Replik auf einen
Kommentar Floris Biskamps zu einem Kapitel meines Buches „Respektverweigerung“
(1)
Mein Freund,
der deutsch-indische Philosoph Pravu Mazumdar, war nach der Publikation seines
ersten Buches über französische Gegenwartsphilosophie mit Reaktionen wie dieser
konfrontiert:
„Sie kommen
aus Indien? Welch wunderbare Kultur! Warum schreiben’s dann über französische
Philosophie? Schreiben’s doch über Indien!“
Noch vor
wenigen Jahrzehnten bedeutete Weltoffenheit gegenüber Fremden, dass man ihnen versicherte, sie seien unabhängig von ihrer Herkunft, „ihrer
Kultur“ oder ihrer (tatsächlichen oder vermeintlichen) Religion in unserer
Gesellschaft willkommen. Fremdenfeindliche Ressentiments
hingegen waren stets mit der Betonung
der Herkunft und der „Kultur“ des Angefeindeten verknüpft. Heute sitzt die
Vorstellung, dass Fremde in erster Linie „ihre Kultur“ repräsentieren, oder zu
repräsentieren haben – und dann lange nichts –, offenbar so tief, dass auch
Weltoffene und Wohlmeinende nicht ohne ausdrückliche Betonung der „Kultur“
jener Fremden auszukommen scheinen. Diese „fremden Kulturen“ – und nicht die
Individuen, die ihnen subsummiert werden – sollten wir, so die unausgesprochene
Devise der neuen „Weltoffenheit“, respektieren.
Diesem kulturalistischen Diskurs ist offenbar auch
der kürzlich publizierte Kommentar des Politologen Floris Biskamp zum ersten
Kapitel meines Essaybands „Respektverweigerung: Warum wir fremde Kulturen nicht
respektieren sollten. Und die eigene auch nicht“1 verpflichtet.2,
den ich in diesem und den folgenden Blogbeiträgen meinerseits
kommentierten möchte.
Von kleinlichen Kämpfen und der „wahren
Größe des Islam“
Biskamp
behauptet zunächst, mein Text würde die Schwierigkeiten Linker und Liberaler3
beim Reden über den Islam als Ausdruck einer „innere[n] Blockade in [deren]
Köpfen“ betrachten. „Diese unterwürfen sich selbst zu Unrecht einem Tabu
in Bezug auf das Sprechen über Religion im Allgemeinen und den Islam im
Besonderen.“ Biskamp selbst hingegen „sehe darin ein reales äußeres Dilemma:
Wer unter den gegebenen Umständen das, was in islamischen Kontexten
kritikwürdig ist, öffentlich kritisiert, läuft Gefahr, gewollt oder ungewollt
zur Verbündeten von FPÖ, Stürzenberger und Co. zu werden. Wer dagegen FPÖ,
Stürzenberger und Co. für ihre ‚islamkritische’ Positionen kritisiert [...],
läuft Gefahr, die Kritik an dem, was in islamischen Kontexten wirklich
kritikwürdig ist, zu unterminieren.“ „Alle, denen es um die Freiheit und
Gleichheit aller geht“ fordert Biskamp auf, „dieses Dilemma ernst zu nehmen und
die eigene Praxis vor diesem Hintergrund zu reflektieren.“ – wobei er meinem
Text implizit vorwirft, eben dies nicht zu tun, jenes Dilemma nicht ernst zu
nehmen und „die eigene Praxis“ nicht – oder zu wenig – zu reflektieren.
Biskamp suggeriert
hier – zum einen –, dass der linke Diskurs über den Islam ausschließlich in Zusammenhang mit dem Diskurs der
neuen Rechten existiert, so dass die Probleme der Linken beim Denken und
beim Reden über den Islam lediglich im Kontext ihrer Konfrontation mit den Rassisten von FPÖ, AfD und Co. entstehen
würden. Zum anderen fasst er „das Innere“, also das, was wir den „psychischen
Innenraum“ nennen, und das „Äußere“, womit er offenbar das Sprechen in
gesellschaftlichen und politischen Zusammenhängen meint, als unvermittelt
nebeneinander existierende Realitätsfelder auf.
Beides ist
nachweislich falsch.
Zunächst: Wenn
zutreffen sollte, dass sich die Schwierigkeiten der Linken im Umgang mit dem
Islam auf Schwierigkeiten im Umgang mit den neuen Rassisten beschränken, müsste
uns das in Sorge versetzen. Sorge über den Zustand einer Linken, die den
Rassisten die Diskurshoheit überlassen hat und deren eigener Beitrag zur aktuellen
Debatte – einem Pawlowschen Hund
gleich – lediglich aus Reflexen auf den Diskurs der Rechten besteht.
Allerdings
hält die Behauptung, der linke Islam-Diskurs würde bloß auf den Islam-Diskurs
der Rechten reagieren, schon einer oberflächlichen Überprüfung nicht stand. Was
die erwähnte Sorge aber nicht zu zerstreuen vermag, sie im Gegenteil verstärkt.
Exemplarisch
seien die Positionen einiger – untereinander durchaus unterschiedlicher –
Vertreter des linken Spektrums erwähnt, die sich mit der islamischen Revolution
im Iran im Besonderen und mit dem sogenannten politischen Islam im Allgemeinen solidarisch
zeigten oder zeigen. Oder in der
Islamischen Republik Iran einen strategischen Verbündeten sehen:
- Jener
iranischen Linken etwa, die am 8. März 1979, wenige Wochen nach dem Sieg der
islamischen Revolution, im Gleichklang mit den Schlägerbanden der „Partei
Gottes“, zehntausenden iranischen Frauen, die gegen die drohende Einführung des
Kopftuchzwangs demonstrierten, den Mund verbieten wollten. Mit dem Argument:
Sie mögen, bitte, ihren kleinlichen Kampf gegen religiöse Bevormundung bleiben
lassen, um das „große antiimperialistische Bündnis“ mit Khomeini, dem Führer
der islamischen Revolution, von dem viele iranische Linke phantasierten, nicht
zu gefährden.4
- Oder: Jener „Antiimperialisten“, die wann immer von
Menschenrechtsverletzungen in der Islamischen Republik Iran die Rede ist, diese
verharmlosen, relativieren oder verteidigen. Und den Iran, in dem ein brutaler,
mafiös durchwachsener Kapitalismus herrscht, als „antikapitalistische Insel“ im
kapitalistischen Weltsystem halluzinieren.
- Oder: John Rose, der
Nahostexperte der Socialist Worker Party,
der größten Gruppierung der radikalen britischen Linken, der 2009, am Höhepunkt
der Massenproteste im Iran, seine volle Unterstützung für die islamische
Revolution bekundete.5
- Auch der linke Theoretiker Slavoj
Zizek, an sich ein scharfsichtiger innerer Kritiker der Linken, scheint
eine Schwäche für den sogenannten politischen Islam zu haben. So schreibt er
etwa in seinem Buch „Auf verlorenem Posten“, er sei „versucht, zu behaupten“,
dass der Islam „seine wahre Größe [...] aus seiner [potentiellen] politischen
Anwendbarkeit“6 beziehe.
- Oder: Der verstorbene venezolanische Präsident Hugo Chavez, der dem Iran wörtlich seinen „bedingungslosen
Beistand“ im Kampf gegen den Imperialismus zusicherte – und bis zu seinem Tod
herzliche Beziehungen zu Irans Ex-Präsident Ahmadinejad pflegte.
Die Liste
ließe sich beliebig fortsetzen.
Mit jenem
Dilemma der Linken im Umgang mit dem Islamdiskurs von AfD, FPÖ und Co., von dem
Biskamp spricht, dürften die Positionen von Chavez, Rose, Zizek oder der
iranischen Linken eher nicht in Zusammenhang stehen.
Versuchen wir jedoch
diese und andere linke Positionen „in Sachen Islam“ vor dem Hintergrund gesellschaftlicher
Entwicklungen seit den 1970er Jahren – und ihrer Wechselwirkung mit linkem Denken und Handeln – zu verstehen,
könnte dieser unser Versuch – umgekehrt – ein Licht auf die Frage werfen, wie es denn kommt, dass viele Linke
heute auf den neuen Rassismus von FPÖ und Co. so und nicht anders reagieren, dass sie sich also angesichts des Islamdiskurses der
neuen Rassisten in jenes „äußere Dilemma“ versetzt fühlen, das Biskamp in
Stellung bringt. Dass sie glauben, dass jedes kritische Reden über den Islam –
oder überhaupt jedes Reden über den
Islam – die Position der neuen Rassisten stärken könnte. Fragen, die Biskamp – hier
jedenfalls – gar nicht stellt.
Identität statt Klasse
Über die
ökonomischen und sozialen Hintergründe der Veränderung linken Bewusstseins und
linker Praxis seit den 1970er Jahren schreibt der linke Theoretiker Sami
Alkayial:
„Mit
dem Eintreten der kapitalistischen Gesellschaften in das postindustrielle
Zeitalter ging die schwindende Bedeutung der Arbeiterklasse in der sozialen
Produktion einher. Die Schließung der Fabriken und Minen in den
Industriestädten Großbritanniens oder im deutschen Ruhrgebiet stellte das Ende
einer Welt dar, der die traditionelle Linke angehörte. In einem Kapitalismus
der ‚flexiblen Akkumulation’, [...] der sich auf kleinere Produktionsstätten
bezieht und in dem der Dienstleistungssektor sowie die Produktion von
Konsumgütern, Informationen und Kommunikationsmitteln eine viel größere Rolle
spielen, gibt es keinen Raum mehr für eine leitende oder breit vertretene Klasse“7.
Hinzuzufügen wären hier noch das „Strukturellwerden“ der Arbeitslosigkeit seit den
1970ern – nicht zuletzt in Zusammenhang mit der neuen Globalisierung, die ganze
Industriezweige in Niedriglohnländer abwandern ließ.
Alles das führte zu einer existentiellen Krise im Denken und
Handeln der Linken. Bis dahin war die Emanzipation der Arbeiterklasse im linken
Bewusstsein eng mit jener der ganzen
Gesellschaft verknüpft – also auch mit
jener anderer unterdrückter Gruppen, etwa der Frauen oder der Afroamerikaner in
den USA.8 Mit
der „schwindende[n] Bedeutung der Arbeiterklasse in der sozialen Produktion“ begann
sich nun die Verbindung zwischen den Anliegen jener unterdrückten Gruppen und den
Forderungen der Arbeiterklasse im Denken und im Handeln progressiver Akteure aufzulösen.
Und je mehr die Arbeiterklasse an „diskursivem Gewicht“ verlor, umso
gewichtiger schienen die Anliegen jener marginalisierten Gruppen.
Mehr noch: Mit
der Aufgabe des Konzepts einer leitenden Klasse verblasste nicht bloß die Idee
der Emanzipation der Arbeiterklasse als „Schlüsselprojekt“ innerhalb des
Gesamtprojekts der Emanzipation der Gesellschaft – sondern die Idee der
Befreiung der (ganzen) Gesellschaft als
solche.
Konzepte,
welche die gesamte Gesellschaft und deren Emanzipation im Blick hatten, wurden
ebenso wie klassentheoretische Ansätze und Begriffe durch Konzepte und Begriffe
in Zusammenhang mit jenen marginalisierten Gruppen – namentlich der „Identität“
jener Gruppen – verdrängt. Es kam, mit Alkayial zu sprechen, zu einem Austausch
von „Klassenkonzepten durch identitär
geprägte Profile [Hervorhebung von
mir]“9. Das war die Geburtsstunde der Identitätspolitik.10
Regressiv
oder Progressiv?
Aber halt. Erinnern uns Begriffe wie „identiär“ und „Identität“
– man denke bloß an die „Identitären“ – nicht eher an den rechten Diskurs? Tatsächlich werden immer wieder Stimmen laut –
zuletzt etwa in Zusammenhang mit dem Erfolg der AfD in der deutschen
Bundestagswahl 2017 – die meinen, die neue Rechte verwende linke
identitätspolitische Zutaten, um daraus ihr eigenes identitätspolitisches
Süppchen zu kochen.11
Wie dem auch sei. Parallelen zwischen „progressiven“
identitätspolitischen und regressiven „ethnopluralistischen“ Ansätzen fallen
jedenfalls immer wieder ins Auge – Stichwort: „cultural apppropriation“,
genauer: die Kritik an dieser.
„Der
Studierendenrat der University of Ottawa entschied im November [2015] einen
kostenlosen Kurs auszusetzen, den eine Yoga-Lehrerin zuvor über mehrere Jahre
angeboten hatte. Grund: Die Kultur, von der Yoga ‚übernommen’ wurde, hätte in
der Vergangenheit Imperialismus und westliche Beherrschung erlitten. Die
Universität müsse daher Sensibilität beweisen, argumentierten
Studentenvertreter“.12
In einem von Norbert Hofer – dem Kandidaten der
rechtsextremen FPÖ für das Amt des österreichischen Bundespräsidenten im Jahre
2016 – herausgegebenen Buch „Für ein freies Österreich“ heißt es über Yoga:
„Yoga: ... wo
das Fremde [...] beginnt, das Eigene zu verdrängen [...] ist der Bestand dieser
Kultur akut gefährdet; die zwanghafte Suche nach exotischen Reizen, bei
gleichzeitiger Diskreditierung des bewährten, gewohnten Eigenen, ist ein
weiteres Indiz der Selbstaufgabe“.13
Während in unserem Beispiel – eines von zahlreichen möglichen
– die Mitglieder des Studierendenrates der Universität Ottawa, die sich selbst
wohl eher dem progressiven linken Spektrum zuordnen würden als dem regressiven
rechten, einen Yogakurs aussetzen, um die „indische Kultur“ zu beschützen, will
der rechtsextreme Autor Michael Howanietz Yoga zurückdängen, um die
„österreichische Kultur“ zu beschützen. Interessieren soll uns aber nicht, dass
beide, die progressiven Studierenden in Kanada und der rechtsextreme Autor in
Österreich, gegen Yoga vom Leder ziehen – sondern der identitätspolitische Kulturalismus, der sie verbindet. Ein
Kulturalismus, in dem Gesellschaft durch
unauflösliche Differenzen kollektiver „kultureller Identitäten“ – hier der
indischen und der österreichischen – geprägt zu sein scheint, in dem Widersprüche
zwischen verschiedenen sozialen Klassen ein und derselben „Kultur“ oder
zwischen Individuen und „ihrer“ Kultur keinen Platz haben – und in dem Subjekte
so sehr mit „ihrer“ Kultur identifiziert werden, dass sie als Subjekte im
Diskurs zu existieren aufhören.
Islam als Natureigenschaft
Identitätspolitisches
Denken dieser Art, das heute nicht bloß den linken und den neuen rechten,
sondern die Gesamtheit gesellschaftlicher, politischer und kultureller Diskurse
zu beherrschen scheint, zeigt sich auch und gerade in der Rolle, die in
aktuellen Debatten dem Islam zukommt.
Dass Menschen aus Ländern oder Regionen wie der Türkei, dem
arabischen Raum oder Nordafrika in allererster Linie als Muslime wahrgenommen werden - mehr noch: als Repräsentanten des
Islam, respektive der „islamischen Kultur“, ist ein relativ neues Phänomen. Ältere
linke Freunde von mir, die sich während des algerischen Unabhängigkeitskrieges
1954 bis 1962 mit der algerischen Befreiungsbewegung solidarisierten, berichten
etwa, dass ihnen die Tatsache, dass
die Mehrheit der Algerier bekennende Muslime waren, damals mehr als irrelevant
erschien. Noch in den 1990er Jahren behauptete
– um ein anderes Beispiel zu nennen – der Diskurs der Rassisten in Deutschland
und in Österreich, die Türken würden „uns“ deshalb Probleme bereiten, weil sie eben
Türken seien. Seit dem Erstarken des sogenannten politischen Islam, vor allem seit
den Anschlägen von Nine Eleven behaupten die Vertreter des neuen rassistischen Diskurses, die Türken (die Araber, die
Nordafrikaner ...) würden „uns“ Probleme bereiten – weil sie Muslime seien. Der Islam gilt diesem
Diskurs nicht mehr bloß als Glaubensbekenntnis, zu dem sich jemand bekennen mag
oder auch nicht, sondern als eine Art Natureigenschaft von Türken, Arabern oder
Iranern – mit welcher diese „voll identifiziert“ werden.
Paradoxerweise bleiben aber auch die – wohlwollenden und
weltoffenen – linken und liberalen Gegner
des neuen Rassismus, statt die falsche, weil fixe Verknüpfung zwischen einem
Glaubensbekenntnis und bestimmten Gesellschaften oder Individuen zu benennen
und zu dekonstruieren, bei den Identitätsvorgaben der Rassisten: Wer nicht müde
wird, „Islamophobie“ oder „Islamfeindschaft“ als rassistisch zu bezeichnen (oder
den neuen Rassismus als „antimuslimisch“ zu etikettieren), erklärt den Islam, ohne
es zu bemerken, zu einer „rassischen“, quasi genetischen Eigenschaft von
Arabern, Türken oder Iranern. Und reproduziert, statt sie zu bekämpfen, die
rassistische Ideologie der „vollen Identität“ zwischen bestimmten Individuen
und der imaginären Kategorie Islam – imaginär, weil es sich hier um
Glaubensvorstellungen handelt.
An dieser Stelle würde Biskamp einwenden – und diesem Einwand
bin ich auch in anderen Diskussionen oft begegnet –, dass sich die Rede von „Islamophobie“
oder von „antimuslimischem Rassismus“ auf den Diskurs der neuen Rassisten
bezöge. Dass also das Wortteil „Islam“ in Islamophobie und das Wortteil
„muslimisch“ in „antimuslimisch“ nicht auf eine real existierende Gruppe
sondern eben auf die Rede der Rassisten verwiesen. Nehmen wir an, es wäre so.
Dann wäre es dennoch falsch, beim Reden über den neuen rassistischen Diskurs stets
bei den Identitätsvorgaben der Rassisten zu bleiben – statt ihre identitären
Begriffe zu dekonstruieren.
Wir würden allerdings einem gründlichen Missverständnis
aufsitzen, wenn wir Begriffe wie „Islamophobie“, „antimuslimischer Rassismus“
oder „Islamfeindschaft“ ausschließlich – oder auch nur in erster Linie – vor
dem Hintergrund der Auseinandersetzungen linker Antirassisten mit den neuen
Rassisten verorteten. Und dabei den Zusammenhang zwischen „Islamophobie“,
„antimuslimischer Rassismus“ etc. und
jenen kulturalistischen und identitätspolitischen Prämissen übersehen, die den
linken Diskurs – abseits und
unabhängig von Debatten mit FPÖ, AfD und Co. – seit Jahren dominieren.
Die
erste Kaisermühlnerin in der Bundesregierung
Dass die auf identitätspolitisches Denken gründende volle Identifizierung
von Gesellschaften und Subjekten mit dem Islam keineswegs auf einen Abwehrreflex
gegen den Diskurs der neuen Rassisten reduziert werden kann, wie Biskamp suggeriert,
ließe sich an zahllosen Beispielen zeigen.
- An Muna Duzdar etwa – Staatssekretärin
in der österreichischen Bundesregierung mit palästinensischem
„Migrationshintergrund“ und laut Selbstdefinition „nicht praktizierende Muslima“.
Muna Duzdar wird regelmäßig – auch in linksliberalen Qualitätsmedien wie dem
STANDARD – auf ihr tatsächliches oder vermeintliches „Muslimsein“ reduziert und
mit diesem ihrem tatsächlichen oder vermeintlichen „Muslimsein“ voll
identifiziert.
„STANDARD: Sie sind das erste Regierungsmitglied mit
muslimischem Glauben [..].“
Duzdar: Es ist richtig, dass ich einen muslimischen
Background habe, aber warum muss ich darüber definiert werden? Ich bin nicht
deswegen Staatssekretärin. Genauso [...] bin ich auch die erste Kaisermühlnerin14
in der Bundesregierung. Beides ist bemerkenswert, aber es ist nicht die
Hauptsache“.15
Als Staatssekretärin ist Duzdar u.a. für Beamte und für Digitalisierung
zuständig – das scheint aber kaum jemanden zu interessieren, auch den
linksliberalen STANDARD nicht. In Berichten über sie oder in Interviews mit ihr
geht es denn auch fast ausschließlich um den Islam – oder genauer: um Integration, Migration, Terror. Als
tatsächliche oder vermeintliche, aus „dem Orient“ stammende Muslima, repräsentiert
Duzdar in allererster Linie den Islam, und dann lange nichts. Das ist –
auch von Liberalen und Linken kultivierter – Kulturalismus in Reinkultur, der
mit jenem „äußeren Dilemma“, das Biskamp in Stellung bringt, in keinem
Zusammenhang steht.
- Oder: Das Buch „Der Islam braucht eine sexuelle Revolution“16
der mutigen deutsch-türkischen Feministin Seyran Ates – auch sie würde sich
wohl eher dem linken bzw. linksliberalen Spektrum zuordnen. Ein Buch, das der
Sehnsucht vieler junger Menschen in islamisch geprägten Gesellschaften nach all
dem, was sie mit dem Begriff „sexuelle Revolution“ in Verbindung bringen, eine
Stimme verleiht. „Der Islam braucht eine sexuelle Revolution“ beruft sich auf
das Werk „Die sexuelle Revolution“ des Freud-Schülers und Psychoanalyse-Kritikers
Wilhelm Reich. Für Reich und für Freud lagen die Ursachen für das von ihnen
kritisierte sexuelle Elend in gesellschaftlich bedingten psychischen Faktoren.
Der Religion schrieben sie in diesem Zusammenhang die Rolle eines gewichtigen krankmachenden
Faktors zu. Weit davon entfernt diesen Faktor reformieren oder „revolutionieren“
zu wollen, lehnten sie Religion in jeder Form ab. Der Gedanke an eine sexuelle
Revolution „im Christentum“ wäre ihnen
mehr als absurd vorgekommen. Wenn nun Ates – im Unterschied zu Reich und zu
Freud – nicht für eine sexuelle Revolution in Gesellschaften mit islamischer Bevölkerungsmehrheit plädiert,
sondern ausdrücklich für eine Revolution im Islam,
verneint sie implizit die Möglichkeit, dass in jenen Gesellschaften außerhalb
der Sphäre des Islam so etwas wie „Gesellschaft“ überhaupt existiert. Zwischen Gesellschaften
mit islamischer Bevölkerungsmehrheit und dem Islam besteht für Ates offenbar volle
Identität. Als existierte „dort“ nichts
außerhalb der Sphäre des Islam – nicht einmal auf begrifflicher Ebene. Und:
Auch Ates bezieht diese ihre Position wohl eher nicht in Reaktion auf den
Diskurs von Rassisten der Marke FPÖ, AfD etc.
Der Logik der vollen Identifizierung von islamisch geprägten Gesellschaften mit dem Islam, die uns hier begegnet, entspricht übrigens auch jener - nicht nur - in linken und liberalen Debatten des Westens weit verbreitete unausgesprochene Ansatz, islamisch geprägte Gesellschaften könnten
einzig und allein über eine
Erneuerung des Islam den Weg zu einer modernen, demokratischen Gesellschaft finden.
Und nicht etwa durch eine Säkularisierung jener Gesellschaften, die der
Religion von außen den Platz zuweist,
der ihr in einer modernen, säkularen Demokratie zukommen sollte.
Laizismus als Unterabteilung des Islam
Um diese Beispielreihe – die sich beliebig fortsetzen ließe
– abzuschließen: Ich war unlängst Gast bei einem linken Lesezirkel in einer
österreichischen Provinzstadt. Als die Runde auf das Thema „verschiedene Varianten
des Islam“ zu sprechen kam, führte ein Teilnehmer als Beleg für die Existenz
eben dieses Variantenreichtums im Islam wörtlich „die laizistische Türkei“ an. Die
türkische Gesellschaft, respektive der türkische Staat stellt für jenen
Diskussionsteilnehmer also offenbar eine Unterabteilung
des Islam dar – auch wenn er sie selbst (zu Recht oder zu Unrecht –
Stichwort: Erdogan) als laizistisch bezeichnet (als laizistisch gelten auf die
strenge Trennung von Staat und Religion gründende Staatsmodelle).
Nun könnte man einwenden, dass unser linker
Diskussionsteilnehmer das Thema „Variantenreichtum im Islam“ – also die Formel
„Den Islam gibt es nicht“ – in Reaktion auf den Diskurs der neuen
Rassisten in Stellung gebracht habe, so dass wir einen Zusammenhang zu dem von
Biskamp geschilderten Dilemma herstellen könnten. Dass unser Diskutant aber gar
nicht mehr vom Islam redet, sondern die türkische
Gesellschaft mit dem Islam identifiziert, ist aus jenem Dilemma allerdings
nicht abzuleiten.
Auch hier zeigt sich, dass die für den Islam-Diskurs der
Linken (der Liberalen, der Rechten, der Grünen, der Konservativen ...) typische kulturalistische Ideologie
der vollen Identifizierung keineswegs aus jenem von Biskamp geschilderten
„äußeren Dilemma“ resultiert.
Umgekehrt
könnte uns aber die Analyse linker identitätspolitischer Positionen zu
verstehen helfen, wie es kommt, dass viele Linke glauben, ihr (kritisches) Reden über den Islam könnte die Position
der Rassisten stärken: Wer, wie jener Diskurssteilnehmer, ganze Gesellschaften
mit islamischer Bevölkerungsmehrheit – d.h. alle vermeintlichen oder auch
tatsächlichen Muslime aus jenen Ländern und Regionen – voll mit dem Islam
identifiziert, geht ja unausgesprochen davon aus, dass Menschen mit ihrer
(vermeintlichen oder tatsächlichen) Religion „vollkommen eins“ sind. Dass der
Islam also nicht bloß ein Glaubensbekenntnis darstellt, sondern das „Sein“
dieser Subjekte ausmacht. Dann allerdings ist es nur konsequent, Kritik an der
islamischen Glaubenslehre oder Glaubenspraxis – oder gar deren Ablehnung – als
rassistisch zu empfinden. Und anzunehmen, sie könnte die FPÖ, AfD und Co. im
politischen Kampf stärken.
Hier könnte allerdings ein fatales Missverständnis vorliegen.
Die Grüne Akademie eines österreichischen Bundeslandes hatte mich eingeladen,
einen Vortrag unter dem Titel „Warum wir über den Islam nicht reden können“ zu
halten. Der Vortrag fand drei Tage nach den österreichischen Parlamentswahlen
am 15. Oktober 2017 statt. Wie mir berichtet wurde, hatte es ein Vertreter der
Grünen Landesparteileitung der Grünen Akademie untersagt, die Veranstaltung vor
dem Wahlsonntag zu bewerben. Es wurden keine Plakate gedruckt, vor dem
Wahlsonntag fehlte auch im Internet jeder Hinweis auf die Veranstaltung. Der
Vertreter der Landesparteileitung, der über den Inhalt des Vortrags nichts
wusste, hatte einfach nur Angst, dass die Öffentlichkeit unmittelbar vor den
Wahlen die Grünen mit dem Begriff „Islam“ in Verbindung bringen könnte.
Politische Beobachter gehen davon aus, dass die Angst der
Grünen, am Thema „Islam“ auch nur anzustreifen – der Begriff Tabu-Angst drängt sich hier unabweislich auf –, nicht
unwesentlich dazu beigetragen hat, dass sie heute nicht mehr im
österreichischen Parlament vertreten sind.17
In den folgenden Beiträgen wird es unter anderem um die
These gehen, dass im Diskurs der neuen Rassisten das Reden über den „Islam“ das
Reden über „die Türken“ ersetzt hat – eine These, die Biskamp gründlich
missversteht. Und darum, dass er jene Phänomene, die er im Blick hat, wenn er
von „antimuslimischem Rassismus“ spricht, zwar zu Recht rassistisch nennt. Dass er aber von dieser spezifischen
Form des Rassismus keinen Begriff hat, weil er (hier jedenfalls) die Frage, inwiefern es sich bei den Positionen von
FPÖ. AfD und Co. „in Sachen Islam “ um Rassismus handelt – und nicht etwa um
religiösen Hass oder um Religionskritik – gar nicht stellt.
wird
fortgesetzt
1 Sama Maani, Warum
wir über den Islam nicht reden können. In: ders., Respektverweigerung:
Warum wir fremde Kulturen nicht respektieren sollten. Und die eigene auch nicht,
Klagenfurt 2015, S. 7
2 Floris
Biskamp, Misstraut Euch! Warum Sama Maani es der
linken „Islamkritik“ zu einfach macht.
3 Biskamp bezieht sich auf den linken und den liberalen Diskurs – mein Fokus
liegt im folgenden, nicht zuletzt aus Platzgründen, vor allem auf dem Denken
und Reden der Linken über den Islam.
4 Die hier beschriebene Position vieler
iranischer Linker erinnert an die
alte, in linken Debatten immer wieder reproduzierte Rede vom
„Hauptwiderspruch“ – i.e. der Klassengesellschaft (wobei der Kampf gegen den
„Imperialismus“ in den Debatten jener Tage den Klassenkampf in den Hintergrund
gedrängt haben mag) – und vom „Nebenwiderspruch“, etwa der Frauenunterdrückung. Tatsächlich
mischten sich im Diskurs jener Linken, die vom „antiimperialistischen Bündnis“
mit Khomeini träumten, klassische linke Positionen mit neuen islamisch-identitätspolitischen.
Besonders augenscheinlich zeigte sich dies in der Ideologie der Volksmujahedin,
die sich als „islamische Marxisten“ verstanden, aber auch in den Positionen der
moskautreuen Tudehpartei. Beide Gruppen wurden in weiterer Folge von den neuen
islamischen Machthabern kaltgestellt.
5
Eric Lee, Marx steht auf dem Kopf,
Jungle World, 27. August 2009
6
Slavoj Zizek, Auf verlorenem Posten,
Frankfurt am Main 2008, S. 87 f
7
Sami Alkayial, Der Krieg in Syrien und die Krise linker
Traditionen.
8 Um Missverständnisse zu vermeiden: Die
„alten“ Positionen der Klassentheorie sollen hier keineswegs idealisiert werden.
Auch an ihnen gäbe es einiges zu kritisieren. Darum geht es hier aber nicht.
9 Sami Alkayial, Der Krieg in Syrien und die Krise linker Traditionen.
10 Vgl. Sama Maani, „Obama ist nicht schwarz“: Die Krux mit der Identitätspolitik. Der
Standard, 27. Februar 2017
11 http://www.zeit.de/kultur/2017-09/identitaetspolitik-bundestagswahl-queere-people-of-color-frauen
12 Marcus Latton, Jedem Stamm seine Bräuche, Jungle World, 1. September 2016
13
https://www.fischundfleisch.com/gabriele-szekatsch/die-welt-des-norbert-hofer-und-wie-er-oesterreich-so-in-ordnung-saehe-28163
14 Kaisermühlen ist ein Stadtteil Wiens im 22. Wiener
Gemeindebezirk.
15
http://derstandard.at/2000037370159/Staatssekretaerin-Duzdar-kritisiert-unfaire-Integrationspolitik
16 Seyran Ates, Der Islam braucht eine sexuelle Revolution, Berlin 2009
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