Freitag, 26. Juli 2019

Zizek in Teheran (182)

  پاییز مراغه_عکس از هادی سیفی 
Ich weiß nicht
Wie lange er fortfährt
Kardan zu sagen
D.h.
Daß er eh nicht Kardan sagt
Sondern Mord
Ich aber höre
Immer nur
Kardan
Bis er
Den Ton verändert
Als hätte er es gemerkt
Von amtlich
Auf sanft. 

Du kennst den Begriff
Starke Materie? 

Ja
Sage ich
Diesmal ohne zu zögern. 

Weißt du auch
Was für eine Starke Materie es war
Die du
Bei dem Selbstversuch
Verwendet hast?

Starke Materie
LeserIn
Ist die Erinnerung
An jenes Erlebnis
Das im

Haus des Vergessens
Der Bibliothek
Der in der Sprache Teherans verfaßten Bücher
Des Internats Islamischer Mädchen
Die Erinnerung des Mädchens
An sein Lieblingsbuch
Verdrängen soll
So daß es den Inhalt
Ihres Lieblingsbuches vergessen
Und es wieder lesen
Und genießen kann
Als läse sie es
Zum ersten Mal. 

Stark
Wird die Starke Materie genannt
Weil der Inhalt
Des zu vergessenden Buches
Dem Mädchen
Unter allen Büchern
Das es gelesen
Den stärksten Eindruck gemacht hat
So daß es
Um jenes intensive Erlebnis
Des Lesens
Zu verdrängen
Eines noch intensiveren Erlebnisses bedarf
Genauer
Der Erinnerung an ein noch intensiveres Erlebnis. 

Weißt du noch
Welche Starke Materie es war
Die du
Verwendet hast?

Nein
Sage ich
Ohne zu zögern. 

Ich gebe dir
Einen Tipp.
Kennst du den
Palast der ...

Danesch
Scheint seinerseits
Ein Gedächtnisproblem zu haben
Oder versucht
Ein solches
Vorzutäuschen
Um weiß ich was
Für einen Effekt zu erzielen. 

Palast der Jugend
Schießt es aus mir heraus
Wie im Triumph
Als wäre ich
Über jede neu auftauchende
Erinnerung
Genauso glücklich
Wie Danesch.

An den Palast der Jugend
Habe ich
So wie an die Manavi-Villa
Eine Kindheitserinnerung.
Nein
Zwei.

 
Der

Palast der Jugend
Ist ein Park
Im Norden von Nord-Teheran
Respektive war
Gegründet vom Kaiser himself
In dem sich ein Schwimmbad befand
Sowie mehrere
Große und kleine Gebäude
Turnhallen, Konzert- und Theatersäle, Werkstätten, ein Kino
Die während der Revolution
Zerstört worden sind
D.h. großteils
Konzipiert
Wie es hieß
Als Ort
Des Gesunden Vergnügens.

Damals war
Das größte Idol
(Hätte beinah Idiol gesagt)
Der Jugend
In Teheran
Weder der Paul
McCartney
Noch der John Lennon
Noch auch Mick Jagger
Sondern

Al Bano
Aka Albano Carissi.
Der 1967
In

Nel sole
Die Hauptrolle spielte
Einem Musicarello
Der
Mit der üblichen Verzögerung
Auch bei uns In Teheran lief
Unter dem Titel

Jugend unter der Sonne

(In den illustren deutschen Büchern der Narges
Namentlich in den

Predigten des Carl Immanuel Ribich
Fand ich die folgende
Erbauliche Stelle
„Du wirst nichts neueres erfahren
O Jugend, unter der Sonne,
Als das kündlich große Geheimnis der Herzen
Gott geoffenbaret im Fleisch.“)

Die Romanze zwischen Al Bano
Und der (damals
Sechzehnjährigen)

Romina Power
Tochter des
1958 jung verstorbenen
US-Schauspielers

Tyron Power
Welche in Nel Sole die weibliche Hauptrolle spielte
Hatte
(Trotz des Widerstands der beiden Familien)
Schon bei den Dreharbeiten begonnen
Mündete 1970
In eine Ehe
Und wurde
Für sämtliche Romanzen
Im Teheran der späten Sechziger
(Und frühen Siebziger) Jahre
Zum Vorbild.

1970 kamen Al Bano und Romina Power nach Teheran
Und gaben ein Open-Air-Konzert
Im Palast der Jugend
Der sich ganz in der Nähe
Jenes Mehrparteienhauses befand
Welches ich in der Straße der Philantropie
Im Norden von Nord-Teheran
Zusammen mit meinen Eltern bewohnte
Ich war sechs oder sieben
Im Hochparterre lebten die Großeltern mütterlicherseits
Zusammen mit meinem Onkel
Huschang
Ihrem jüngsten Sohn
Damals vierzehn.

Am Abend des Konzerts
Standen Huschang und ich
An der Mauer des Palastes der Jugend
Die nicht gerade sehr hoch war
Obwohl mir der Huschang unendlich alt erschien
War ihm der Zutritt wohl aus Gründen des Alters verwehrt
Ich als Sechsjähriger oder sieben
Durfte ohnehin nicht hinein
Obwohl ich
Aufgrund des ununterbrochenen Schwärmens des pubertierenden Huschang
(Er hatte sich Jugend unter der Sonne ich weiß nicht wie oft angeschaut)
Meines zarten Knabenalters zum Trotz
Zum fanatischen Anhänger Al Banos geworden war.

Der Onkel Huschang war fest
Fast athletisch und groß
Wenn auch geringfügig dick
Ich dagegen sehr zart
Er machte mir die Räuberleiter
Im Süden von Teheran auch Spitzbubenleiter genannt
Ich trat ihm auf die
Vor dem Bauch verschränkten Hände
Dann auf die Schultern
Um zum ersten Mal
Aber nicht zum letzten
Das weitläufige
Parkähnliche
Areal
Des Palastes der Jugend zu sehen.

Es war dunkel
Aber nicht ganz
Meine Erinnerung zeigt keine Open-Air-Bühne
Dafür Laternen
Und Glühbirnen
An den Platanen
Ich sehe den Al Bano von hinten
In einem grauen oder braunen Sakko
Ich weiß es nicht mehr
Umgeben von Fans
Ohne Romina Power
Die um ihn herum
Einen Kreis bilden
Ohne ihn zu bedrängen.

Ich habe mich immer gefragt
Was der Huschang
Damals nicht gerade für seine Selbstlosigkeit bekannt
(Aber nenn mir einen
Für seine Selbstlosigkeit bekannten Pubertierenden
LeserIn)
Ich habe mich immer gefragt
Was der Huschang
Davon hatte
Mir die Räuberleiter zu machen
Damit ich
Einen Blick auf seinen
Über alles geliebten
Al Bano erhasche.

Soweit die erste Erinnerung.

In der zweiten
Stehe ich wieder
Mit Huschang
An der Mauer des Palastes der Jugend
Ich bin siebzehn
Und der mittlerweile in London studierende
Und auf Besuch in Teheran weilende
Huschang 
Ist immer noch fest, fast athletisch
Und geringfügig dick
Ich
Trotz siebzehn
Immer noch zart
Die Islamischen haben mittlerweile die Macht übernommen
Und die Gebäude des Palastes der Jugend
Großteils zerstört
Huschang und ich haben vorhin
Eine Cousine besucht
In der Straße der Philanthropie
Welche in der ehemaligen Wohnung
Der Großeltern lebt
Gott habe sie selig
Jetzt geraten wir
Flanierend
Und mehr oder weniger zufällig
An jene Stelle
Der Mauer
Des Palastes der Jugend
An der mir damals
Der Huschang
Am Abend des Al Bano-Konzerts

Die Räuberleiter gemacht hatte. 

Weißt du noch
Sagen wir
Unisono
Und brechen sogleich
In ein lautes, nicht enden wollendes
Gelächter aus
Respektive hauen uns
Wie der Grazer gesagt haben würde
Ordentlich ab.

Auf einmal verschränkt
Der inzwischen noch athletischer gewordene
Huschang
Die Hände vor seinem Bauch
Und bedeutet mir
Daß ich
So wie damals
Auf seine
Ineinander verschränkte Hände
Klettern soll
Ich war inzwischen
Natürlich gewachsen und ein wenig robuster
Huschangs Zuwachs an Robustheit
War jedoch ungleich stärker
Als meiner
Ich kletterte also
(Mein lautes nicht enden wollendes Gelächter fortsetzend)
Auf Huschangs ineinander verschlungene Finger
Dann auf seine athletischen Schultern
Und sah
Zum zweiten
Und letzten Mal
Den Palast der Jugend.

Es war ein Nachmittag im Herbst
Aber warm.
So warm
Daß man
Straßencafés frequentieren hätte können
Wenn es denn
Straßencafés
Eineinhalb Jahre nach ihrer Revolution
Noch gegeben hätte.

Auch die Cafés im Park
Des Palastes der Jugend
Gab es nicht mehr
Oder hatte es
Gar nie gegeben
Neben der Mauer
Steht rechts
In einem Abstand
Von
Sagen wir
Fünfzig Metern
Ein Gewächshaus aus Trübglas und Stahl
Das es damals
Beim Al Bano-Konzert
Noch nicht gab
Oder es gab es
Aber ich hatte es nicht bemerkt.
Das Gewächshaus war höher
Als die niedrige
Den Park des Palastes der Jugend umgebende
Mauer
Aber vor den Blicken von Außen
Durch eine dichte Mauer
Aus Bäumen
Geschützt.

Links vom Gewächshaus
Aus Trübglas und Stahl
Saßen
Auf fünf
Grün-metallic farbene
Klappsessel
Fünf junge Frauen
Um nicht Mädchen zu sagen
Eine hübscher als die andere
Möchte ich sagen
Stimmt aber nicht
Weil ich mich
An ihre Gesichter
Nicht zu erinnern vermag
Nicht bloß
Weil es sich um die Erinnerung
An etwas handelt
Das Jahre zurückliegt
Sondern wegen einer anderen
Älteren
(Aber keineswegs alten!)
Frau
Die ebenfalls auf einem der Klappsessel saß
Und deren Gesicht ich erkannte
Ich war mir sicher
Daß ich sie kannte
Ohne zu wissen
Woher.

Seltsamerweise
Faszinierte mich
Der Anblick der etwas älteren
Frau.
So sehr
(Oder es war der Anblick
Des ganzen Ensembles
Bestehend aus den jüngeren Frauen
Und der älteren)
Daß ich von Huschangs Schultern
Auf die
Nicht allzu hohe
Den Palast der Jugend umgebende
Mauer kletterte
Was den Huschang
Trotz seines athletischen Körpers
Aber geringfügig dick
Zu einem deutlich vernehmbaren Stöhnen veranlaßte.
Aber er sagte nichts.

Die etwas ältere
Frau
Nannte ich für mich
Die Professorin
Ohne zu wissen
Respektive mich daran zu erinnern
(Denn ich hatte es einmal gewußt)
Daß es sich bei ihr tatsächlich um eine Professorin handelte
Die berühmte
Bita Bamdadi
Professorin für Geophysik und Begründerin der

Meteorologie
In Teheran.

Die Professorin und die Mädchen
Schienen guter Dinge zu sein
Sie lachten
Wenn auch nicht so laut
Und nicht enden wollend
Wie wir
Ich hörte allerdings
Mit dem Lachen
Sobald ich die Professorin
Und die Mädchen bemerkt hatte
Auf
Daraufhin auch der Huschang.
Die Ausgelassenheit der Mädchen
Und der Professorin
Wunderte mich
Und daß sie
Scheinbar
So unbekümmert
Auf den grün-metallic farbenen Klappsesseln saßen
Und lachten
Es gab Gerüchte
Wonach sich in jenen Gebäuden
Des Palastes der Jugend
Welche die Islamischen nicht niedergebrannt hatten
Die Büros diverser Revolutionskomitees befanden
Und Räume
In denen
Politische Gefangene
Untergebracht waren.

Auf einmal kamen
Ich weiß nicht woher
Drei Blaue daher
(Damals womöglich bereits
Wächter der Revolution der Islamischen
Genannt
Ich weiß es nicht mehr)
Zwei
Stellten sich
Hinter dem Sessel der Professorin auf
Während der eine
Links von ihr
Halb in die Knie ging
Und leise und voller Ehrerbietung
Zu sprechen begann. 

Leise
Sage ich jetzt
Da ich alles weiß.
Wohingegen ich damals
Nichts wußte.
Und
Ob die Mädchen oder die Professorin
Oder die mittlerweile bereits
Wächter der Revolution der Islamischen
Genannten
Laut oder leise sprachen
Konnte ich aus jener Entfernung natürlich nicht hören
Außer es hätte eine respektive einer von ihnen
Gebrüllt. 

Voller Ehrerbietung
Dachte ich aber schon damals
Da ich nichts wußte.

Jetzt weiß ich alles
Und denke
Wann immer ich
An die Professorin
Und die Mädchen
Und die sogenannten Wächter der Revolution der Islamischen
Denke
An die Novemberrevolution
(In Stuttgart
Von der mir Elsa erzählt hat
Die deutsche Mutter der Narges
Oder habe ich es
In einem der illustren deutschen Bücher der Narges gelesen?
Ich weiß es nicht mehr)
An die Novemberrevolution
In Stuttgart
Die
In den Palast des Königs
Wilhelms Il
Dem vierten und letzten König des Königreichs Württemberg
Eingedrungenen Revolutionäre
Hatten
Auf dem Dach die rote Fahne gehisst.
Dem König sagten sie
Der Legende nach
Voller Ehrerbietung und leise
Entschuldigen Sie bitte, Herr König, wir haben jetzt Revolution. 

Aber
Schluß jetzt.
Mit lustig.
Bahai-Sein in Teheran
Ist alles andre als lustig.

Die Professorin und Geophysikerin
Und Begründerin der Meteorologie
In Teheran
War Mitglied
Ich habe es später erfahren
Des

Nationalen Rates der Baha’i in Teheran. 

wird fortgesetzt

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