„Irgendwann hatte ich den Park, ohne es zu bemerken, verlassen, oder den Garten, oder was immer es war, mir war klar, daß ich in Teheran war, die Menschen und die Straßen waren die Menschen und die Straßen Teherans, aber etwas war anders, auch der Himmel schien der gleiche - und doch ein anderer zu sein. Wie lange war ich im Lager, resp. im Militärgebäude gewesen? Zwei Wochen? Zwei Monate? Ich wußte es nicht, aber es war, als seien nicht Monate oder Wochen sondern Jahre vergangen.
Als Kind hatte ich auf Anregung unserer Mutter eine aus dem Amerikanischen in die Sprache Teherans übersetzte Erzählung gelesen: Zwanzig Jahre unter dem Bett. Die Handlung hatte ich schon damals, als ich aus dem Modesalon flüchtete, fast vergessen, ich erinnere mich nur an einen Jungen, dessen Eltern am Abend fortgehen, er bleibt mit seinen Geschwistern alleine zuhause, sie streiten - die Geschwister sind älter - und der Junge verkriecht sich einem Zimmer des weitläufigen Hauses, unter dem Bett einer schlafenden Oma oder Tante, ich weiß es nicht mehr, und wartet bis die Eltern zurückkommen, um ihn zu befreien, er wartet, und das Warten erscheint ihm unendlich - Zwanzig Jahre unter dem Bett.
Ohne es angesteuert zu haben, stand ich auf einmal vor dem Tor unseres Hauses. Ich erschrack. Ich hatte unsere Straße nicht wiedererkannt. Ich sage Straße, aber hier, in den Deutschsprachigen Bergen, hätte man zu unserer Straße Gasse gesagt, eine Sackgasse, am Ende eine Ziegelsteinmauer, und dahinter ein Garten mit Zypressen und hohen Platanen. Die Mauer gab es nicht mehr. Wo der Garten gewesen war, standen, statt den Zypressen und den hohen Platanen, Baumaschinen und Kräne, dicht aneinander gedrängt, auf unserer Straße standen ebenfalls Baumaschinen und Kräne, aber hintereinander, und bildeten eine Schlange.
Obwohl unsere Straße, und das Gelände, auf dem sich der Garten befunden hatte, jetzt eine Baustelle waren, war es in unserer Straße ganz still, im Unterschied zu den lauten und lebendigen Straßen, die ich wie ein Schlafwandler auf dem Weg vom Modesalon zu unserer Straße zurückgelegt hatte. Die Baustelle war verlassen. Die Baumaschinen wirkten wie Teile einer gigantomanen Installation eines Teheraner Künstlers oder wie Abbilder von vielen - trotz ihres Aneinander-Gedräntseins - einsamen Göttern. Weder Bauarbeiter noch Passanten waren zu sehen, und wenn ich mich richtig erinnere, sah ich nicht einmal parkende Autos. Ganz still stimmt aber nicht. Es gab vereinzelt Geräusche, die mir - als ich unseren Namen auf der Gegensprechanlage suchte, als sei ich ein Fremder - rhythmisch erschienen, wie das Ticken einer Uhr.
Dennoch hatte ich das Gefühl, ich befände mich außerhalb jeder Zeit, und die Stille zwischen den Ticks sei die Stille eines aus der Ordnung der Zeit gefallenen Ortes.“
wird fortgesetzt
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