"Aber es gäbe eine gemeinsame Wurzel des Pornographischen in Adornos Werk und dessen Person ..."
Das Mädchen und der Professor waren zur selben Zeit in das Lager gebracht worden. Beide waren überzeugt, das Plakat sei ihnen zum Verhängnis geworden – nicht zu Unrecht wie ich annehme -, also jene Zeile, die man als
THEODOR a PORNO
hätte lesen können. In seiner Verzweiflung hatte der Professor jedem, der ihm im Lager über den Weg gelaufen war, zu erklären versucht, daß Adorno und Porno miteinander nichts zu tun gehabt hätten, (obwohl die Mehrheit der Lagerbewohner ihrerseits mit Adorno nichts zu tun gehabt hatte, was sich in Folge, und dank des Professors, aber änderte), daß Adorno Komponist und Philosoph gewesen sei, und folglich für Porno keine Zeit haben konnte, nicht einmal den Jazz hätte er goutiert.
Mit seinen Beteuerungen, daß Adorno und Porno miteinander nichts zu tun gehabt hätten, wollte der Professor seine Entlassung aus dem Lager bewirken, resp. die Faschisten veranlassen, ihm den Prozeß zu machen, in der Hoffnung, Adornos und damit seine eigene Unschuld beweisen zu können. Natürlich hätte der Professor das Lager einfach verlassen können, und aus Teheran flüchten, er hätte dann aber mit Repressalien gegen seine Angehörigen zu rechnen gehabt, wie gesagt.
Nachdem er dann aber eine Zeit lang im Lager verbracht, und begonnen hatte, dessen Vorteile zu genießen, wollte der Professor dieses nicht mehr verlassen, und was er am Anfang begehrt hatte - nämlich entlassen zu werden -, fürchtete er jetzt, zumal er glaubte, daß er mittlerweile in seinen Seminaren und Kursen einem anfangs ratlosen, aber zunehmend enthusiastischen Publikum (der Professor war ja ein begnadeter Redner) die Unschuld Adornos, und damit seine eigene, hinreichend bewiesen hätte. In einer aufsehenerregenden Rede erklärte er schließlich, daß entgegen seinen bisherigen Behauptungen, Adorno und Porno sehr viel miteinander zu tun gehabt hätten, nicht in dem Sinn, daß Adorno ein Pornograph gewesen wäre. Pornographische Schriften hätte er keine verfaßt. Jedoch hätte er - der Professor - es bislang versäumt, seine Zuhörer auf bestimmte Details in Adornos Biographie aufmerksam zu machen. In weiterer Folge war im Zusammenhang mit jener aufsehenerregenden Rede ein Wortspiel entstanden: Der Professor hätte mit der Vorlesung nicht Aufsehen erregen, vielmehr die – unsichtbaren - Aufseher erregen wollen. D.h. die Aufseher provozieren, und veranlassen wollen, ihm so lange wie möglich die Entlassung aus dem Lager zu verweigern.Dazu müsse man sagen, sagte das Mädchen, daß im Lager durch die Vorträge des Professors eine große Adorno-Gemeinde entstanden war, die sich intensiv mit der Neuen Musik und der sogenannten Kritischen Theorie auseinanderzusetzen begann. Wie man sich vorstellen kann, hatte die Kehrtwendung des Professors diese AnhängerInnen Adornos schockiert, zumal er bei einer anderen Rede einen Schritt weiter ging. Er behauptete, die Details in Adornos Biographie seien keineswegs unbedeutende pornographische Einzelepisoden, sondern Ausdruck von Adornos Person. Zwar wolle er nicht behaupten, daß - bloß weil Adorno sich pornographisch betätigt habe, und weil diese pornographischen Betätigungen Ausdruck von Adornos Person seien - Adornos Werk ein pornographisches sei. Aber es gäbe eine gemeinsame Wurzel des Pornographischen in Adornos Werk und dessen Person. An dieser Stelle verwendete das Mädchen den Ausdruck Porno-Biographie, und lachte, obwohl sie mir sonst, wenn sie vom Professor und Adorno erzählte, traurig erschien.
Durch sein Verhalten hatte der Professor nicht nur Die Gemeinde Adornos vor den Kopf gestoßen, wie sich die Adorno-Gemeinde nun nannte, nach und nach wurde er vom ganzen Lager geächtet, bis er eines Tages verschwand. Allerdings sei der Professor, versicherte das Mädchen, im Lager. Das Lager sei ja groß, der Professor halte sich in einer entlegenen Region auf, oder vielmehr versteckt. Sie stünde mit ihm in Kontakt, und bei bestimmten Anläßen mische er sich auch unter die Lagerbewohner, die ihn jeodch, von Neuankömmlingen abgesehen, nicht einmal ignorierten, wie man in den Deutschsprachigen Bergen gesagt haben würde.
Was die beiden sich widersprechenden Wünsche betraf - im Lager bleiben oder dieses verlassen zu wollen -, ging es mir wie dem Professor. Oder umgekehrt. In dem Sinn, daß ich am Anfang lieber gestorben wäre, als das Lager zu verlassen. Bis mir Mutter einfiel“. Der Junge schaute zum Groben. Seit er vom Klo zurück war, hatte er, wenn er nicht gerade auf den Boden oder auf den Tisch geschaut hatte, oder ins Bierglas, immer zu mir oder zum Groben geschaut, zum Feinen nicht mehr, „die Mutter mußte ja … Gott habe sie selig … diese Tabletten … es ging mir wie in dem Lied
Ich möchte am liebsten weg sein
Und bleibe am liebsten hier
Ich war unentschlossen, und - wie man in Bergen hier sagt – unrund, und sagte es schließlich dem Mädchen. Du mußt zur Telefonzelle, sagte das Mädchen, so, als handelte es sich bei der Telefonzelle nicht um eine Telefonzelle, sondern um eine Institution. Von einer Telefonzelle im Lager wußte ich nichts. Ich hatte angenommen, daß es keinen direkten Kontakt zwischen dem Lager und der Außenwelt gab. Daß man Briefe schreiben und erhalten konnte, wußte ich zwar – über das dafür zuständige Komitee selbstverständlich -, aber man mußte damit rechnen, daß sie die Briefe abfingen und zensurierten. Das Mädchen wußte, daß ich den Gedanken nicht ertug, sie könnten meine Briefe an Mutter abfangen und zensurieren, daher die Telefonzelle. Sie erwarte mich am Abend, um zehn, vor dem Amphitheater, es klang wie ein Rendezvous, sie kam mir aber am Abend, um zehn, vor dem Amphitheater, ungewohnt ernst vor. Wir spazierten auf die letzte Terrasse hinauf, zu jener Stelle, an der sie mich am ersten Abend abgesetzt hatten, an der Grenze zwischen dem Park und der kanadischen Landschaft, die ich mittlerweile schon mehrmals aufgesucht hatte, jedesmal in Begleitung des Mädchens, und jedesmal waren wir, nachdem wir die Terrasse erreicht hatten, nach links in einen schütteren Wald eingebogen. Aber jetzt führte sie mich, indem sie mich an der Hand nahm – zum ersten Mal, aber ich spürte, obwohl ich sie begehrte, und nachträglich gesehen, womöglich sogar liebte, keine Erregung -, sie nahm mich also an der Hand, und diesmal führte sie mich nach rechts, auf einen Weg, in einen anderen, dichteren Wald.
Bald hörte der Weg auf, wir begannen uns durch die Bäume zu kämpfen, und weil ich ihre Hand, oder sie meine, nicht loslassen wollte, hätte uns ein Beobachter für zwei ungelenke, sich ständig verrenkende Tänzer halten können. Wir kamen zu einer ungewöhnlich - oder soll ich sagen unheimlich? - hellen Lichtung. Ich schaute hinauf, und sah, zum ersten Mal seit sie mich in das Lager gebracht hatten, den Mond.
Die Telefonzelle - sie stand mitten in der Lichtung - kam mir auf eine seltsame Weise bekannt vor, als hätte ich sie schon einmal gesehen, in einem amerikanischen Kinofilm, der in Kanada spielt, oder in einem britischen. Aber ich kenne weder einen amerikanischen noch einen britischen Kinofilm, in dem eine Telefonzelle vorkommt - jedenfalls keine in einer Lichtung im Wald - noch überhaupt einen Film, der in Kanada spielt.
In Wahrheit hatte mich die Telefonzelle an eine Telefonzelle in einer Folge einer amerikanischen Serie erinnert. Durch einen Flugzeugabsturz strandet eine Gruppe junger Amerikaner auf einer Insel. Die Insel war früher bewohnt, aber aus irgendeinem, mir nicht mehr erinnerlichen Grund als die jungen Amerikaner dort stranden wieder entvölkert gewesen, oder evakuiert. Die Gebäude und die Infrastruktur der entvölkerten - oder evakuierten - Stadt auf der Insel wirkten wie die Fassaden einer verfallenden Filmstadt. In der Szene, an die mich die Telefonzelle in der Lichtung erinnerte, versucht einer der jungen, auf der entvölkerten - oder evakuierten - Insel Gestrandeten von einer Telefonzelle aus nach Hause anzurufen, obwohl er weiß, oder wissen müßte, daß die Telefonzelle seit langem defekt ist, währenddessen sitzen die anderen Gestrandeten in den Überresten einer Bar.
Die Telefonzelle in der Lichtung war nicht defekt, obwohl sie genauso marod und abgefuckt aussah, wie die Telefonzelle in der amerikanischen Serie. An ihre Farbe kann ich mich nicht mehr erinnern, es war eine Telefonzelle von einer Art, wie es sie, wenigstens damals, in Teheran nicht gab, am ehesten hätte sie nach London gepaßt, und so gesehen, war sie am ehesten rot. Ich war, soweit ich mich erinnere, am Rand der Lichtung gestanden, und hatte die Telefonzelle angestarrt, als wäre sie etwas Sensationelles, was sie ja tatsächlich auch war, bis mir das Mädchen bedeutete, daß ich hineingehen soll, und mir Glück wünschte - noch bevor ich Gelegenheit hatte, ihrer Anweisung Folge zu leisten -, als stünde ich vor einer gefährlichen Prüfung.
In der Telefonzelle war ein weißer, an einem Halter befestigter Becher aus Plastik, mit mehreren Münzen. Ich warf eine in den Schlitz, und wählte unsere Nummer, legte aber, bevor es zu läuten begann, wieder auf. Dann probierte ich es nochmal. Mutter war am Apparat, wie immer, auch wenn es ihr schlecht ging.“ Der Grobe nickte, der Feine musterte den Jungen, halb argwöhnisch, wie mir schien, und halb ratlos, „ich wollte mich entschuldigen, daß ich mich so lange nicht gemeldet hatte. Stattdessen sagte ich: Wo bist Du, um Himmels Willen, wo bist Du?
Beruhige Dich, sagte Mutter. Aber es war nicht ihre Stimme sondern meine, die ich - nur zu gut - kannte, nur, daß meine Stimme noch mädchenhafter klang als, wie sie in den Bergen hier sagen, ohnehin schon. Ich hatte einmal bei SchülerInnen machen Radio mitgemacht, einem von der Kaiserin initiierten Projekt, worauf ich sehr stolz war. Mutter hatte die Sendung aufgezeichnet, und ich war über die Mädchenhaftigkeit meiner Stimme entsetzt gewesen. Ich habe, hörte ich mich sagen, in allen Amts- und Revolutions- und Polizeistuben nach Dir gesucht, Du kannst Dir nicht vorstellen -
Ich kann es, sagte die mädchenhafte Stimme, also meine eigene, am anderen Ende der Leitung. Es reichte mir und ich lief aus der Telefonzelle. Das Mädchen stand rauchend am anderen Ende der Lichtung. Du mußt mir helfen, sagte ich, ich muß nach Hause.
wird fortgesetzt
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