig. Ich weiß nämlich, daß er den vermißten Speisekammerschlüssel im Futter seiner Jacke versteckt hält. Wenn die Mutter außer Haus ist, nimmt er Linsen, Bohnen und Reis, soviel er nur kann, und verstaut es in der Kiste hinter dem Klohäuschen am Ende des Gartens. An seinen freien Tagen nimmt er alles mit nach Hause. Deshalb sind wir, Hassan Agha und ich, gleich stark und stehen einander nicht im Weg.
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