Samstag, 29. Dezember 2007

Demonstration, Revolution und eine Verheißung im Cafè Paradies


Mist und kein Ende ...

Mein Ärger, daß ich den Roman wohl doch nicht werde als Fortsetzungsroman hier veröffentlichen können, weil ja sonst die Verlage usw. ... hält an.

Kleines Trostpflaster: Ein drittes Romanfragment, das eh auch schon veröffentlicht ist (in der Literaturzeitschift kolik Nr. 36), habe ich noch im Köcher. Es handelt sich um einen von mehreren Briefen, den Arman Kalami, altlinker Teheraner Berufsrevolutionär und der zweite Ich-Erzähler des Romans, an "das Zentralkomitee" schreibt.

Um den Zusammenhang mit den beiden in diesem blog bereits veröffentlichten Romanfragmenten (siehe die posts Nr.1 und 2 ganz unten) wenigstens anzudeuten: "Der Dreißigjährige im Rollstuhl mit Krawatte und Anzug" ist natürlich niemand anderer als Danusch, der Ketzer-Onkel des ersten Ich-Erzählers Arasch Bastani ...

Aus dem Roman "Ungläubig" (Arbeitstitel)


Arman Kalami an das Zentralkomitee

Wertes Zentralkomitee,

Seit Jahren ist in Kreisen unserer Partei meine Rolle in der Teheraner Revolution Anlaß für Spekulationen und haben diese mit der Zeit den Charakter von Diffamierungen angenommen. Neulich rief ein Student an der Technik in Graz - ein junger Genosse aus Teheran - meiner sechzehnjährigen Tochter über die Straße hin zu, Wir wissen, daß Dein Vater an Gott glaubt. Sofort, wertes Zentralkomitee, wechselte meine Tochter die Straßenseite und streckte den Jungen wortlos nieder, sie ist Trägerin eines Tae-Kwan-Do-Gürtels und hat der Genosse den Vorfall bei Gericht angezeigt.

Im folgenden erlaube ich mir, wertes Zentralkomitee, von den Vorkommnissen zu berichten - die unmittelbar nach der sogenannten Revolution - für mein Fortgehen aus Teheran von Belang waren und beabsichtige ich hiermit nicht bloß, die Zweifel über meine Loyalität der Partei gegenüber zu zerstreuen.
Ich werde Ihnen nämlich in weiterer Folge eine Person präsentieren, in die ich - was die wahre, noch bevorstehende Revolution anbelangt - die größten Hoffnungen setze.

Im Mai 1978, wertes Zentralkomitee, fand, wie Ihnen bekannt, in Teheran eine Demonstration der Mediengewerkschaften statt und marschierten Tausende über den Perdusi-Boulevard zum Kennedyplatz und marschierte ich als führendes Mitglied der Journalistengewerkschaft in der vordersten Reihe. Es war unweit der Kreuzung Rooseveltstraße-Perdusi-Boulevard, daß mir eine junge Frau auffiel, die aus einem Supermarkt trat und einen Rollstuhl schob. Die Frau war hübsch, wertes Zentralkomitee, und modisch gekleidet, im Rollstuhl saß ein Dreißigjähriger mit Krawatte und Anzug. Auf der Schulter des Dreißigjährigen wiederum saß ein Vogel. Wertes ZK, ich kenne mich bei Vögeln nicht aus, habe aber später erfahren, daß es eine Amsel war. Der Mann hielt etwas längliches zwischen den Lippen, das wohl eine Salzstange war, und der Vogel, also die Amsel, knabberte daran. Ich und die anderen Genossen DemonstrantInnen skandierten Parolen - gegen die Klassengesellschaft, für die Pressefreiheit und gegen den Glauben wie etwa:


Freiheit & Brot
oder
Gott ist tot
oder
Gott hat es nie gegeben

Auf einmal sprang der Mann im Rollstuhl auf, riß die Arme in die Höhe und begann einen seltsamen Tanz aufzuführen, sofort riß auch die Frau die Arme in die Höhe und begann den selben Tanz aufzuführen, die beiden - die GenossInnen verzeihen meine blumige Sprache - sahen wie zwei Marionetten in den Händen eines bekifften Puppenspielers aus, und skandierten sie, nachdem sie sich warm getanzt hatten:

High sein
Frei sein
Gott muß dabei sein


Wertes Zentralkomitee, eigentlich skandierten sie nicht, sie sangen. Etwa so wie Klagepriester Klagelieder singen und singend wiederholten sie die Parole ich weiß nicht wie oft.
Der Vogel, also die Amsel, flatterte im Rhythmus der Parole, schnellte, wenn sie Gott sangen, in die Höhe, und noch bevor sie mit Gott fertig waren, war er wieder auf der Schulter des Dreißigjährigen. Auf einmal waren überall Männer in blauen Sakkos und weißen Hemden mit offenen Krägen, Bärtige, die mir exotisch vorkamen, damals, wertes ZK, gehörten die Trupps des Göttlichen Heilands - im Volksmund Die Blauen genannt - noch nicht zum Straßenbild Teherans. Die Männer waren mit Ketten, Knüppeln und diversen Küchengeräten bewaffnet - Fleischhämmer, Gußeisenpfannen, Stabmixer. Wie ein Schwarm Heuschrecken flogen sie ein, schlugen wie Automaten um sich, schienen vom Himmel zu fallen oder aus Fenstern zu stürzen. Jemand rannte mich um, wertes ZK, ich wollte mich aufrichten, als ein Blauer auf mich zugerannt kam, er hatte einen Fleischhammer in der Hand, ich wurde panisch, griff mir eine Wade des Blauen und biß zu. Mein Biß schien ihm aber nichts anzuhaben, er schwenkte vielmehr den Fleischhammer wie ein Recke im Buch der Elefanten und hätte er zum tödlichen Schlag ausgeholt, plötzlich fiel er aber um, ich schwöre es, und war tot.
Wertes Zentralkomitee, ich stand auf und statt mich um den Toten zu kümmern suchte mein Blick nach der Frau, dem Mann und der Amsel. Die beiden - besser die drei - hatten auf mich einen tiefen Eindruck gemacht. Nicht nur, daß mich die Schöne, ich gestehe es, außerordentlich anzog, das ganze Ensemble zog mich außerordentlich an und hätte ich damals nicht sagen können, warum. Die Frau und der Mann standen immer noch beim Supermarkt-Ausgang, die Amsel war nicht mehr zu sehen, der Mann hatte beide Arme von sich gestreckt, wie ein Schlafwandler, die Frau stand hinter ihm und massierte ihm seine Schläfen. Heute, wertes Zentralkomitee, wundert es mich, daß die Blauen die beiden verschonten, im speziellen die Frau, die Blauen werden ja bei aufreizend gekleideten Frauen rabiat - und aufreizend, werte GenossInnen, war diese Frau.
Der Dreißigjährige blickte verstört, als hätte man ihn aus dem Tiefschlaf gerissen, die Frau beendete die Massage, packte ihn an den Schultern und schob ihn zum Rollstuhl, er setzte sich ohne Widerstand, bald schien er wieder bei sich und entspannt und hatte ich plötzlich den Eindruck, er beobachte mich, aber ich war mir nicht sicher. Um den Toten herum hatte sich ein Cordon Blauer gebildet, der ihn wiederzubeleben versuchte und gestikulierte. Der Dreißigjährige im Rollstuhl richtete sich auf während die Schöne, die hinter ihm stand, in ihrer Handtasche kramte und war ich jetzt sicher, daß er mich ansah. Auf einmal, wertes Zentralkomitee, hörte ich ein Brüllen, das von hinten und oben kam:

Begirid madar-sago!
Haltet den Hurensohn!


Begirid Djani ro!
Haltet den Mörder!


Ich drehte mich um. Aus dem Fenster eines Hochhauses schaute und brüllte ein Blauer mit silbernem Haar das o.g. auf Süd-Teheranisch, er brüllte wie ein Tobsüchtiger und hätte ich die Rettung verständigt, daß er in die Heilanstalt kommt, wäre nicht Revolution gewesen, wertes Zentralkomitee, in der Revolution nämlich gelten andere Regeln, in der Politik wie im Alltag, verzeihen Sie die Belehrung.
Die Blauen um den Toten herum wußten mit dem Zuruf aus dem Hochhaus nichts anzufangen, und schauten sie ratlos nach oben.

Der mit der Glatze, brüllte der Alte,
der ... die Brillenschlange ...
dort, mit der Glatze!


Wertes Zentralkomitee, ich begriff, daß ich gemeint war, ich war für den Blauen im Fenster der Mörder, jedoch rettete mich meine Glatze. Damals nämlich war meine Glatze wesentlich kleiner als heute und konnten die auf der Straße befindlichen Blauen meine Glatze nicht ohne weiteres als solche erkennen im Unterschied zu dem Alten im Hochhaus.
Der Dreißigjährige im Rollstuhl hatte inzwischen begonnen, mich heftig zu sich zu winken und folgte ich instinktiv seinem Winken und lief ich zu dem seltsamen Paar. Einmal blickte ich mich um, aber es folgte mir niemand.
Bayad farar konid, sagte der Dreißigjährige, Sie müssen weg hier. Die Schöne fand, wonach sie in ihrer Handtasche gekramt hatte und reichte sie dem Dreißigjährigen eine Handvoll Tabletten, die er umgehend schluckte. Kommen Sie, sagte die Schöne und nahm meine Hand, ließ sie aber gleich wieder los, zu meinem großen Bedauern, und bat sie mich, den Rollstuhl mit dem Dreißigjährigen zu schieben und ihr zu folgen. Nicht zu schnell, flüsterte sie, das fällt auf, und sprach sie mit einem fremden Akzent, obwohl sie aussah wie eine Teheranerin. Ich kannte die beiden nicht, wertes Zentralkomitee, und gab es für mich überhaupt keinen Grund, ihnen zu trauen, ich weiß nicht, was in mich gefahren war, daß ich Ihnen dennoch folgte.
Laßt ihn nicht entwischen, brüllte der Alte im Hochhaus, die Schöne schien den Straßenkampf zu ignorieren und seelenruhig auf dem Trottoir zu flanieren, und mußte ich tun als sei auch ich ein Flaneur. Wir befanden uns auf dem Perdusi-Boulevard, die Platanen waren damals schon hoch, und frage ich mich, wie hoch sie heute sein müßten (aber kann es sein, daß Luftverschmutzung die Platanen vernichtet?). Wir bogen in die Rooseveltstraße, wo es keine Demonstranten mehr gab, wir müssen ins Paradies, sagte der Dreißigjährige, Sie kennen das Paradies?, fragte die Schöne. Ich blickte mich um, und schienen zwei Blaue uns unauffällig zu folgen. Ja, sagte ich, vom Namen her, aber ich war noch nie dort.
Das Paradies, wertes ZK, war ein von PatientInnen der Psychiatrie geführtes Café in Teheran-Mitte, vergleichbar dem Gourmetrestauarnt Wahnsinn & Gesellschaft in Teheran-Nord. Es galt als schick, solche Cafés zu besuchen, namentlich in der Bohème. Wertes ZK, ich verabscheue die Bohème und habe ich niemals Romane gelesen. Die Typen von der Bohème interessiert an der Revolution doch nur die Romantik und haben sich in Teheran Teile der sogenannten Bohème auf Seiten der Religiösen geschlagen, denn besser als jede wahre Revolution befriedigt die Pseudo-Revolution den Wunsch der Bohème nach Romantik.
Wir bogen in eine Seitenstraße der Rooseveltstraße, ihr Name liegt mir auf der Zunge. Hier, sagte der Dreißigjährige, ist das Paradies, und sprang er aus dem Rollstuhl. Wir standen vor einer Türe aus schwarzem Glas, auf der in futuristischer Schrift Café Paradies stand. Der Dreißigjährige stieß die Glastüre auf, wie man eine Saloon-Türe aufstößt. In den hohen, hellen Räumlichkeiten des Cafés war eine große Menschenmenge, die meisten waren modisch bekleidet und hätte ich nicht sagen können, wer davon ein Fall für die Psychiatrie war. Später erfuhr ich, daß psychiatrische Fälle Das Paradies überhaupt nicht frequentierten, hingegen rekrutierte sich das Personal zur Gänze aus BewohnerInnen der Zacharias-Anstalt, benannt nach dem Arzt Zacharias Rases und bekannt für ihren, wie soll ich sagen, futuristischen Umgang mit psychiatrischen Fällen.
Als wir eintraten ging ein Raunen durch die Menge, dann wurde es still und schienen sich alle Blicke auf den Dreißigjährigen zu richten, der sich zwischen Tischen und Menschen ans andere Ende des Cafés manövrierte und sich hinter die Theke stellte.
Kommen Sie, sagte die Schöne. Sie nahm meine Hand und führte mich zu einem Tisch, auf dem ein Schild mit der Aufschrift Reserviert stand. Es ist für uns reserviert, sagte sie, mit einem Lächeln, daß in meinem Herzen ein Zuckerhut schmolz - wie man früher in Teheran sagte - und bin ich wieder blumig geworden, verzeihen Sie, wertes ZK.
Ich arbeite hier, sagte die Schöne. Wir setzten uns. Ich bin das Aufsichtsorgan für das Café-Personal.
Sie sind - Nervenärztin? Ich war überrascht. Mit ihrem Jeans-Minirock, wertes ZK, ihrer Jeansjacke und ihrem Sweat-Shirt, das mit Zeitungsausschnitten bedruckt war, schien sie keinesfalls eine Ärztin zu sein und schätzte ich sie auf Ende zwanzig.
Sozialarbeiterin, sagte sie, psychiatrische Sozialarbeiterin - und wieder das Zuckerhutlächeln. Ich wollte fragen, ob sie aus Teheran sei, da hörte ich eine schrille Frauenstimme:
Herr Bastani, darf heute ich Ihre Hilfe in Anspruch nehmen? Ich streckte den Hals und konnte ich die Quelle der Frauenstimme als eine Dame mittleren Alters identifizieren, der Kleidung nach großbürgerlich, und saß sie an einem Tisch nahe der Theke. Mit Bastani war offenbar der Dreißigjährige gemeint, der die Hände auf die Theke gestüzt, mit einer seltsamen Würde in die Menge blickte. Die Dame stand auf; und mit ihr ein Junge, den ich auf ca. Achtzehn schätzte. Zusammen traten sie an die Theke. Der Junge hatte halblanges Haar und eine Lederjacke an und schien er ein Rocker zu sein.
Ich mache mir solche Sorgen um meinen Sohn, sagte die Dame und zeigte sie auf den Rocker.
Was hat er denn?, fragte der Dreißigjährige.
Wie soll ich sagen, sagte die Großbürgerin, er hat sich komplett verändert. Vor den Unruhen war er ein braver Schüler und trieb Sport. Na ja, ein braver Schüler war er nie, Sie kann ich nicht anlügen, Herr Bastani, aber dumm ist er nicht, er hatte immer den Fußball im Kopf, nie Mädchen, und dieses chinesische – Kung-Fu. Er ist dann täglich zu den Demos, wir hatten Angst um ihn, aber so ist die Jugend. Eines Tages kommt er nach Hause und sagt: Ich will nicht mehr in die Schule und zu den Demos auch nicht. Warum? Ich muß mich vorbereiten, sagt er, alle müssen sich vorbereiten, auch Ihr - sagt er zu uns -, denn der Verheißene kommt.
In diesem Moment, wertes Zentralkomitee, bewegte der Dreißigjährige den Kopf. Es war eine minmale Bewegung und hatte ich aber den Eindruck, daß die Menschenmenge auf diese Bewegung hin verstummte - während nämlich die Dame gesprochen hatte, hatte die Menschenmenge ununterbrochen getuschelt, jetzt wurde es still. Plötzlich, wertes ZK, war die Amsel wieder da, und saß sie wieder auf der Schulter des Dreißigjährigen und mußte ich abgelenkt gewesen sein, daß ich ihr Hineinfliegen ins Café nicht bemerkt hatte.
Stimmt es, was Deine Mama erzählt?, fragte der Dreißigjährige den Rocker. Er spricht nicht, sagte die Mutter, Tag und Nacht sitzt er auf der Dachterasse und starrt in die Sonne. Am Anfang hat er hin und wieder mit uns gesprochen, daß der Verheißene kommt wie ein Dieb in der Nacht, und die sein Kommen versäumen, wird man lebendig begraben ... die Dame brach in Tränen aus, wertes Zentralkomitee, und schluchzte sie hemmungslos, während der Rocker stumm vor sich hin starrte und hatte ich, ehrlich gesagt, Mitleid mit ihr, auch wenn sie Angehörige der Großbourgeouisie war. Bitte glauben Sie mir, schluchzte die Dame, niemand ist bei uns religiös, mein Mann ist Zoologe und Darwinist, wir haben den Kindern immer von Darwin erzählt und von Marx.
Wertes ZK, daß eine Bourgeouse ihren Kindern von Marx erzählt, überraschte mich einigermaßen und kannte ich damals die Strategie des Klassenfeindes noch nicht, Marx für sich zu vereinnahmen.
Haben wir falsch gehandelt?, schluchzte die Dame, Hätten wir ihm von Adam und Eva erzählen sollen statt von Freud?
Sie haben richtig gehandelt, sagte der Dreißigjährige und war ich schon wieder überrascht, weil ich den Dreißigjährigen aufgrund der o.g. Parole - High sein/Frei sein/Gott muß dabei sein - für religiös gehalten hatte, wenn auch nicht religiös im Sinne der Idioten, die heute in Teheran herrschen.
Gott ist tot, sagte der Dreißigjährige und wandte er sich an die Gesamtheit der Kaffeehaus-Besucher, Gott ist tot, was heißt, daß er immer schon tot war. Ich aber sage Euch - Gott funktioniert nur als Toter.
Die Dame schien sich inzwischen beruhigt zu haben und weinte nicht mehr.
Stimmt es, was Deine Mama erzählt?, fragte der Dreißigjährige den Rocker. Der Rocker blieb stumm und schaute er wie verschämt zu Boden. Schau, sagte der Dreißigjährige dem Rocker, schau, und streckte die Arme aus wie im Perdusi-Boulevard, nur, daß seine Handflächen jetzt nach oben zeigten.
Schau, sagte der Dreißigjährige, schau, der Rocker schüttelte den Kopf, wie um aufzuwachen und schaute er dem Dreißigjährigen in die Augen. Wen siehst Du, fragte der Dreißigjährige, wen siehst Du? Auf einmal, wertes Zentralkomtee, begann der Rocker zu schreien und schrie er als hätte er den Tod vor den Augen und traf mich sein Schreien ins Mark und fingen jetzt alle Kaffeehaus-Gäste zu schreien an, inklusive der Schönen, und schrie auf einmal auch ich, etwas derartiges hatte ich weder erlebt noch für möglich gehalten, ich wollte nicht schreien, jedoch mußte ich, wertes Zentralkomitee, es war schrecklich, der Rocker hielt die Hand vor den Augen und schrie: Bist Du es?, und ging in die Knie, irgendwann fiel mein Blick auf die Amsel, sie kam mir jetzt größer vor und hatte den Schnabel nach oben gerichtet und schien die Decke anzuschreien, sofern Amseln schreien können, wertes Zentralkomitee, ich kenne mich bei Vögeln nicht aus, wie gesagt, und glaubte ich plötzlich, das Schreien der Amsel sei der Grund für das Schreien der Menschen, und auch meines Schreiens, und wollte ich aufstehen und die Amsel totwürgen, damit eine Ruh ist, wie man in Graz sagt, aber das Schreien war schon zu Ende, und hörte auch ich auf zu schreien, aber es war keine Ruh. Jetzt war nämlich ein lautes Klirren zu hören und drangen, indem sie wie in einem Hollywood-Film Fensterscheiben zerschlugen, etliche Blaue in das Café Paradies und skandierten sie

Her mit dem Mörder!
Her mit dem Mörder!


als wären sie auf einer Demo. Ich wußte, daß mit dem Mörder ich gemeint war, blieb aber ruhig; die Schöne nahm meine Hand und drückte sie, ich fühlte mich wie ein Teenager, mit seinem Mädchen im Kino, die Café-Gäste waren aufgesprungen,

Gott ist groß!,

brüllte ein Blauer, die anderen Blauen stimmten mit ein und riefen sie abwechselnd:

Gott ist groß!
und
Her mit dem Mörder!
Her mit dem Mörder!


Einer von ihnen hielt eine Gußeisenpfanne in der Hand und forderte er mit hektischen Bewegungen seiner anderen Hand die Café-Gäste auf, in sein Gott-ist-groß miteinzustimmen, die Café-Gäste schauten alle auf den Dreißigjährigen, der wiederum auf die Großbürgerin und den Rocker einredete, die vor der Theke am Boden kauerten, was der Dreißigjährige sagte, hörte ich nicht, hingegen der Rocker laut Nein, Nein, schrie, während ihm seine Mama den Kopf streichelte. Auf einmal wechselte der Dreißigjährige die Farbe, und war er jetzt rot im Gesicht,

Gott ist tot!,

brüllte er und schlug er mit der Faust auf die Theke und begannen jetzt auch die Café-Gäste wie ein Mann Gott ist tot! zu brüllen und wurden die Gott-ist-tot!-Rufe lauter bis sie die Gott-ist-groß!-Rufe akustisch zermalmten, wenn dieser Ausdruck erlaubt ist, wertes ZK. Die Blauen hatten bis dahin nur Gegenstände zerstört, jedoch die Menschen verschont und verlieren sie jetzt jegliche Hemmung und beginnen sie auf die Gäste einzuschlagen. Der Blaue mit der Gußeisenpfanne schlägt sie einem Kellner auf den Kopf, einem schmächtigen Jungen, und geht dieser augenblicklich zu Boden. Ja Hallo, brüllte der Dreißigjährige und streckte die Arme wieder aus und zeigten seine Handflächen wie im Perdusi-Boulevard wieder nach unten. Die Schöne sprang auf, Herr Danusch, rief sie, bitte lassen Sie das, und wollte sie zum Dreißigjährigen, ich sprang ebenfalls auf, ich hatte Angst um die Schöne und hielt sie zurück, indem ich sie am Handgelenk packte.
Wertes ZK, die Ereignisse überschlagen sich jetzt. Die Café-Gäste fangen wieder zu schreien an und unterbrechen sie ihr Schreien nur um Gott-ist-tot zu brüllen. Die Blauen erstarren und stopfen sie sich ihre Ohren zu und müssen dabei ihre Waffen - Ketten, Knüppeln und Küchengeräte, wie gesagt - fallen lassen, und hätte also das Schreien allein schon gereicht, um die Blauen auszuschalten. Jetzt stürzen sich aber die Café-Gäste wie ein Mann auf die Glaubens-Idioten, packen sie an ihren Hälsen und würgen. Es braucht nicht lange, wertes ZK, und gibt es im ganzen Café keinen einzigen Blauen, der nicht gewürgt worden wäre.
Ich hielt die Schöne noch immer am Handgelenk fest und hatte sie gar nicht versucht, sich meinem Griff zu entwinden. Der Dreißigjährige hatte die Arme wieder fallen lassen und das Gesicht in die Hände begraben als weinte er. Die Schöne schien von einer Willenslähmung befallen, wie übrigens auch ich. Beide standen wir da und begann ich ihr Handgelenk mechanisch zu streicheln. Auch die Blauen schienen ganz willenlos, man würgte sie, aber sie wehrten sich nicht und wurden ihre Gesichter immer blauer, manche langsamer, manche schnell, ein paar fielen um und waren womöglich schon tot.
Wertes ZK, heute denke ich, es wäre nicht schade gewesen um sie. Aber damals kannte ich die religiösen Idioten noch nicht und waren sie Exoten für mich und fragte ich die Schöne, wo das Telefon sei, um die Rettung zu rufen. Keine Rettung, sagte die Schöne. Ihre Trance resp. Willenslähmung schien überwunden. Wir bringen ihn in die Zacharaias, sagte sie, gleich um die Ecke. Der Schönen, wertes ZK, war das Leben der Blauen also gänzlich egal, es ging ihr lediglich um den Dreißigjährigen, den sie Danusch nannte, und hatte sie einen Grund, diesen Danusch ohne Aufsehen in die nahegelegene Anstalt zu bringen, wo er, wie ich später erfuhr, in der Abteilung für Chronische wohnte.

Mir ging die Sorge der Schönen um den Dreißigjährigen auf die Nerven; es war nicht die übliche Sorge der Sozialarbeiterin um das Wohl des Klienten und schien sie mit dem Zustand des Dreißigjährigen in keinem Verhältnis zu stehen. Auch war ich, ich gestehe es, eifersüchtig auf ihn, und hat sich meine Eifersucht im Nachhinein als berechtigt erwiesen. Die Schöne machte sich von mir los und lief sie zu dem Dreißigjährigen, der noch hinter der Theke stand, ich ihr nach, und hielt er die Hände vor dem dem Gesicht, die Amsel war wieder verschwunden.
Es ist wieder passiert, sagte der Dreißigjährige.
Du hast doch, fragte die Schöne und begann sie ihm seine Schläfen zu massieren, Deine Tabletten geschluckt?
Habe ich, aber als der mit der Gußeisenpfanne den Parvis ... Parvis, brüllte er plötzlich und lief er in die Menschenmenge, offenbar auf der Suche nach dem schmächtigen Kellner, warte, rief meine Schöne und lief sie dem Dreißigjährigen nach und ich ihr. Die Gäste begannen den Blauen, die sie zu Boden gewürgt hatten, Erste Hilfe zu leisten. Die anderen Blauen (die noch nicht zu Boden Gegangenen) standen regungslos da, ich stolperte über jemanden und erkannte ich, wertes Zentralkomitee, in ihm den Alten vom Hochhaus, den mit dem silbernen Haar und ging ich sofort in die Knie, um Erste Hilfe zu leisten, in diesem Moment, ich schwöre es, riß er die Augen auf und stöhnte er Mörder! und statt ihm sofort in die Schnauze zu treten, daß eine Ruh ist, wie die Grazer sagen, lief ich in Panik auf die Straße hinaus.

Es regnete, und fiel mir, kaum daß ich draußen war, meine Schöne wieder ein und wollte ich zurück ins Café, da rannte ich in den Dreißigjährigen, den die Schöne im Begriff war, aus der Eingangstüre hinauszuschieben. Der Dreißigjährige war jetzt gelb im Gesicht und hatten sich schwarze Ringe unter seine geröteten Augen gebildet, sein Mund war offen, wie erstarrt während des Aussprechens eines Vokals. Helfen Sie mir, rief die Schöne, der Dreißigjährige hatte steife Glieder, die er kaum zu bewegen vermochte und wurde er mehr von der Schönen geschoben, als daß er selbst gegangen wäre.Ehrlich gesagt: Mir ging die Sorge der Schönen um den Dreißigjährigen auf die Nerven, es war ja gar nicht die gewöhnliche Sorge einer Sozialarbeiterin um das Wohl des Klienten und schien sie mit dem Zustand des Dreißigjährigen in keinem Verhältnis zu stehen. Auch war ich eifersüchtig auf den Dreißigjährigen, um ehrlich zu sein, und hat sich im Nachhinein meine Eifersucht als berechtigt erwiesen. Die Schöne machte sich von mir los und lief sie zu dem Dreißigjährigen, ich ihr nach, der Dreißigjährige stand noch immer hinter der Theke und hielt er die Hände vor dem Gesicht als würde er weinen. Die Amsel war übrigens schon wieder fort und fragte ich mich, ob ich sie mir bloß eingebildet hatte, die Schöne berührte den Dreißigjährigen an den Schultern. Es ist wieder passiert, sagte der Dreißigjährige, die Schöne begann seine Schultern zu massieren. Du hast doch ... Deine Tabletten geschluckt?
Klar, sagte er, habe ich, aber ... dann als der Typ mit der Gußeisenpfanne ... auf den Parvis ... Parvis, brüllte er auf einmal und lief er in die Menschenmenge hinein, wohl auf der Suche nach dem Kellner, den der Blaue mit der Gußeisenpfanne niedergestreckt hatte. Warten Sie, rief die Schöne und lief sie dem Dreißigjährigen nach (den sie seltsamerweise einmal siezte, dann wieder dutzte) und ich ihr. Da und dort hatten die Gäste begonnen den Blauen, die sie zu Boden gewürgt hatten, Erste Hilfe zu leisten, die anderen Blauen, die zwar gewürgt worden waren, aber nicht zu Boden gegangen, standen regungslos da, ihre Gesichter immer noch mehr oder weniger blau, und ebbte nach und nach das Schreien und Gott-ist-tot-Brüllen der Café-Gäste ab, ich stolperte über einen Blauen am Boden und erkannte in ihm den Alten vom Hochhaus, den mit dem silbernen Haar, ich kniete mich hin, um zu sehen, ob er noch lebte, in diesem Moment riß er die Augen auf, wertes ZK, ich schwöre es, und starrte mich an, als wäre ich der Tod in Person. Mörder!, sagte er mit erstickter Stimme, und sprang ich instinktiv auf und statt ihm, wertes Zentralkomitee, ins Gesicht zu treten, daß er, wie die Grazer hier sagen, eine Ruh gibt, lief ich davon.
Der Rollstuhl stand neben der Eingangstüre und jetzt erst kapierte ich, wertes ZK, den Sinn dieses Rollstuhls. Ich half der Schönen, den Dreißigjährigen im Rollstuhl zu plazieren, was uns nach großer Kraftanstrengung gelang, steif wie er war. Die Schöne erwies sich obwohl zierlich als stark und bat sie mich wieder den Rollstuhl zu schieben und ihr zu folgen.

Die Heil- und Sonder-Anstalt Zacharias lag tatsächlich nahe am Café Paradies. Neben der Pforte standen zwei ältere Herren, beide als psychiatrische Fälle erkennbar, in Mao-Anzügen und liefen sie auf den körperstarren Dreißigjährigen zu. Herr Bastani, riefen sie beide. Sie wirkten besorgt. Ich folgte der Schönen und schob den Rollstuhl mit dem Dreißigjährigen durch einen Park mit alten Platanen, es regnete, wertes Zentralkomitee, aber doch nicht so stark, daß Regenschirme resp. -mäntel notwendig gewesen wären. Entlang der Anstaltsmauer reihten sich bunt angestrichene Backsteinpavillons, wir erreichten ein Schwimmbad, hinter dem zwischen hohen Platanen das Hauptgebäude der Anstalt lag. Es hatte eine große Terasse und war sie meiner Meinung nach in den fünfziger Jahren gebaut. Im ganzen Areal war außer den beiden maoistischen Pförtnern niemand zu sehen, ich folgte der Schönen zu einer Seitentüre des Hauptgebäudes und betätigte sie eine Tastatur. Auf einem Bildschirm erschien das Gesicht einer Blonden. Hurra, sagte sie, Trallala, kommt rein, liebe Freunde - die Türe öffnete sich und traten wir ein. Ich war überrascht, daß wir statt eines Krankenhauses eine Halle betraten, die aussah wie der Kommandoraum des Raumschiff Enterprise, nur daß sie größer und gemütlicher war. Auf einem flauschigen Teppich standen mannshohe Sitzkissen, worin langhaarige Frauen resp. Männer lagen, zum Teil als psychiatrische Fälle erkennbar, zum Teil aber nicht. Sowohl der Teppich als auch die Sitzkissen waren in grellen, wie soll ich sagen, psychedelischen Farben gehalten, wie im Anstaltsareal die Backsteinpavillons. Eine Blonde mit Brille saß als einzige direkt auf dem Teppich, ich schätzte sie auf Mitte dreißig. Frau Oberärztin, rief meine Schöne, Guten Tag. Die Oberärztin sprang auf, Elsa, sagte sie enthusiastisch, sie küßten sich auf die Wangen. Elsa, so schön Sie wiederzusehen. Die Schöne hieß also Elsa und konnte sie folglich nicht aus Teheran stammen. Sie zeigte auf mich, das ist der Herr ...

Kalami, sagte ich, Arman Kalami.
Herr Kalami, sagte die Schöne, war so überaus nett, uns herzubegleiten und vor der Revolution zu beschützen.
Auf einmal lachte die Oberärztin, wertes Zentralkomitee. Die Revolution ist ein Witz, sagte sie - und an mich gewandt: Kennen Sie Freuds Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten?
Ich verneinte. Das Gesicht der Oberärztin wurde ernst und wandte sie sich an die Schöne.
Gib ihm ein Akineton, sagte sie und zeigte dabei auf den körpersteifen Dreißigjährigen, bald ist er wieder entspannt.
Die Schöne entnahm ihrer Handtasche eine Tablette, die sie dem Dreißigjährigen auf die Lippen legte.
Setzt Euch, Ihr Lieben, sagte die Oberärztin zu mir und der Schönen, hinten sind noch Sitzkissen frei.
Wir setzten uns, wertes Zentralkomitee, ich und die Schöne, resp. legten wir uns jeder auf einen Kissen. Die Oberärztin setzte sich wieder auf den psychedelischen Teppich. Wir fahren fort, sagte sie. Heute werde ich Euch einen Schriftsteller vorstellen, der aus Teheran stammt, er jedoch lebt er in einer Stadt ... Ihr wißt ja vielleicht, ich war voriges Jahr in dieser Stadt namens Graz und habe die dortige Zentralanstalt für Geisteskranheiten besucht. Dort gibt es ein Künstlerkollektiv, wie bei uns, deren KünstlerInnen über die Grenzen der Nervenanstalt hinaus Ruhm und Anerkenung genießen. Einer von ihnen ist der besagte aus Teheran gebürtige Schriftsteller – die Oberärztin, wertes ZK, nannte einen Schriftsteller-Namen. Ich bin, wie Ihr wißt, sagte die Oberärztin, nicht nur Oberärztin, sondern, auch Filmemacherin. Ich hätte den Schriftsteller - sie nannte, wertes Zentralkomitee, wieder den Schriftsteller-Namen – gerne gefilmt, er wollte aber nicht. Es gelang mir aber, ihn während einer Lesung zu filmen, er merkte es nicht, so sehr war er in sein Lesen versunken. Auf dem Video, das ich Euch jetzt präsentiere, liest der Schriftsteller - die Oberärztin nannte wieder den Schriftsteller-Namen – Fragmente aus einem bis dato unvollendeten Roman. Da unser Schriftsteller aber das Teheranische nur mangelhaft spricht, schreibt er auf Deutsch und Elsa – die Oberärztin warf einen, wie soll ich sagen, liebevollen Blick auf die Schöne – und Elsa war so überaus nett, uns den Text ins Teheranische zu übersetzen, herzlichen Dank, und jetzt ist Armin so nett, die Kopien von Elsas Übersetzung an Euch zu verteilen.
Ein korpulenter als psychiatrischer Fall Erkennbarer, verteilte den Text an die Anwesenden, auch an mich. Sie wissen, wertes Zentralkkomitee, ich habe niemals Romane gelesen, siehe auch oben. Die besagten Fragmente jedoch aus der Feder des Teheraner Schriftstellers und psychiatrischen Falles habe ich aufbewahrt. Sie handeln nämlich von jener Person, in die ich, wie schon am Anfang des Breifes gesagt, die größten Hoffnungen setze, was die bevorstehende Revolution anbelangt – und präsentiere ich Ihnen die in Rede stehenden Passagen, die in Form therapeutischer Protokolle einer sogenannten Poesietherapie abgefaßt sind, was auch immer das sein soll.




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