So. Jetzt ein weiteres Fragment aus dem Roman "Ungläubig"
(Arbeitstitel). Dieses Fragment ist in der Literaturzeitschrift
"Wespennest" erschienen (Nr. 144) und kann als eine Art Fortsetzung des ersten - weiter *unten* geposteten - Fragments gelesen werden. Ich weiß aber noch nicht, ob es im fertigen Roman tatsächlich nach dem ersten Fragment plaziert werden wird.
P.S.: Kann mir bitte jemand sagen, wie man auf so einem Weblog Texte "verbergen" kann, so daß man zu den Romanfragmenten per Mausklick gelangen kann - und sie nicht so verdammt viel Platz wegnehmen? Schaut doch idiotisch (ad Idiot: Siehe auch die erste Zeile meines ersten posts), resp. unprofessionell aus im Moment.
Arasch Bastani an Veronika Wundt
Sehr geehrte Veronika Wundt,
In den sechziger Jahren war das Rainer das Stammcafé der Teheraner in Graz, Anhängern wie Nicht-Anhängern der Glaubensgemeinschaft, und also auch meiner Eltern. Damals hieß das Café Rainer Columbia, und heute noch sagen die Eltern und andere Teheraner in Graz Columbia und meinen das Rainer.
Auch ich studiere und lese im Rainer, als läge mir das Im-Café-Rainer-Sitzen in der DNA, das Studieren und Lesen im Rainer sind streng voneinander getrennt, ich studiere Medizin, die Medizin interessiert mich nicht, ich studiere sie bloß aus Rücksicht auf die Glaubensgemeinschaft, es heißt in den Schriften der Glaubensgemeinschaft, der Gläubige soll, um der Menschheit zu dienen, etwas nützliches lernen, mein Vater, Architekt und Städteplaner in Teheran, baute in den Siebziger Jahren ein Bürohochhaus nach dem anderen und Industrie-Satelittenstädte, der Bau einer Industrie-Satelittenstadt im Süden von Teheran löste die Revolution aus, in deren Verlauf sie den Kaiser verjagten. Es heißt in den Schriften der Glaubensgemeinschaft, der Gläubige soll sich nicht mit Wissenschaften befassen, die mit Worten beginnen und enden, auf meine - seit meiner Kindheit immer wieder an sie herangetragene - Frage, auf welche Wissenschaften sich die Schriftstelle konkret bezöge, geben mir der Großvater und die Eltern seit Jahren unterschiedliche, sich widersprechende Antworten.
Daß allerdings die Schriftstelle auf alle Wissenschaften, die ich gerne studiert hätte, Anwendung fände,
Geschichte,
Philosophie,
Germanistik,
Teheranistik,
darüber sind sich alle drei einig, Frau Wundt.
Ich studiere und lese im Rainer, das Lesen und das Studieren sind streng voneinander getrennt. Die Medizin interessiert mich nicht. In der braunen Studiertasche, die ich bei mir habe, wann immer ich die Peinlichgassenwohnung verlasse, befinden sich außer den medizinischen auch andere Bücher, die Studiertasche ist eine Arzttasche, ein Geschenk meines Onkels Kurosch, Arzt in Ohio, Chirurg und Psychiater. Das Schicksal, so Onkel Kurosch, seines Bruders, des verschollenen Danusch, hätte ihn derart erschüttert, daß er - ursprünglich Chirurg und Allgemeinarzt - vom chirurgischen Fach ins Psychiatrische übergewechselt sei, ein in der Geschichte der Medizin noch nie da gewesener Fall, wie Kurosch behauptet, Frau Wundt. Von den medizinischen Büchern abgesehen sind in der altvaterischen, aus England stammenden Tasche - Onkel Kurosch lebte in den späten Fünfzigern als Allgemeinarzt in Indonesien, in den frühen Sechzigern als Chirurg im britischen Ipswich und ließ sich Ende der Sechziger in Ohio zum Psychiater ausbilden - in der altvaterischen, aus England stammenden Tasche sind abgesehen von den medizinischen lauter literarische Bücher, die ich, um geistig nicht zu verblöden, und als Ausgleich zur Medizin, immer mitführe, Diderot, Edgar Alan Poe, Dostojewskji, E.T.A. Hoffmann, Flaubert, Steinbeck, Camus und ein Büchlein mit dem Titel Deutsche Verskunde. Im Café Rainer packe ich sie aus, meine literarischen Bücher, und lege sie, einzeln oder aufeinander gestapelt, auf den Cafétisch, als Gegengift, um das Medizin-Skriptum, ob das Lesen literarischer Bücher dem Studium jener Wissenschaften gleichkommt, die laut den Schriften der Glaubensgemeinschaft mit Worten beginnen und enden, kann ich nicht sagen. Immerhin wird in der Glaubensgemeinschaft mitunter die Ansicht vertreten, gerade die literarischen Bücher würden mit Worten beginnen und enden, Frau Wundt, einmal allerdings endete bei mir das Lesen eines literarischen Buches mit einer Tat.
Schon war er an der Tür, als diese plötzlich aufging und in dem hellen Schimmer der Weihnachtslichter ein junges, glänzend gekleidetes Frauenzimmer vor ihm stand.
Klein und zwar etwas kleiner als gerade recht, war das Frauenzimmer, dabei aber sehr fein und zierlich gebaut. Ihr Antlitz, sonst schön geformt und voller Ausdruck, erhielt aber dadurch etwas Fremdes, daß die Augäpfel stärker waren und die schwarzen feingezeichneten Augenbraunen höher standen als gewöhnlich. Gekleidet oder vielmehr geputzt war das Dämchen, als käme es soeben vom Ball. Ein Diadem blitzte in den schwarzen Haaren, reiche Kanten bedeckten nur halb den vollen Busen, das lila und gelb gegatterte Kleid von schwerer Seide schmiegte sich um den schlanken Leib ...
Ich war neunzehn, als ich in der Wohnung des Buchbinders Lämmerhirt im Meister Floh des E.T.A. Hoffmann zum ersten Mal Dörtje Elverdink begegnete, Dr. Wundt, und die Redensart jemandem versetze etwas einen Stich im Herzen war mir gut vertraut. Man hätte mir, glaubte ich, solche Stiche-im-Herzen schon öfters versetzt, als Kind in Teheran zum Beispiel, als mich Großvater, Mutter und Vater mit der Ketzerei Onkel Danuschs konfrontiert hatten. Jetzt aber, als ich beim Lesen des Floh Dörtje Elverdink begegnete, ohne darauf im geringsten vorbereitet zu sein, jetzt aber wurden zur selben Zeit mehrere meiner Organe von einer Kolik befallen –
nicht nur
mein Herz,
auch mein Magen,
mein Kopf,
meine Gedärme,
mein Unterleib,
meine Nieren, Frau Wundt,
und ich stürzte in ein immer bizarrer werdendes Delir. Ich wälzte mich auf dem Bett im Kinderzimmer in der Peinlichgassenwohnung (ich lese, wann immer ich in der Peinlichgassenwohnung lese, im Kinderzimmer auf dem Bett) und begann in einer Art Schmerzenstrance Hanna Mohn zu rufen, immer wieder Hanna Mohn. Ich war nämlich im Roman E.T.A. Hoffmanns in Wahrheit Hanna Mohn begegnet – wiederbegegnet - als hätte sich E.T.A. Hoffmann Dörtje Elverdink vor hundertundneunzig Jahren nur deshalb ausgedacht, damit sich Hanna Mohn hundertundneunzig Jahre danach wieder in mein Herz einschleichen konnte.
Hanna Mohn, Frau Wundt, war meine große Liebe gewesen. Ich hatte sie an einem für die Jahreszeit zu heißen Sonntag im Juni verlassen, eineinhalb Jahre bevor ich ihr im Meister Floh als Dörtje Elverdink wiedebegegnete. Ich lag im Bett, mein Körper wand sich in kolikartigen Schmerzen, die Schmerzen allerdings wurden schwächer, je mehr ich in dem Delir versank, das immer bizarrer wurde, das Delir hatte die Wirkung einer Ganzkörperbetäubung - und nach und nach verwandelte sich die Ganzkörperkolik in eine Ganzkörperlust. Ich wälzte mich auf dem Kinderzimmerbett in der Peinlichgassenwohnung - nunmehr aus Lust - plötzlich glaubte ich, Hanna Mohn zu riechen. Aber Hanna Mohn, soweit ich mich erinnern konnte, hatte nach gar nichts gerochen, oder nach beinahe nichts. Denn zwischen dem, was man, um ein Beispiel zu nennen, am zarten Nacken Hanna Mohns roch, und einem absoluten Nicht-Geruch gab es dann doch einen - wenn auch minimalen - Unterschied, Dr. Wundt. Ich lag auf dem Bett im Kinderzimmer der Peinlichgassenwohnung und starrte in die Reclam-Ausgabe des Meister Floh, wie Dreizehnjährige gebannt und pubertierend in ein pornographisches Magazin hineinstarren, plötzlich glaubte ich, Hanna Mohns Minimalgeruch riechen zu können, intensiver als ich ihn je hatte riechen können, als wir ein Liebespaar waren, plötzlich schmeckte ich Hanna Mohns Lippen, ich hatte Hanna Mohns Lippen nur einmal gekostet, im Stadpark, da waren sie dunkelblau gewesen, im Winter, wie Schwarzbeeren, und kalt, Hanna Mohn hatte gefroren, und schmeckten wie Schwarzbeeren, süßsauer.
Hanna Mohn war die Kousine meines Kameraden Klaus Zinck, meines einzigen Freundes im Gymnasium am Hummelplatz, Dr. Wundt, das ich besuchte, nachdem mich die Eltern mit dreizehn von Teheran nach Graz gebracht hatten. Die anderen der KameradInnen in der Klassengemeinschaft hatten nichts mit mir zu tun haben wollen, sei es, weil ich aus Teheran kam, sei es, weil ich mit ihnen nichts zu tun haben wollte, ich hatte aber als Angehöriger der Glaubensgemeinschaft missionarische Pflichten - vor allem, aber nicht nur in der Schule. Ich war im Missionieren nicht gut, Dr. Wundt. Hin und wieder lud ich einen Kameraden zu einem Wahrheitsabend ein, die Freie Wahrheitssuche ist eines der Hauptprinzipien der Glaubensgemeinschaft, der Mensch, so die Glaubensgemeinschaft, soll nicht blind dem Glauben seiner Vorfahren folgen, vielmehr soll jeder die Wahrheit selbständig suchen, wo auch immer sie ihn hinführen mag. Die Feinde der Glaubensgemeinschaft in Teheran - Priester sowohl der alten Religion Teherans - werfen dieser vor, sie hätte die Freie Wahrheitssuche nur aus Konkurrenzgründen auf ihre Fahnen geschrieben, um Angehörige der alten Religion Teherans abzuwerben und sie der Glaubensgemeinschaft zuzuführen, Frau Wundt, als geistiges Frischfleisch sozusagen. Keineswegs, so die Feinde der Glaubensgemeinschaft, würde die Glaubensgemeinschaft die Freie Wahrheitssuche selbst praktizieren, denn die Kinder der Angehörigen der Glaubensgemeinschaft würden selbst wieder Angehörige der Glaubensgemeinschaft.
Klaus Zinck kam einmal zu einem Wahrheitsabend in die Peinlichgassenwohnung. Der Großvater und der Vater sprachen über den Glauben der Glaubensgemeinschaft, die Mutter – sie mußte an einer Sitzung des Komittees zur Missionierung von Graz und Umgebung teilnehmen - war nicht zuhause, der Großvater und der Vater sprachen über das Wahrheitssuche-Prinzip. Klaus Zinck, ein Kirchengeher, Frau Wundt, äußerst belesen und intelligent (er wollte später Franziskanermönch werden), interessierte sich für sämtliche Fragen des Glaubens und also auch für die Glaubensgemeinschaft. Ich hatte, wie immer bei Wahrheitsabenden, die Worte des Großvaters zu übersetzen - er sprach nur Teheranisch - ansonsten schwieg ich. Auch Zinck schwieg zunächst und folgte mit Interesse den Worten des Großvaters und des Vaters. Beim Reden wechselten der Großvater und der Vater einander ab. Sobald der eine innehielt, und sei es für eine Sekunde, begann sofort der andere zu reden, Frau Wundt, und hätte ihnen nicht ihr missionarischer Eifer ein Minimum an Disziplin abgenötigt, sie hätten , wie immer gleichzeitig geredet, und rücksichtslos gegeneinander.
Irgendwann verlor der Großvater den Faden, er war dabei, über den Unterschied zwischen den vielen Wahrheiten und der einen Wahrheit zu reden, auf das Verstummen des Großvaters hin, fing aber der Vater nicht wie gewöhnlich sofort zu reden an, er schien nachzudenken und ratlos, Frau Wundt. Es entstand ein Schweigen, und in dieses Schweigen hinein fing Klaus Zinck zu reden an. Er sprach über die Kirchenväter und die Theologen im Hochmittelalter, was er genau sagte, weiß ich nicht mehr, obwohl ich seine Worte ins Teheranische übersetzte. Den Großvater übrigens und den Vater beeindruckte die Belesenheit meines Kameraden auf das äußerste, irgendwann sagte Klaus Zinck etwas über die Ketzer, in welchem Zusammenhang weiß ich nicht mehr, und bevor ich dazukam, seine Worte ins Teheranische zu übersetzten, sagte der Vater, es gebe gar keine Ketzer und - es habe niemals Ketzer gegeben. Ich war verwirrt, Dr. Wundt. Ich schaute den Großvater an, dann den Vater, dann Zinck und auch in Klaus Zincks Gesicht war nichts als Verwirrung. Er räusperte sich und überlegte, dann sagte er, als hätte der Vater das gerade Geäußerte gar nicht geäußert, er lese gerade ein Buch, auf Französisch, über die Katharer im Frankreich im zwölften Jahrhundert. Irgendwann sagte er wieder Ketzer, und wieder sagte der Vater, bevor ich dazu kam, Klaus Zincks Worte ins Teheranische zu übersetzten, es gebe gar keine Ketzer und es habe niemals Ketzer gegeben. Diesmal dauerte die Verwirrung meines Kameraden nur kurz, er überging den offenbar sinnlosen Satz meines Vaters und sagte etwas über den Zusammenhang zwischen dem Katharertum und der, wie er sich ausdrückte, Bewegung der Minnesänger. Von da an unterließ es Zinck, das Wort Ketzer in den Mund zu nehmen - wohlweislich nehme ich an, Dr. Wundt. Dennoch redeten er und der Vater von da an aneinander vorbei, und der Großvater war von Zincks Belesenheit derart beeindruckt, daß er gar nichts mehr sagte. Der Wahrheitsabend war bald zu Ende, in der Nacht träumte ich von Echsen, von bunten und kleinen Spielzeug-Echsen aus Plastik, Frau Wundt, die eine nach der anderen lebendig und kleiner und größer wurden und als Kleingetier auf meiner Bettdecke herumkrabbelten, ich wachte auf, atemlos und in Panik, ich habe seit meiner Kindheit eine Ungeziefer-Phobie. Beim Frühstück meinte die Mutter, in der Nacht hätte ich immer wieder Hexe gebrüllt, sie korrigierte sich, nein, Hexer. Auf einmal - ich hatte gerade ein Messer in der Hand und eine Semmel, die ich halbieren wollte, ich beherrschte das Semmel-Halbieren nicht, genausowenig wie ich das Missionieren beherrschte, Frau Wundt, und hasste es, in Teheran mußte ich keine Semmel halbieren, und beide, die Semmel und das Messer, fielen mir aus der Hand, ich hatte kapiert, was passiert war. Der Vater hatte Ketzer mit Hexer verwechselt, so wie Mutter Echse mit Hexe und Hexe mit Hexer.
Die Glaubensgemeinschaft hat den Anspruch, eine aufgeklärte zu sein, in den Schriften wird der Aberglaube der alten Religionen verdammt und der Klerus der alten Religionen beschuldigt, Hüter des Aberglaubens zu sein – die Glaubensgemeinschaft selbst kennt keinen Klerus - und als schlimmsten Auswuchs in der, so die Glaubensgemeinschaft, an schlimmen Auswüchsen reichen Geschichte des Aberglaubens, bezeichnen die Schriften den Hexenwahn, Dr. Wundt.
Beim Wahrheitsabend hatte der Vater Ketzer mit Hexer verwechselt und im Kirchengeher Klaus Zinck ein Opfer des Kirchen-Aberglaubens gesehen, das es aufzuklären gelte, unter Hintanstellung des Gebots, der Gläubige habe beim Missionieren behutsam vorzugehen und in der ersten Phase der Missionierung überhaupt allem zuzustimmen, was der zu Missionierende sage.
Nach jenem Wahrheitsabend ging ich Klaus Zinck aus dem Weg, Dr. Wundt. Ich schämte mich. Ich fühlte mich unwillkürlich in Zincks Psyche versetzt und sah mich gezwungen, den Fehler des Vaters mit Zincks Augen zu sehen und als komplettes Sprachversagen empfinden zu müssen. Wann immer ich andere, Außenstehende, mit der Glaubensgemeinschaft massiv konfrontiert sehe, oder mit dem Teheranischen, fühle ich mich unwillkürlich in deren Psychen versetzt, Dr. Wundt, und meine, die Glaubensgemeinschaft oder das Teheranische mit den Augen dieser anderen zu sehen und schäme mich für den Glauben der Glaubensgemeinschaft und das Teheranische meiner Eltern. Mein Vater, der an deutschsprachigen Universitäten studiert und für die Glaubensgemeinschaft seit Jahren auf deutsch
missioniert,
Bücher geschrieben,
Vorträge gehalten
hatte, mein Vater schien das Deutsche perfekt zu beherrschen. Umso schändlicher mußte ich sein Sprachversagen empfinden und besonders angesichts der Beredsamkeit meines Freundes.
Am Wahrheitsabend hatte ich Zinck eine Karte für ein Konzert übergeben, ein Pop-Konzert im Heimatsaal in der Paulustorgasse. Es hatte sich um ein Konzert der missionarischen Popgruppe Morgenrot gehandelt, die aus mehr oder weniger jungen Angehörigen der Glaubensgemeinschaft bestand, Dr. Wundt, und Musik im Stil der frühen Siebziger machte, Flower-Power-Musik und Hippie-Musik sozusagen, aber keine, wie die Kameraden am Hummelplatz gesagt haben würden, Retro-Musik. Morgenrot war in den frühen siebziger Jahren entstanden und seither einfach dem Musikstil ihrer Gründerzeit treu, obwohl sämtliche Gründungsmitglieder mittlerweile aus ihr wieder ausgetreten waren und die Band jetzt aus mehr oder weniger jungen Angehörigen der Glaubensgemeinschaft bestand.
Klaus Zinck kam nicht zum Konzert in die Paulustorgasse. Er hatte nach dem Wahrheitsabend mein Vermeidungsverhalten registriert, mein phobisches, um nicht zu sagen hysterisches, Frau Dr. Wundt, und der Umstand, daß ich ihn mied, konnte ihm – wie die Kameraden sagen würden, nicht wurscht sein. Klaus Zinck war aber nicht nur für sein Alter ungewöhnlich belesen, er hatte auch noch andere ungewöhnliche Charakterigenschaften: Fein-, um nicht zu sagen Zartgefühl, Frau Wundt, Mitgefühl, Takt. Klaus Zinck hatte, ich kapierte es später, aus Takt mein Bedürfnis, mich von ihm ganz zurückzuziehen, respektiert, auch wenn er meine Motive nicht kannte, er sah aber auch, wie ich unter meinem Rückzug litt wie ein Hund und hatte Mitgefühl mit mir, mein Rückzug bedeutete ja den Verlust meines einzigen Freundes - Klaus Zinck kam nicht zum Pop-Konzert in die Paulustorgasse, aber aus Feingefühl, ich kapierte es später, aus Zartgefühl, schickte er Hanna Mohn.
[...]
Die Augen des Unbekannten versuchen, etwas zu sagen, ihnen auszuweichen gelingt nicht, etwas umständliches, aber was? Ich weiß es nicht, und mein Nicht-Wissen nervt und verwirrt mich, und meine Verwirrung wächst mit jedem Nachmittag im Café Rainer. Ich will dem Blick des Unbekannten ausweichen, fixiere den Umschlag des Patho-Skriptums auf dem Cafétisch, im grünen Glanz des Umschlags ist das Gesicht des Unbekannten als Erscheinung, ein entschlossenes Gesicht und häßlich, ich zögere aber, es häßlich zu nennen, als müßten mir die Glatze, der weiß gesprenkelte Bart und die Augen hinter der Hornbrille vertraut vorkommen und in ihrer Vertrautheit schön. Es ist das Gesicht eines italienischen Intellektuellen oder eines griechischen. Er kommt aus Teheran, ich weiß es, Frau Wundt. Vom Alter her könnte er mein Vater sein, hat also in den sechziger Jahren studiert, in Graz, wie ich annehme - alle Teheraner in Graz sind ehemalige Studenten - wenn er nicht erst nach der Revolution nach Graz gekommen ist, in deren Verlauf sie den Kaiser verjagten. Aber wie jemand, der nach der Revolution erst nach Graz gekommen ist, schaut er nicht aus, also hat er in Graz studiert wie die Eltern und also kennt er die Eltern. Ich muß aufs Klo. Wenn ich in Buchhandlungen mit Büchern konfrontiert bin, die mich reizen, befällt mich ein Stuhldrang, auch, wenn ich kurz davor scheißen war, das ist psychosomatisch, Frau Wundt, durch eine Art Jagdinstinkt auf Bücher ausgelöst, und seit ich mich im Oktober vorigen Jahres der Glaubensgemeinschaft durch mein Ungläubigwerden entzog, befällt mich der psychosomatische Stuhldrang auch dann, wenn ich - an Orten zum Beispiel wie dem Rainer - mit Frauen konfrontiert bin, die mich reizen. Verstehen Sie mich richtig, Frau Wundt. Als Anhänger der Glaubensgemeinschaft reizten mich Frauen und Mädchen genauso. Aber weil es in der Glaubensgemeinschaft vor der Ehe keinen Sex geben darf, lösten Frauen und Mädchen, die mich vor meinem Ungläubigwerden schon reizten, aufgrund meiner Glaubenserziehung bei mir keinen Jagdinstinkt aus, und also befiel mich als Anhänger der Glaubensgemeinschaft beim Anblick von reizenden Frauen kein Stuhldrang.
Ich war eben erst, vor einer halben Stunde erst, scheißen, jetzt wieder der Stuhldrang, also: psychsomatisch. Im ganzen Rainer aber keine einzige Frau, Dr. Wundt, auch meine literarischen Bücher können es nicht sein, den Jagdinstinkt und in weiterer Folge den Stuhldrang lösen ausschließlich Bücher aus, die ich nicht - oder noch nicht - besitze.
Ich komme vom Klo zurück und der Unbekannte ist weg. Es ist erst fünf, das überrascht mich, sonst bleibt er bis es dunkel wird – es ist allerdings schon dunkel, seit vier schon, es ist November. Ich muß in die Vorlesung und will die Bücher in die Arzttasche geben, ich nehme Die Abenteuer des Gordon Pym, das ich auf Jenseits von Eden gelegt hatte (die Anordnung der Bücher auf dem Cafétisch ist immer dieselbe), unter dem Pym liegt aber auf dem hellbraunen Umschlag von Jenseits von Eden die Reclam-Ausgabe des Meister Floh. Ich bin baff. Seit jenem für die Jahreszeit zu kalten Nachmittag im Oktober, an dem ich in ebendieser Reclam-Ausgabe des Floh Hanna Mohn wiederbegegnet bin, ist das Büchlein verschwunden gewesen, das ist jetzt zwei Wochen her, oder drei und ganz mysteriös. Ich bin von Haus aus nicht das, was man ordentlich nennt, aber bei meinen Büchern, den medizinischen wie den literarischen, bin ich ordnungsfanatisch, Frau Wundt. In der Peinlichgasse sind überall, außer im Bad & WC, meine Bücher
im Gang,
in der Küche,
im Wohn- und
im Fernsehzimmer,
im Schlafzimmer meiner Eltern,
in schwarzen BILLY-Regalen, und nach den Kategorien geordnet,
Literarwissenschaft,
Medizin,
deutsche, englische und übrige Literatur,
Philosophie,
Psychoanalyse,
Teheranistik,
und in jeder Kategorie alphabetisch. Stellt man meinen Bücher-Ordnungsfanatismus in Rechnung, ist das Verschwinden meiner Reclam-Ausgabe des Floh an jenem Nachmittag vor drei Wochen, Frau Wundt, ganz mysteriös, wie gesagt.
Ich nehme den wiedergefundenen Floh in die Hand und will ihn in die Arzttasche geben. Eigenartig, daß ich über sein Wiederauftauchen so gar keine Freude empfinde, was ich als Bücher-Ordnungsfanatiker doch müßte, und darüber, daß Meister Floh so unvermutet wiedererschienen ist, müßte ich staunen, tue ich aber nicht. Ich nehme den Floh und will es in die Arzttasche geben, ich gebe die Bücher immer einzeln in die Arzttasche, Frau Dr. Wundt, jedes an seinen Platz, da fällt ein Kärtchen aus dem Floh, ein weißes Kärtchen, und hinunter auf Jenseits von Eden, ein Lesezeichen. Ich verwende alles als Lesezeichen.
Zahnstocher,
Brillenputztücher,
Rechnungen,
Straßenbahnscheine,
Prüfungs- und Praktikumsscheine.
Es kommt vor, daß ich etwas vermisse (meistens Prüfungs-und Praktikumsscheine) und irgendwann finde ich es als Lesezeichen in einem Buch. Meistens fällt es aus einem Buch heraus, wie jetzt das Kärtchen, das aus dem Floh heraus- und auf Jenseits von Eden hinuntergeflogen ist, und das ich umdrehe, und das kein Kärtchen ist, sondern ein Foto, ein wenig kleiner als eine Reclamheft-Seite, das Schwarzweißfoto eines Mundes. Nur ein Mund und ein Kinn, sonst nichts, ein halboffener Mund, es könnte ein Kindermund sein, jung jedenfalls, und ... frech irgendwie. Ich beginne zu zittern, erst an den Lippen, dann im ganzen Gesicht, Dr. Wundt, ich muß mich auf den Sessel zurückfallen lassen und lege die Hände zwischen den Büchern auf die Marmor-Tischplatte, ich versuche langsam zu atmen, ganz ruhig, es ist der Mund Hanna Mohns.
[...]
(Arbeitstitel). Dieses Fragment ist in der Literaturzeitschrift
"Wespennest" erschienen (Nr. 144) und kann als eine Art Fortsetzung des ersten - weiter *unten* geposteten - Fragments gelesen werden. Ich weiß aber noch nicht, ob es im fertigen Roman tatsächlich nach dem ersten Fragment plaziert werden wird.
P.S.: Kann mir bitte jemand sagen, wie man auf so einem Weblog Texte "verbergen" kann, so daß man zu den Romanfragmenten per Mausklick gelangen kann - und sie nicht so verdammt viel Platz wegnehmen? Schaut doch idiotisch (ad Idiot: Siehe auch die erste Zeile meines ersten posts), resp. unprofessionell aus im Moment.
Arasch Bastani an Veronika Wundt
Sehr geehrte Veronika Wundt,
In den sechziger Jahren war das Rainer das Stammcafé der Teheraner in Graz, Anhängern wie Nicht-Anhängern der Glaubensgemeinschaft, und also auch meiner Eltern. Damals hieß das Café Rainer Columbia, und heute noch sagen die Eltern und andere Teheraner in Graz Columbia und meinen das Rainer.
Auch ich studiere und lese im Rainer, als läge mir das Im-Café-Rainer-Sitzen in der DNA, das Studieren und Lesen im Rainer sind streng voneinander getrennt, ich studiere Medizin, die Medizin interessiert mich nicht, ich studiere sie bloß aus Rücksicht auf die Glaubensgemeinschaft, es heißt in den Schriften der Glaubensgemeinschaft, der Gläubige soll, um der Menschheit zu dienen, etwas nützliches lernen, mein Vater, Architekt und Städteplaner in Teheran, baute in den Siebziger Jahren ein Bürohochhaus nach dem anderen und Industrie-Satelittenstädte, der Bau einer Industrie-Satelittenstadt im Süden von Teheran löste die Revolution aus, in deren Verlauf sie den Kaiser verjagten. Es heißt in den Schriften der Glaubensgemeinschaft, der Gläubige soll sich nicht mit Wissenschaften befassen, die mit Worten beginnen und enden, auf meine - seit meiner Kindheit immer wieder an sie herangetragene - Frage, auf welche Wissenschaften sich die Schriftstelle konkret bezöge, geben mir der Großvater und die Eltern seit Jahren unterschiedliche, sich widersprechende Antworten.
Daß allerdings die Schriftstelle auf alle Wissenschaften, die ich gerne studiert hätte, Anwendung fände,
Geschichte,
Philosophie,
Germanistik,
Teheranistik,
darüber sind sich alle drei einig, Frau Wundt.
Ich studiere und lese im Rainer, das Lesen und das Studieren sind streng voneinander getrennt. Die Medizin interessiert mich nicht. In der braunen Studiertasche, die ich bei mir habe, wann immer ich die Peinlichgassenwohnung verlasse, befinden sich außer den medizinischen auch andere Bücher, die Studiertasche ist eine Arzttasche, ein Geschenk meines Onkels Kurosch, Arzt in Ohio, Chirurg und Psychiater. Das Schicksal, so Onkel Kurosch, seines Bruders, des verschollenen Danusch, hätte ihn derart erschüttert, daß er - ursprünglich Chirurg und Allgemeinarzt - vom chirurgischen Fach ins Psychiatrische übergewechselt sei, ein in der Geschichte der Medizin noch nie da gewesener Fall, wie Kurosch behauptet, Frau Wundt. Von den medizinischen Büchern abgesehen sind in der altvaterischen, aus England stammenden Tasche - Onkel Kurosch lebte in den späten Fünfzigern als Allgemeinarzt in Indonesien, in den frühen Sechzigern als Chirurg im britischen Ipswich und ließ sich Ende der Sechziger in Ohio zum Psychiater ausbilden - in der altvaterischen, aus England stammenden Tasche sind abgesehen von den medizinischen lauter literarische Bücher, die ich, um geistig nicht zu verblöden, und als Ausgleich zur Medizin, immer mitführe, Diderot, Edgar Alan Poe, Dostojewskji, E.T.A. Hoffmann, Flaubert, Steinbeck, Camus und ein Büchlein mit dem Titel Deutsche Verskunde. Im Café Rainer packe ich sie aus, meine literarischen Bücher, und lege sie, einzeln oder aufeinander gestapelt, auf den Cafétisch, als Gegengift, um das Medizin-Skriptum, ob das Lesen literarischer Bücher dem Studium jener Wissenschaften gleichkommt, die laut den Schriften der Glaubensgemeinschaft mit Worten beginnen und enden, kann ich nicht sagen. Immerhin wird in der Glaubensgemeinschaft mitunter die Ansicht vertreten, gerade die literarischen Bücher würden mit Worten beginnen und enden, Frau Wundt, einmal allerdings endete bei mir das Lesen eines literarischen Buches mit einer Tat.
Schon war er an der Tür, als diese plötzlich aufging und in dem hellen Schimmer der Weihnachtslichter ein junges, glänzend gekleidetes Frauenzimmer vor ihm stand.
Klein und zwar etwas kleiner als gerade recht, war das Frauenzimmer, dabei aber sehr fein und zierlich gebaut. Ihr Antlitz, sonst schön geformt und voller Ausdruck, erhielt aber dadurch etwas Fremdes, daß die Augäpfel stärker waren und die schwarzen feingezeichneten Augenbraunen höher standen als gewöhnlich. Gekleidet oder vielmehr geputzt war das Dämchen, als käme es soeben vom Ball. Ein Diadem blitzte in den schwarzen Haaren, reiche Kanten bedeckten nur halb den vollen Busen, das lila und gelb gegatterte Kleid von schwerer Seide schmiegte sich um den schlanken Leib ...
Ich war neunzehn, als ich in der Wohnung des Buchbinders Lämmerhirt im Meister Floh des E.T.A. Hoffmann zum ersten Mal Dörtje Elverdink begegnete, Dr. Wundt, und die Redensart jemandem versetze etwas einen Stich im Herzen war mir gut vertraut. Man hätte mir, glaubte ich, solche Stiche-im-Herzen schon öfters versetzt, als Kind in Teheran zum Beispiel, als mich Großvater, Mutter und Vater mit der Ketzerei Onkel Danuschs konfrontiert hatten. Jetzt aber, als ich beim Lesen des Floh Dörtje Elverdink begegnete, ohne darauf im geringsten vorbereitet zu sein, jetzt aber wurden zur selben Zeit mehrere meiner Organe von einer Kolik befallen –
nicht nur
mein Herz,
auch mein Magen,
mein Kopf,
meine Gedärme,
mein Unterleib,
meine Nieren, Frau Wundt,
und ich stürzte in ein immer bizarrer werdendes Delir. Ich wälzte mich auf dem Bett im Kinderzimmer in der Peinlichgassenwohnung (ich lese, wann immer ich in der Peinlichgassenwohnung lese, im Kinderzimmer auf dem Bett) und begann in einer Art Schmerzenstrance Hanna Mohn zu rufen, immer wieder Hanna Mohn. Ich war nämlich im Roman E.T.A. Hoffmanns in Wahrheit Hanna Mohn begegnet – wiederbegegnet - als hätte sich E.T.A. Hoffmann Dörtje Elverdink vor hundertundneunzig Jahren nur deshalb ausgedacht, damit sich Hanna Mohn hundertundneunzig Jahre danach wieder in mein Herz einschleichen konnte.
Hanna Mohn, Frau Wundt, war meine große Liebe gewesen. Ich hatte sie an einem für die Jahreszeit zu heißen Sonntag im Juni verlassen, eineinhalb Jahre bevor ich ihr im Meister Floh als Dörtje Elverdink wiedebegegnete. Ich lag im Bett, mein Körper wand sich in kolikartigen Schmerzen, die Schmerzen allerdings wurden schwächer, je mehr ich in dem Delir versank, das immer bizarrer wurde, das Delir hatte die Wirkung einer Ganzkörperbetäubung - und nach und nach verwandelte sich die Ganzkörperkolik in eine Ganzkörperlust. Ich wälzte mich auf dem Kinderzimmerbett in der Peinlichgassenwohnung - nunmehr aus Lust - plötzlich glaubte ich, Hanna Mohn zu riechen. Aber Hanna Mohn, soweit ich mich erinnern konnte, hatte nach gar nichts gerochen, oder nach beinahe nichts. Denn zwischen dem, was man, um ein Beispiel zu nennen, am zarten Nacken Hanna Mohns roch, und einem absoluten Nicht-Geruch gab es dann doch einen - wenn auch minimalen - Unterschied, Dr. Wundt. Ich lag auf dem Bett im Kinderzimmer der Peinlichgassenwohnung und starrte in die Reclam-Ausgabe des Meister Floh, wie Dreizehnjährige gebannt und pubertierend in ein pornographisches Magazin hineinstarren, plötzlich glaubte ich, Hanna Mohns Minimalgeruch riechen zu können, intensiver als ich ihn je hatte riechen können, als wir ein Liebespaar waren, plötzlich schmeckte ich Hanna Mohns Lippen, ich hatte Hanna Mohns Lippen nur einmal gekostet, im Stadpark, da waren sie dunkelblau gewesen, im Winter, wie Schwarzbeeren, und kalt, Hanna Mohn hatte gefroren, und schmeckten wie Schwarzbeeren, süßsauer.
Hanna Mohn war die Kousine meines Kameraden Klaus Zinck, meines einzigen Freundes im Gymnasium am Hummelplatz, Dr. Wundt, das ich besuchte, nachdem mich die Eltern mit dreizehn von Teheran nach Graz gebracht hatten. Die anderen der KameradInnen in der Klassengemeinschaft hatten nichts mit mir zu tun haben wollen, sei es, weil ich aus Teheran kam, sei es, weil ich mit ihnen nichts zu tun haben wollte, ich hatte aber als Angehöriger der Glaubensgemeinschaft missionarische Pflichten - vor allem, aber nicht nur in der Schule. Ich war im Missionieren nicht gut, Dr. Wundt. Hin und wieder lud ich einen Kameraden zu einem Wahrheitsabend ein, die Freie Wahrheitssuche ist eines der Hauptprinzipien der Glaubensgemeinschaft, der Mensch, so die Glaubensgemeinschaft, soll nicht blind dem Glauben seiner Vorfahren folgen, vielmehr soll jeder die Wahrheit selbständig suchen, wo auch immer sie ihn hinführen mag. Die Feinde der Glaubensgemeinschaft in Teheran - Priester sowohl der alten Religion Teherans - werfen dieser vor, sie hätte die Freie Wahrheitssuche nur aus Konkurrenzgründen auf ihre Fahnen geschrieben, um Angehörige der alten Religion Teherans abzuwerben und sie der Glaubensgemeinschaft zuzuführen, Frau Wundt, als geistiges Frischfleisch sozusagen. Keineswegs, so die Feinde der Glaubensgemeinschaft, würde die Glaubensgemeinschaft die Freie Wahrheitssuche selbst praktizieren, denn die Kinder der Angehörigen der Glaubensgemeinschaft würden selbst wieder Angehörige der Glaubensgemeinschaft.
Klaus Zinck kam einmal zu einem Wahrheitsabend in die Peinlichgassenwohnung. Der Großvater und der Vater sprachen über den Glauben der Glaubensgemeinschaft, die Mutter – sie mußte an einer Sitzung des Komittees zur Missionierung von Graz und Umgebung teilnehmen - war nicht zuhause, der Großvater und der Vater sprachen über das Wahrheitssuche-Prinzip. Klaus Zinck, ein Kirchengeher, Frau Wundt, äußerst belesen und intelligent (er wollte später Franziskanermönch werden), interessierte sich für sämtliche Fragen des Glaubens und also auch für die Glaubensgemeinschaft. Ich hatte, wie immer bei Wahrheitsabenden, die Worte des Großvaters zu übersetzen - er sprach nur Teheranisch - ansonsten schwieg ich. Auch Zinck schwieg zunächst und folgte mit Interesse den Worten des Großvaters und des Vaters. Beim Reden wechselten der Großvater und der Vater einander ab. Sobald der eine innehielt, und sei es für eine Sekunde, begann sofort der andere zu reden, Frau Wundt, und hätte ihnen nicht ihr missionarischer Eifer ein Minimum an Disziplin abgenötigt, sie hätten , wie immer gleichzeitig geredet, und rücksichtslos gegeneinander.
Irgendwann verlor der Großvater den Faden, er war dabei, über den Unterschied zwischen den vielen Wahrheiten und der einen Wahrheit zu reden, auf das Verstummen des Großvaters hin, fing aber der Vater nicht wie gewöhnlich sofort zu reden an, er schien nachzudenken und ratlos, Frau Wundt. Es entstand ein Schweigen, und in dieses Schweigen hinein fing Klaus Zinck zu reden an. Er sprach über die Kirchenväter und die Theologen im Hochmittelalter, was er genau sagte, weiß ich nicht mehr, obwohl ich seine Worte ins Teheranische übersetzte. Den Großvater übrigens und den Vater beeindruckte die Belesenheit meines Kameraden auf das äußerste, irgendwann sagte Klaus Zinck etwas über die Ketzer, in welchem Zusammenhang weiß ich nicht mehr, und bevor ich dazukam, seine Worte ins Teheranische zu übersetzten, sagte der Vater, es gebe gar keine Ketzer und - es habe niemals Ketzer gegeben. Ich war verwirrt, Dr. Wundt. Ich schaute den Großvater an, dann den Vater, dann Zinck und auch in Klaus Zincks Gesicht war nichts als Verwirrung. Er räusperte sich und überlegte, dann sagte er, als hätte der Vater das gerade Geäußerte gar nicht geäußert, er lese gerade ein Buch, auf Französisch, über die Katharer im Frankreich im zwölften Jahrhundert. Irgendwann sagte er wieder Ketzer, und wieder sagte der Vater, bevor ich dazu kam, Klaus Zincks Worte ins Teheranische zu übersetzten, es gebe gar keine Ketzer und es habe niemals Ketzer gegeben. Diesmal dauerte die Verwirrung meines Kameraden nur kurz, er überging den offenbar sinnlosen Satz meines Vaters und sagte etwas über den Zusammenhang zwischen dem Katharertum und der, wie er sich ausdrückte, Bewegung der Minnesänger. Von da an unterließ es Zinck, das Wort Ketzer in den Mund zu nehmen - wohlweislich nehme ich an, Dr. Wundt. Dennoch redeten er und der Vater von da an aneinander vorbei, und der Großvater war von Zincks Belesenheit derart beeindruckt, daß er gar nichts mehr sagte. Der Wahrheitsabend war bald zu Ende, in der Nacht träumte ich von Echsen, von bunten und kleinen Spielzeug-Echsen aus Plastik, Frau Wundt, die eine nach der anderen lebendig und kleiner und größer wurden und als Kleingetier auf meiner Bettdecke herumkrabbelten, ich wachte auf, atemlos und in Panik, ich habe seit meiner Kindheit eine Ungeziefer-Phobie. Beim Frühstück meinte die Mutter, in der Nacht hätte ich immer wieder Hexe gebrüllt, sie korrigierte sich, nein, Hexer. Auf einmal - ich hatte gerade ein Messer in der Hand und eine Semmel, die ich halbieren wollte, ich beherrschte das Semmel-Halbieren nicht, genausowenig wie ich das Missionieren beherrschte, Frau Wundt, und hasste es, in Teheran mußte ich keine Semmel halbieren, und beide, die Semmel und das Messer, fielen mir aus der Hand, ich hatte kapiert, was passiert war. Der Vater hatte Ketzer mit Hexer verwechselt, so wie Mutter Echse mit Hexe und Hexe mit Hexer.
Die Glaubensgemeinschaft hat den Anspruch, eine aufgeklärte zu sein, in den Schriften wird der Aberglaube der alten Religionen verdammt und der Klerus der alten Religionen beschuldigt, Hüter des Aberglaubens zu sein – die Glaubensgemeinschaft selbst kennt keinen Klerus - und als schlimmsten Auswuchs in der, so die Glaubensgemeinschaft, an schlimmen Auswüchsen reichen Geschichte des Aberglaubens, bezeichnen die Schriften den Hexenwahn, Dr. Wundt.
Beim Wahrheitsabend hatte der Vater Ketzer mit Hexer verwechselt und im Kirchengeher Klaus Zinck ein Opfer des Kirchen-Aberglaubens gesehen, das es aufzuklären gelte, unter Hintanstellung des Gebots, der Gläubige habe beim Missionieren behutsam vorzugehen und in der ersten Phase der Missionierung überhaupt allem zuzustimmen, was der zu Missionierende sage.
Nach jenem Wahrheitsabend ging ich Klaus Zinck aus dem Weg, Dr. Wundt. Ich schämte mich. Ich fühlte mich unwillkürlich in Zincks Psyche versetzt und sah mich gezwungen, den Fehler des Vaters mit Zincks Augen zu sehen und als komplettes Sprachversagen empfinden zu müssen. Wann immer ich andere, Außenstehende, mit der Glaubensgemeinschaft massiv konfrontiert sehe, oder mit dem Teheranischen, fühle ich mich unwillkürlich in deren Psychen versetzt, Dr. Wundt, und meine, die Glaubensgemeinschaft oder das Teheranische mit den Augen dieser anderen zu sehen und schäme mich für den Glauben der Glaubensgemeinschaft und das Teheranische meiner Eltern. Mein Vater, der an deutschsprachigen Universitäten studiert und für die Glaubensgemeinschaft seit Jahren auf deutsch
missioniert,
Bücher geschrieben,
Vorträge gehalten
hatte, mein Vater schien das Deutsche perfekt zu beherrschen. Umso schändlicher mußte ich sein Sprachversagen empfinden und besonders angesichts der Beredsamkeit meines Freundes.
Am Wahrheitsabend hatte ich Zinck eine Karte für ein Konzert übergeben, ein Pop-Konzert im Heimatsaal in der Paulustorgasse. Es hatte sich um ein Konzert der missionarischen Popgruppe Morgenrot gehandelt, die aus mehr oder weniger jungen Angehörigen der Glaubensgemeinschaft bestand, Dr. Wundt, und Musik im Stil der frühen Siebziger machte, Flower-Power-Musik und Hippie-Musik sozusagen, aber keine, wie die Kameraden am Hummelplatz gesagt haben würden, Retro-Musik. Morgenrot war in den frühen siebziger Jahren entstanden und seither einfach dem Musikstil ihrer Gründerzeit treu, obwohl sämtliche Gründungsmitglieder mittlerweile aus ihr wieder ausgetreten waren und die Band jetzt aus mehr oder weniger jungen Angehörigen der Glaubensgemeinschaft bestand.
Klaus Zinck kam nicht zum Konzert in die Paulustorgasse. Er hatte nach dem Wahrheitsabend mein Vermeidungsverhalten registriert, mein phobisches, um nicht zu sagen hysterisches, Frau Dr. Wundt, und der Umstand, daß ich ihn mied, konnte ihm – wie die Kameraden sagen würden, nicht wurscht sein. Klaus Zinck war aber nicht nur für sein Alter ungewöhnlich belesen, er hatte auch noch andere ungewöhnliche Charakterigenschaften: Fein-, um nicht zu sagen Zartgefühl, Frau Wundt, Mitgefühl, Takt. Klaus Zinck hatte, ich kapierte es später, aus Takt mein Bedürfnis, mich von ihm ganz zurückzuziehen, respektiert, auch wenn er meine Motive nicht kannte, er sah aber auch, wie ich unter meinem Rückzug litt wie ein Hund und hatte Mitgefühl mit mir, mein Rückzug bedeutete ja den Verlust meines einzigen Freundes - Klaus Zinck kam nicht zum Pop-Konzert in die Paulustorgasse, aber aus Feingefühl, ich kapierte es später, aus Zartgefühl, schickte er Hanna Mohn.
[...]
Die Augen des Unbekannten versuchen, etwas zu sagen, ihnen auszuweichen gelingt nicht, etwas umständliches, aber was? Ich weiß es nicht, und mein Nicht-Wissen nervt und verwirrt mich, und meine Verwirrung wächst mit jedem Nachmittag im Café Rainer. Ich will dem Blick des Unbekannten ausweichen, fixiere den Umschlag des Patho-Skriptums auf dem Cafétisch, im grünen Glanz des Umschlags ist das Gesicht des Unbekannten als Erscheinung, ein entschlossenes Gesicht und häßlich, ich zögere aber, es häßlich zu nennen, als müßten mir die Glatze, der weiß gesprenkelte Bart und die Augen hinter der Hornbrille vertraut vorkommen und in ihrer Vertrautheit schön. Es ist das Gesicht eines italienischen Intellektuellen oder eines griechischen. Er kommt aus Teheran, ich weiß es, Frau Wundt. Vom Alter her könnte er mein Vater sein, hat also in den sechziger Jahren studiert, in Graz, wie ich annehme - alle Teheraner in Graz sind ehemalige Studenten - wenn er nicht erst nach der Revolution nach Graz gekommen ist, in deren Verlauf sie den Kaiser verjagten. Aber wie jemand, der nach der Revolution erst nach Graz gekommen ist, schaut er nicht aus, also hat er in Graz studiert wie die Eltern und also kennt er die Eltern. Ich muß aufs Klo. Wenn ich in Buchhandlungen mit Büchern konfrontiert bin, die mich reizen, befällt mich ein Stuhldrang, auch, wenn ich kurz davor scheißen war, das ist psychosomatisch, Frau Wundt, durch eine Art Jagdinstinkt auf Bücher ausgelöst, und seit ich mich im Oktober vorigen Jahres der Glaubensgemeinschaft durch mein Ungläubigwerden entzog, befällt mich der psychosomatische Stuhldrang auch dann, wenn ich - an Orten zum Beispiel wie dem Rainer - mit Frauen konfrontiert bin, die mich reizen. Verstehen Sie mich richtig, Frau Wundt. Als Anhänger der Glaubensgemeinschaft reizten mich Frauen und Mädchen genauso. Aber weil es in der Glaubensgemeinschaft vor der Ehe keinen Sex geben darf, lösten Frauen und Mädchen, die mich vor meinem Ungläubigwerden schon reizten, aufgrund meiner Glaubenserziehung bei mir keinen Jagdinstinkt aus, und also befiel mich als Anhänger der Glaubensgemeinschaft beim Anblick von reizenden Frauen kein Stuhldrang.
Ich war eben erst, vor einer halben Stunde erst, scheißen, jetzt wieder der Stuhldrang, also: psychsomatisch. Im ganzen Rainer aber keine einzige Frau, Dr. Wundt, auch meine literarischen Bücher können es nicht sein, den Jagdinstinkt und in weiterer Folge den Stuhldrang lösen ausschließlich Bücher aus, die ich nicht - oder noch nicht - besitze.
Ich komme vom Klo zurück und der Unbekannte ist weg. Es ist erst fünf, das überrascht mich, sonst bleibt er bis es dunkel wird – es ist allerdings schon dunkel, seit vier schon, es ist November. Ich muß in die Vorlesung und will die Bücher in die Arzttasche geben, ich nehme Die Abenteuer des Gordon Pym, das ich auf Jenseits von Eden gelegt hatte (die Anordnung der Bücher auf dem Cafétisch ist immer dieselbe), unter dem Pym liegt aber auf dem hellbraunen Umschlag von Jenseits von Eden die Reclam-Ausgabe des Meister Floh. Ich bin baff. Seit jenem für die Jahreszeit zu kalten Nachmittag im Oktober, an dem ich in ebendieser Reclam-Ausgabe des Floh Hanna Mohn wiederbegegnet bin, ist das Büchlein verschwunden gewesen, das ist jetzt zwei Wochen her, oder drei und ganz mysteriös. Ich bin von Haus aus nicht das, was man ordentlich nennt, aber bei meinen Büchern, den medizinischen wie den literarischen, bin ich ordnungsfanatisch, Frau Wundt. In der Peinlichgasse sind überall, außer im Bad & WC, meine Bücher
im Gang,
in der Küche,
im Wohn- und
im Fernsehzimmer,
im Schlafzimmer meiner Eltern,
in schwarzen BILLY-Regalen, und nach den Kategorien geordnet,
Literarwissenschaft,
Medizin,
deutsche, englische und übrige Literatur,
Philosophie,
Psychoanalyse,
Teheranistik,
und in jeder Kategorie alphabetisch. Stellt man meinen Bücher-Ordnungsfanatismus in Rechnung, ist das Verschwinden meiner Reclam-Ausgabe des Floh an jenem Nachmittag vor drei Wochen, Frau Wundt, ganz mysteriös, wie gesagt.
Ich nehme den wiedergefundenen Floh in die Hand und will ihn in die Arzttasche geben. Eigenartig, daß ich über sein Wiederauftauchen so gar keine Freude empfinde, was ich als Bücher-Ordnungsfanatiker doch müßte, und darüber, daß Meister Floh so unvermutet wiedererschienen ist, müßte ich staunen, tue ich aber nicht. Ich nehme den Floh und will es in die Arzttasche geben, ich gebe die Bücher immer einzeln in die Arzttasche, Frau Dr. Wundt, jedes an seinen Platz, da fällt ein Kärtchen aus dem Floh, ein weißes Kärtchen, und hinunter auf Jenseits von Eden, ein Lesezeichen. Ich verwende alles als Lesezeichen.
Zahnstocher,
Brillenputztücher,
Rechnungen,
Straßenbahnscheine,
Prüfungs- und Praktikumsscheine.
Es kommt vor, daß ich etwas vermisse (meistens Prüfungs-und Praktikumsscheine) und irgendwann finde ich es als Lesezeichen in einem Buch. Meistens fällt es aus einem Buch heraus, wie jetzt das Kärtchen, das aus dem Floh heraus- und auf Jenseits von Eden hinuntergeflogen ist, und das ich umdrehe, und das kein Kärtchen ist, sondern ein Foto, ein wenig kleiner als eine Reclamheft-Seite, das Schwarzweißfoto eines Mundes. Nur ein Mund und ein Kinn, sonst nichts, ein halboffener Mund, es könnte ein Kindermund sein, jung jedenfalls, und ... frech irgendwie. Ich beginne zu zittern, erst an den Lippen, dann im ganzen Gesicht, Dr. Wundt, ich muß mich auf den Sessel zurückfallen lassen und lege die Hände zwischen den Büchern auf die Marmor-Tischplatte, ich versuche langsam zu atmen, ganz ruhig, es ist der Mund Hanna Mohns.
[...]
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