Samstag, 26. Juni 2010

Wunderland 1.Teil

... eines jener Gesichter, die etwas sagen wollen und Du willst es nicht hören, und niemand hat es jemals gehört.


Ich weiß zwar von meinen Eltern, die mich seinerzeit in dieses Land gebracht haben, um dann bei einem Verkehrsunfall zu versterben, ich weiß zwar von meinen Eltern, daß sie aus Teheran stammten, und also auch ich, aber ich habe keine Erinnerung an Teheran, obwohl mich jedesmal, wenn ich die Sprache Teherans höre, eine Empfindung durchströmt, ein Empfindungsstrom ergießt sich - auch wenn ich kein Wort der Sprache zu verstehen vermag - von meiner Kopfhaut hinunter in meine Körperorgane.

Das Land, in das mich meine Eltern gebracht haben, als ich zwölf war, ist ein deutschsprachiges, und ich bewohne eine Kleinstadt in den Deutschsprachigen Bergen, die in Wahrheit ein Dorf ist.

Neulich mußte ich, um Besorgungen zu machen, in die Hauptstadt einer der Landesprovinzen, eine charmante Provinzstadt, von der sie sagen, sie habe etwas Mediterranes. Ich war mit dem Zug angereist, nahm, um in die Altstadt zu kommen, die Tram, und vertiefte mich, sobald ich mich hingesetzt hatte, in ein Buch über Churchill. Eine Station vor dem Hauptplatz schreckte ich auf. Eine laute Musik war zu hören, eine Marschmusik, die einen kriegerisch stimmte, wie Marschmusiken es an sich haben, aber zugleich melancholisch. Ich sah aus dem Fenster. Hunderte, größtenteils schwarz und auffallend gut gekleidete Frauen und Männer bewegten sich hinter einem Kleinbus, in Richtung Hauptplatz, auf dem Dach des Kleinbusses war ein Lautsprecher, aus der die Marschmusik kam - jetzt war die sonore Stimme eines Mannes zu hören, weniger kriegerisch, aber melancholisch, und wieder begann mich jene Empfindung zu durchströmen, die mich jedesmal durchströmt, wenn ich die Sprache Teherans höre, auch wenn ich kein Wort der Sprache zu verstehen vermag, und die sich von meiner Kopfhaut in das Innere meines Körpers ergießt. Die Fahrgäste begannen, sich über die Fahrbehinderung zu echauffieren, bis sich die Tramtüren öffneten, ich war aufgestanden, um auszusteigen, und hatte das Buch über Churchill in den Rucksack gepackt, da hörte ich von hinten die Stimme einer alten Frau.
"Was … sind denn das?", im Dialekt der charmanten Provinzstadt.
"Das?", sagte die Stimme eines älteren Mannes im selben Dialekt, "Das? Teheraner."
"Teheraner?"
"Ja. Zuhause trauen sie sich nix. Oba bei uns do – machen’s Krawall."
Ich war dabei, während ich aus der Straßenbahn ausstieg, die Schnallen meines Rucksacks zu schließen, auf einmal rannte ich nach hinten. Sie saßen nebeneinander. Er hatte das rote und runde Gesicht der Bewohner jener charmanten Provinz, sie aber nicht. Ich stellte mich hin.
"Wos is?", fragte der Alte, noch immer im Dialekt der Provinzstadt, der mich, zum ersten Mal, seit mich die Eltern in dieses Land gebracht hatten, an das Grunzen der Schweine erinnerte. Ich begann, den Alten zu würgen, und würgte bis meine Hände zu krampfen begannen bzw. als wäre ich der Kandidat in einer TV-Show, bei der die Kandidaten die Aufgabe haben, einander zu Tode zu würgen. Ich kam zu mir. Der Alte war gelb und blau angelaufen, rot war er ja schon, und hustete, die Alte, vermutlich die Ehefrau, starrte mich an, auf einmal kippte ihr Kopf nach hinten, sie war dabei, in Ohnmacht zu fallen. Jetzt begann der Alte auch noch Blut zu husten. Ich stieg aus.

Draußen tauchte ich in die Menge der größtenteils schwarz und auffallend gut gekleideten Frauen und Männer, die der Alte in der Straßenbahn Teheraner genannt hatte, es war warm. Nicht, daß es in der Straßenbahn nicht auch warm gewesen wäre, und überhaupt in der Stadt, aber dieses warm an der Grenze zu heiß umhüllte die Haut meines Körpers, mein Kopf kippte, wie der Kopf jener Alten, nach hinten, die Augen fielen mir zu, ich sah ein Licht, und wußte sofort, daß es eine Erinnerung an Teheran war. Ich hatte an Teheran keine Erinnerung mehr, wie gesagt, in der Erinnerung an Teheran, die ich jetzt auf einmal doch hatte, sitze ich auf dem Rücksitz eines Autos und sehe ein gleißendes Licht, und spüre das Licht auf der Haut meines Hinterns - wie die Hitze im Strom dieser größtenteils schwarz und auffallend gut gekleideten Frauen und Männer die Haut meines Körpers umhüllte.

Ich hatte die Augen jetzt wieder offen, sah aber noch immer dieses gleißende Licht, ich schien mich sowohl in der Erinnerung an Teheran als auch in der Provinzstadt im Strom der Teheraner zu befinden, auf einmal war eine zweite Erinnerung: Ich liege auf einem Teppich, in Teheran, auf dem Bauch, und schaue in ein Comics. Das Comics ist in das selbe gleißende Licht getaucht, in das in der ersten Erinnerung die Haut meines Hinterns getaucht ist, resp. das Auto, auf einmal rempelt man mich von der Seite her an, resp. jemand ist auf mich gestürzt, der seinerseits angerempelt worden ist, wir gehen beide zu Boden, es ist, als hätte jemand über mich, resp. uns, eine Decke gebreitet, durch die jetzt ein anderes, rötliches Licht hindurchschimmert. Ich habe Angst und will aus der Decke heraus, da sehe ich zwei Augen in einem Frauengesicht, die mich mit einer Begeisterung anschauen, die mir unheimlich ist. "Du?", sagt das junge und ausnehmend hübsche Frauengesicht, und ich krieche, so schnell es nur geht, aus der Decke und gelange, indem ich mich durch den Strom der Teheraner hindurchkämpfe, zu der Mauer des Landhauses der Provinzstadt, eines Reneissancebaus, gegen die ich mich lehne.

Ich versuchte zu kapieren, was passiert war. Eine Menschenreihe - innerhalb des Stroms der in der Straßenbahn Teheraner Genannten - hatte eine Fahne in Form eines hohen und unendlich langen Transparents hochgehalten, das jetzt am Boden lag - wie man mir später erklärte, hatte es sich um die rot-weiß-grüne Fahne Teherans gehandelt -, eine zweite Menschenreihe hatte dann die Fahnenträger auf einmal gerempelt, Rempler, Fahnenträger und Unbeteiligte, so wie ich, waren zu Boden gegangen, und etliche Fahnenträger, aber auch Unbeteiligte, so wie ich, waren unter der Fahne zu liegen gekommen. Ich hatte die Fahne übrigens, bevor ich aus ihr herausgekrochen war, gar nicht bemerkt, aus Fahnen mache ich mir nichts.

"Wie - hast denn Du’s mit den - Teheranern?"
Ich erschrack und schaute nicht hin. Es war die Stimme der Frau von unter der Fahne. Als ich dann aber hinschaute, sah ich das Gesicht - einer anderen Frau, den Kopf an die Mauer gelehnt, zwar ebenfalls hübsch, aber eines jener Gesichter, die etwas sagen wollen, schon immer, und - wie soll ich es sagen - Du willst es nicht hören, und niemand hat es jemals gehört.

"Bist Du denn für …", die Frau nannte einen Eigennamen, vermutlich den eines Politiker Teherans, ich hatte es immer vermieden, mich mit den Politikern Teherans zu befassen, und überhaupt war mir Teheran fremd, ich wußte, daß meine Eltern aus Teheran stammten, und also auch ich, mehr wollte ich nicht. Das Frauengesicht, den Kopf an die Mauer gelehnt, und den Strom der Teheraner betrachtend, fing an über die Politiker Teherans zu sprechen.

Aber - hätte es nicht sein können, daß ich, sobald ich aus der Fahne heraus war, statt jenem Frauengesicht drei Männern begegnet wäre, einem jüngeren Hochgewachsenen, und zwei älteren, die mich gefragt hätten - ich war ja gestürzt -: "Ist alles in Ordnung?"

Sie hatten die Sprache Teherans gesprochen, d.h. daß sie mich für einen Teheraner hielten, was ich ja auch bin, aber es wunderte mich, weil mich weder die Bewohner der Deutschsprachigen Berge noch Teheraner in der Regel für einen Teheraner halten, ich habe eine für Teheraner untypische Nase und in der Provinztstadt nennt man meine Haarfarbe semmelblond.
Alle drei hatten also die Sprache Teherans gesprochen, die ich nicht verstehe, dennoch verstand ich ihr Anliegen, bedankte mich und entschuldigte mich, daß ich, obwohl ich, aus Teheran stamme, die Sprache nicht spreche. "Sie meinen", sagte einer von ihnen, der sich, wie es sich später herausstellte, Kameran nannte - auf Deutsch -, "Sie meinen, Sie stammen aus Teheran, und verstehen die Sprache nicht mal?"

Ich hatte mir, sobald ich sie gesehen hatte, gedacht, die drei seien Brüder, und sie waren es auch - obwohl sie äußerlich miteinader keine Ähnlichkeit hatten. Einer hatte ein feines Gesicht, einen Bart nach der Art von Intellektuellen und eine hellbraune Glatze, der zweite war hochgewachsen und jung. Der dritte, der sich, wie es sich herausstellte, Kameran nannte, hatte einen Bauch.

"Das macht doch nichts", sagte der junge Hochgewachsene, der sich Giw nannte, wie es sich später herausstellen sollte, und aussah wie ein Wirtschaftsstudent. Giw ist übrigens, wie man mir später erklärte, ein in Teheran seltener Name eines Helden der Teheraner Mythologie.

Die Selbstverständlichkeit, mit der die Brüder mich angesprochen hatten, und ihre Freundlichkeit, die sich angenehm von der Art unterschied, wie sie einem in den Deutschsprachigen Bergen begegnen, überraschte mich, ich fand die Brüder - den mit dem Bauch vielleicht ausgenommen, der mir vorgehalten hatte, daß ich die Sprache Teherans nicht spreche, und den ich für mich den Groben nannte - sympathisch, und kam mit ihnen, obwohl grundsätzlich scheu, sofort ins Gespräch.
Sie fragten mich, wie es käme, daß ich in den Deutschsprachigen Bergen lebte, ob meine Eltern noch in Teheran lebten usf., und als der Strom der Teheraner zu versiegen begann, kehrten wir in einer Seitengasse jener Fußgängerzone in "Die Deutschsprachige Gemütlichkeit" ein, ein Gasthaus, das mir vom Hörensagen bekannt war. Die Deutschsprachige Gemütlichkeit war nahezu rauchfrei, und nahezu leer, der Schiffsboden knirschte und ich hatte das Gefühl, daß er schwankt, als befänden wir uns buchstäblich auf einem Schiffsboden, auf hoher See.
Sobald die Brüder sich hingesetzt hatten, veränderte sich der Ausdruck ihrer Gesichter. Das des Feinen schien mir jetzt nachdenklich, der junge Hochgewachsene wurde blaß, der mit dem Bauch, der schon die ganze Zeit grimmig geschaut hatte, schaute jetzt noch grimmiger. Alle vier, nachdem wir uns an einen Tisch aus dunklem Holz gesetzt hatten, bestellten wir ein Bier. Ich war verwundert, daß die Gebrüder - wie ich die Brüder im Stillen nannte – alle ein Bier bestellt hatten, genauso wie ich, ich hatte gedacht, daß Teheraner kein Bier trinken würden, obwohl ja auch ich aus Teheran stamme, und Bier trinke. Das sei ein Gerücht, sagte der mit der Glatze und dem feinen Gesicht, der sich, wie es sich später herausstellte, Kambis nannte, Selbstverständlich wird in Teheran Bier konsumiert, genauso wie bei uns, und in weiterer Folge sagte er bei uns, sowohl dann, wenn er von den Deutschsprachigen Bergen, als auch dann, wenn er von Teheran sprach.
Ich war froh, den Gebrüdern begegnet zu sein, wie gesagt, ich hatte eine Frage über Teheran, die mich seit Jahren beschäftigt. Daß ich an Teheran keine Erinnerung hätte, stimmt also nicht, es gibt Phasen, da habe ich Erinnerungen an Teheran, die aber später verschwinden, und in den Phasen, in denen ich keine Erinnerungen an Teheran habe, erinnere ich mich nicht, daß ich in den Phasen zuvor sehr wohl Erinnerungen an Teheran hatte. Ich war also froh, den Gebrüdern begegnet zu sein, obwohl ich auch Angst hatte, ihnen meine Frage über Teheran zu stellen, nicht wegen des Inhalts der Frage, vielmehr bin ich ein Einzelgänger und scheu, und lebe davon, für andere ihre Briefe zu schreiben, geschäftliche wie private, die Briefe erhalte ich, d.h. die Entwürfe, per e-mail, gelegentlich auch noch per Post, ich schreibe sie um, und retourniere sie mit einem Erlagschein, und vermeide es, mit den Menschen in Berührung zu kommen.

Das Bier war angenehm kühl und die Kellnerin - drall und blond - erinnerte mich an eine Isabella von früher.
"Nicht wahr", fragte der Junge den Feinen, "Du hast mir das Radfahren beigebracht, in dem Keller mit der Katze unter der Couch."
"In dem Keller ...? Doch … in der Eisenhowerstraße."
"In Teheran", der Feine wandte sich jetzt an mich, "in Teheran hatten die Straßen - ich meine früher hatten viele der Straßen in Teheran amerikanische Namen." Es war mir peinlich, daß sich der Feine gezwungen sah, mir Teheran zu erklären, und ich verfluchte die Eltern, daß sie mich in das deutschsprachige Land gebracht hatten, um bei einem Unfall zu sterben. Der Feine wandte sich jetzt an den Jungen:
"Ja … Du warst fünf oder sechs, und ich studierte an der Schöngeistigen Fakultät dieser Universität ... "
"Und Du hast mir das erste Fahrrad gekauft - mit den Stützrädern."
"Die Stützräder haben wir aber gleich abmontiert."
"Und Du hast mich auch immer auf Deinem Fahrrad mitfahren lassen, vorne auf der Stange, und Du bist immer ganz nah an den Djubs entlang, da hab ich immer geschrien."
"Der mit den Djubs", sagte der Grobe, "war ich".
Ich hörte dem Gespräch der Gebrüder mehr oder weniger aufmerksam zu, gleichzeitig war ich mit meiner Frage über Teheran beschäftigt, die ich ihnen später stellen wollte, jetzt wandte sich der Junge an mich: "Könnten Sie sich bitte", er wirkte verlegen "an einen anderen Tisch setzen?" Sie hätten, er zögerte, sie, die Brüder, hätten etwas privates zu besprechen. Ich war aufgeschnellt und, wollte sofort, ohne an das Zahlen zu denken, aus dem Gasthaus hinaus, da spürte ich eine Hand auf meiner Schulter. "Bleiben Sie", sagte der Grobe. Und zum Jungen: "Im Gegenteil." Im Gegenteil? Ich verstand nichts. Und setzte mich.

wird fortgesetzt

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