„Fangen wir an“, sagte der Grobe.
„Fangen wir an“, sagte der Feine.
Der Junge seufzte. Was Djubs seien, fragte ich. „Djubs, das sind die Wasserläufe in Teheran“, sagte der Feine „ähnlich den Wasserläufen in F.“, der Feine nannte den Namen einer wegen ihrer Schönheit bekannten, Provinzstadt, in den Deutschsprachigen Bergen, „ähnlich den Wasserläufen in F., jedoch tiefer und schmutziger.“
„Fangen wir an“, sagte der Grobe.
„Fangen wir an“, sagte der Feine, und während seine Blicke zwischen unseren Biergläsern hin und her pendelten: „Ich gestehe - ich war bei den Blauen“. „Wissen wir doch“, sagt der Junge, „weil Du reiten wolltest“. Und zu mir: „Wie gerne ich reiten können würde, wie Kambis, mein Bruder, , aber in Teheran darf man nicht reiten, und in den Deutschsprachigen Bergen sagen sie, das Reiten sei etwas für die ganz jungen Mädchen“.
„Für die … ganz jungen?“, die Augen des Groben schienen auf einmal zu leuchten, ohne jedoch daß das Leuchten das Grimmige in seinem Gesicht verdrängt hätte. „Ich meine Kinder“, sagte der Junge, ohne den Groben anzusehen, „neun-, zehnjährige“, und zu mir: „Die Blauen nennt man in Teheran die berittene Sittenmiliz, die dunkelblaue Jeanshemden tragen. Sie sind für das Kontrollieren der Bekleidung von Frauen zuständig, und für das Verprügeln bei Demonstrationen und in den Gefängnissen für das Foltern und … die Verhöre“. Ich war mir nicht sicher, aber ich hatte den Eindruck, daß der Junge, nachdem er „für das Foltern“ gesagt hatte, noch ein anderes Wort sagen wollte, das er dann aber doch nicht gesagt hatte, resp. er hatte, statt jenes Wort, „Verhöre“ gesagt.
„Mein Bruder ist zu den Blauen ja nur, weil in Teheran das Reiten als kaiserlich diffamiert und verpönt ist. In Teheran haben Sie überhaupt nicht die Möglichkeit zu reiten, außer Sie sind bei der Sittenmiliz, oder sehr reich.“ Und zum Feinen: „Du bist zu den Blauen, nicht wahr, um das Reiten zu lernen, aber ohne im Endeffekt ... “
„Laß ihn doch selbst reden“, sagte der Grobe dem Jungen, wobei er seinen Kopf schüttelte, auf eine Art, wie ich es nur von Teheranern kenne, knapp bevor sie, bei einer Diskussion zum Beispiel, in Rage geraten, „Du willst doch nicht sagen – “, sagte der Junge, „Nichts will ich“, sagte der Grobe, in einer Lautstärke, die mir schon peinlich war, der Feine erhob seine Hände, als wollte er sich ergeben, und mit diesem Erheben der Hände schien er den anderen beiden, denen er die erhobenen Handinnenflächen zugewandt hatte, Einhalt gebieten zu wollen, was ihm gelang. Das Gesicht des Jungen schien jetzt weniger gereizt, das des Groben weniger grimmig, der Feine wandte sich an mich. „Das hier ist ein Gericht“. Ich verstand wieder nichts, und dachte an „Gericht“, zuerst im Sinne einer Verhandlung, im Gerichtssaal, dann im Sinne von Speise. Beides ergab keinen Sinn. Auch sprach der Feine ein perfektes, wenn auch nicht akzentfreies Deutsch, weshalb es ausgeschlossen erschien, daß er mit „Gericht“ das Bier gemeint haben könnte. Oder hatte er „Gerücht“ sagen wollen?
In Teheran sei eine Revolution im Gange, so der Feine, die das herrschende Regime hinwegfegen würde, bei genauer Betrachtung sei es aber nicht sicher, ob die Revolution das Regime hinwegfegen würde, denn in Teheran herrsche ein rücksichtsloses Mörderregime, ähnlich jenem rücksichtslosen Mörderregime, das vor Jahren hier in den Bergen geherrscht hätte - in einer Hinsicht habe aber die Revolution schon gesiegt. Ein Rat, bestehend aus Vertretern aller Berufsstände und Regionen von Teheran, habe sich des moralischen Aspekts der Revolution angenommen, indem er den Aspekt der Moral in die Revolution eingeführt, resp. die in der Revolution bereits vorhandenen moralischen Ansätze weiterfgeführt hätte.
„In der alten Zeit“, sagte der Feine, „vor der Machtergreifung des Klerus, hätten sich die Teheraner an die Gebote der Moral aus eigenem Antrieb gehalten, der Klerus jedoch hätte diverse Institutionen der Moral installiert, etwa die Sittenmilizen und die Sittenpatrouillen oder die Sitten-Staats- und -Geheimpolizei oder die diversen Sondergerichte für
Kinder
und Frauen
und Männer
und Alleinerziehende
und Jugendliche
und Alkoholiker
und Suchtkranke
und Journalisten
und Künstler
und Geistliche
und Homosexuelle
und Behinderte
und Geschiedene
und Andersgläubige
und Wiederverheiratete
und psychiatrische Fälle
um nur einige wenige Beispiele zu nennen.
Durch diese Institutionen würden die Teheraner seit Jahrzehnten andauernd kontrolliert, so daß sie mit der Zeit die Fähigkeit zur Eigenkontrolle sowie der Eigenbewertung ihres Verhaltens verloren hätten, und Teheran daher in Sachen Korruption
und Prostitution
und dem Handel mit Drogen
und Körperorganen
und Vergewaltigungen
und Mord
und durch Alkohol ausgelöste Verkehrsunfälle,
um nur einige wenige Beispiele zu nennen,
mittleweile international führend sei.
Der Rat habe nun, genauer "Der Revolutionäre Rat zur Wiederherstellung und Förderung der Eigenmoral" habe nun teheranweit zur Wiederherstellung und Förderung der Eigenmoral eine Kampagne gestartet, und man fände infolge dieser Kampagne bei einem Großteil der Bevölkerung Teherans jetzt bereits wieder Ansätze einer Eigenmoral, welche für den Aufbau einer neuen Gesellschaft nach dem allfälligen Sieg der Revolution die wichtigste Grundlage sei.
Wann jedoch dieses klerikale Regime - und ob überhaupt -, von der Revolution hinweggefegt werden würde, sei, so der Feine, nicht sicher, weshalb der Rat in seinem jüngsten Kommuniqué die Bevölkerung aufgerufen hätte, schon jetzt die Tatsache ihrer wiedergewonnenen Eigenmoral zu benützen. Jede Teheranerin, resp. jeder Teheraner, so der Rat – ob in Teheran oder im Ausland -, sollte sich einer Einvernahme durch die Mitglieder ihrer, resp. seiner Familie unterziehen, und sollte der oder die Betroffene eines Verbrechens im Dienste des klerikalen Regimes für schuldig befunden werden, muß das Familiengericht den Delinquenten aburteilen und im Sinne der Eigenmoral ihrer, oder seiner Strafe zuführen.
Es sei ja nicht etwa so, so der Feine, daß die Verbrechen dieses Regimes bloß von einer schmalen Kaste klerikaler Politiker verübt worden wären, vielmehr hätte sich seinerzeit ein nicht unbeträchtlicher Teil der Bevölkerung mit Leib und Seele jener Revolution, welche die Kleriker an die Macht gespült hätte, verschrieben – und ein nicht unbeträchtlicher Teil dieses Teils wiederum habe als verlängerter Arm des Regimes, die schlimmsten Verbrechen begangen.
Die vom Rat angeordneten Familiengerichte müßten jetzt abgehalten werden, wiederholte der Feine, jetzt oder nie, ansonsten könnte ein allfälliges Wiedererstarken das klerikale Regime in die Lage versetzen, mithilfe der o.g. Instititutionen die wiederauferstandene Eigenmoral zu untergraben, resp. in weiterer Folge überhaupt auszulöschen.
„Fangen wir an“, sagte der Grobe.
„Fangen wir an“, sagte der Feine.
Der Junge seufzte.
„Ich will nicht, daß der Eindruck entsteht“, sagte der Grobe, „daß irgendetwas zwischen uns“, seine Zeigefinger pendelten mehrmals zwischen dem Gesicht des Feinen, und seinem eigenen hin und her, „daß irgendetwas zwischen uns auf das Urteil einen Einfluß gehabt haben könnte, weshalb ich hiermit dafür plädiere, daß jemand Außenstehener und Neutraler unserer Verhandlung beiwohnen soll, und ich möchte“, er wandte sich an mich, „Sie darum bitten, Sie, als unseren Landsmann aus Teheran, auch, wenn Sie angeben, die Sprache nicht zu verstehen, diesen Prozeß, so aufmerksam wie nur möglich zu verfolgen - und ich bitte Sie, melden Sie sich beim geringsten Verdacht auf Voreingenommenheit meinerseits.“
Ohne mir die Gelegenheit zu geben, seiner Aufforderung zuzustimmen oder sie abzulehnen, fuhr der Grobe fort, sekundiert von seinem Bruder, dem Feinen - der Junge schwieg -, mir mitzuteilen, daß die Einvernahme aller drei Brüder im Sinne des Kommuniquès des Revolutionären Rates bereits stattgefunden, und es sich herausgestellt hätte, daß der Feine - was aber ohnehin schon bekannt gewesen wäre, nun sei es aber sozusagen amtlich - daß der Feine bei den "Blauen" gewesen sei. Der Junge schien die Rede des Groben mehrmals unterbrechen zu wollen, und jedesmal hatte der Grobe aber grimmig zu ihm hinübergeschaut, so daß der Junge an sich gehalten und letztlich nichts gesagt hatte. Heute, so der Grobe, müsse geklärt werden, ob sich der Feine - und wenn ja welcher - Verbrechen im Dienste der Blauen schuldig gemacht hätte, und sollte er für schuldig befunden werden, müsse Art und Ausmaß der Strafe im Sinne der neuen revolutionären Eigenmoral festgesetzt und ausgeführt werden.
wird fortgesetzt
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