Sonntag, 25. Juli 2010

Wunderland 6.Teil

Widerfährt ihm Liebesleid
Dann bricht er
Oder wird zum Dichter


Pablo Picasso, Der Harem
„Wie auch immer – ich saß eine Woche lang, oder länger, ich weiß es nicht mehr, Tag für Tag in der Hitze - allerdings ist die Hitze bei uns, in Teheran“, der Feine wandte sich wieder an mich, „nicht schwül, wie bei uns, in den Deutschsprachigen Bergen, sondern trocken, und leichter zu ertragen, ich saß also Tag für Tag im Schanigarten, in der Hitze, neben dem Kiosk, und las die Zeitung - ich kaufte immer mehrere Zeitungen auf einmal, und das Problem war, daß mich, als Revolutionär, alles, was in den Zeitungen stand - und die Zeitungen waren ja voll von Revolution -, das mich alles was in den Zeitungen stand, natürlich sehr interessierte, und ich fürchtete das Mädchen - versunken in meiner Zeitungslektüre -nicht aus dem Haustor treten zu sehen.

Schließlich passierte es. D.h., daß ich das Mädchen aus dem Haus treten sah. Sie hatte jene Jeanshose an, die sie angehabt hatte, als ich auf der Bank gesessen, und meine Wurstsemmel gegessen, und sie auf einmal vor mir gestanden, und gesagt hatte, sie schreibe Gedichte, und ob sie beitreten dürfe - jene Jeanshose deren Blau dunkler war, und wie man in der Deutschsprachigen Provinz gesagt haben würde, fader als die Jeanshosen der Mädchen aus Nord-Teheran -, sie trat aus dem Haus und ehe ich mich versehen hatte, wie man so sagt, saß sie auf dem Rücksitz eines Motorrades - und weg. Also gab es einen anderen. Ich bezahlte mein Cola oder Canada Dry, ich weiß es nicht mehr, und ging nach Hause, seither habe ich weder die Schule, noch die Buchhandlung noch überhaupt die Kühlschrankstraße gesehen, übrigens wurde die Schule nach der Revolution zugesperrt, resp. in eine Bildungsanstalt für angehende Religionspädagoginnen umgewandelt.
Ich fuhr nach Hause und beschloß, das Dichten für immer zu lassen, so sehr war das Dichten für mich mit dem Mädchen verknüpft, resp. mit der Liebe zum Mädchen, ich war dabei, meinen Kameraden vom Poesieclub zu schreiben, und ihnen meinen Austritt zu erklären, da fiel mir ein Vers ein, aus dem Traktat Instruktionen für alle Lebenslagen eines Antschenani genannten Teheraner Poeten des elften Jahrhunderts, es heißt dort, im Kapitel Pubertät und junges Erwachsenenalter:

Widerfährt ihm Liebesleid,
Dann bricht er -
Oder wird zum Dichter

und ich beschloß, jetzt erst recht - wie es die Bewohner der Berge anläßlich jener Präsidenschaftswahlen zu ihrem Motto gemacht hatten, jener Wahlen, bei denen sie einen Angehörigen der Mörder-Armee jenes Mörderregimes, das vor Jahren einmal hier in den Deutschsprachigen Bergen geherrscht hatte, zu ihrem Präsidenten wählten -, ich beschloß jetzt erst recht Dichter zu sein, resp. zu bleiben, und wieder fiel mir Antschenani ein, jener Meister des elften Jahrhunderts, der neben den Instruktionen auch ein Epos verfaßt hat, in Versen natürlich, dessen Titel vom deutschen Übersetzer mit

Der Frauenhasser
nur unzulänglich übersetzt worden ist, eigentlich müßte es heißen:

Der von der Frauenkrankheit, resp. von der Frauenstörung Erfaßte.
Wie auch immer - Der Frauenhasser handelt von einem Teheraner Potentaten des zehnten Jahrhunderts, der erfährt, daß seine Geliebte einen schwarzen Sklaven liebt. Er läßt beide, die Geliebte und den Sklaven, hinrichten, und nimmt sich eine Andere, die ihn natürlich wieder betrügt, diesmal mit dem chinesischen Konditor am Hof, ihre Nachfolgerin betrügt ihn mit seinem syrischen Astronomen, die vierte wieder mit einem afrikanischen Sklaven, und als er von der Affäre seiner fünften Geliebten mit seinem sarazenischen Hofstallmeister erfährt, befiehlt er neben seiner Residenz ein Gehege zu errichten, alle jungen Frauen des Reiches einzufangen und in das Gehege zu sperren und wie wilde Tiere zu halten.“ Die Augen des Grobe schienen auf einmal wieder zu leuchten, wie vorhin, aber das Leuchten vermochte das Grimmige in seinem Gesicht auch diesmal nicht zu verdrängen.
„Hin und wieder“, sagte der Feine, „erlaubt er einer der Frauen, ihm persönlich zu dienen, die er beim geringsten Anzeichen von Unbotmäßigkeit aber hinrichten läßt - mitunter auch ohne jeden ersichtlichen Grund. Eines Tages verliebt er sich dann in eines seiner armen Opfer, eine junge, schöne Tscherkessin.
Ihre Schönheit",

offenbar zitierte er jetzt wieder jenen Poeten, und gestikulierte - auf eine Art, die mir für Teheran typisch erschien, auch wenn ich keine Erinnerung mehr an Teheran habe,
„Ihre Schönheit raubte jedem
Den Verstand und die Ruhe - Jenem aber,
gemeint ist natürlich der König", sagte der Feine,
"Jenem aber
Brachte sie beides zurück.
Der König behandelte die Tscherkessin mit zunehmender Zuneigung immer liebevoller, und menschenwürdiger, nicht wie das Tier, zu dem er sie – und alle anderen jungen Frauen im Königreich Teheran - mit jenem im Zorn erlassenen Dekret gemacht hatte. Aber natürlich mußte sich auch diese, sechste, Geliebte in einen Anderen verlieben - einen am Hof beschäftigten, aus Griechenland gebürtigen Waffenschmied. Anders als bei ihren Vorgängerinnen erfuhr der König von der Untreue seiner Tscherkessin aber nicht von einem Dritten, vielmehr war er selbst Zeuge, als die Tscherkessin und der Grieche sich küssten. Der König, der, wie soll ich es sagen, im Töten seiner Ehefrauen und ihrer Liebhaber schon ziemlich routiniert war, der König hatte sein Schwert schon gezogen, da bemerkte er zu seiner Überraschung, daß ihn der Anblick der beiden, wie sie sich küssten, eigentlich sehr faszinierte - und er beschloß, die beiden zunächst gewähren zu lassen, und sie erst später zu töten. So kam es, daß er - den das Schauspiel, das man ihm unwissentlich darbrachte, immer mehr in den Bann zog - die beiden nicht nur in jener Nacht, sondern auch in den folgenden Nächten gewähren ließ. Schließlich mußte er sich eingestehen, daß er den Anblick einer Geliebten in den Armen eines Anderen ungleich mehr genoß, als wenn sich diese ihm selbst hingab. Folglich heiratete er die Tscherkessin unter der Bedingung, daß sie ihren griechischen Liebhaber auch als Königin beibehalten möge – und/oder andere Liebhaber -, daß sie aber damit zu rechnen habe, daß er sie, wann immer er wolle, beim Liebesakt beobachten würde - und so lebten beide, der König und die junge Königin, resp. alle drei oder vier oder fünf, oder wieviele es immer gewesen sein mochten, glücklich und zufrieden, bis ans Ende - wie man in den Deutschsprachigen Bergen zu sagen pflegt - ihrer Tage.“
wird fortgesetzt

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