Freitag, 8. Juni 2012

Warum wir fremde Kulturen nicht respektieren sollten – und die „eigene“ auch nicht (1)

Jedes fünfte Mitglied des Kabinetts des neuen französischen Präsidenten, Francois Hollande, hat „Migrationshintergrund“. In der Öffentlichkeit Europas fand diese Nachricht fast durchwegs ein positives Echo. Hollandes Personalpolitik stelle ein längst fälliges Signal der Öffnung dar, so der Tenor, und würde der multikulturellen Realität der Gesellschaft endlich Rechnung tragen. Nachahmung dringend empfohlen.

Diesem Tenor möchte ich im folgenden widersprechen. Ich werde versuchen zu zeigen, daß Hollandes Personal-Entscheidung der gesellschaftlichen Realität zwar tatsächlich Rechnung trägt - aber insofern als diese Realität vom gesellschaftlichen Diskurs bestimmt ist; daß der aktuelle gesellschaftliche Diskurs dort, wo es um "uns und die Migranten" geht, dem Prinzip Kultur, wie ich es nennen möchte, verpflichtet ist - und daß, so gesehen, Hollande das Richtige aus falschen Gründen getan hat.

In seinem kulturkritischen Hauptwerk Das Unbehagen in der Kultur verwendet Freud den Begriff Kultur als Gegenbegriff gegen Natur. Um dessen Überleben zu sichern, würde Kultur die Natur des Menschen – seine sexuellen und aggressiven Triebe - in enge Schranken weisen. Der Triebverzicht, den ihm die Kultur dabei abverlange, würde den Menschen - wo er ihm den Weg zum Glück nicht zur Gänze versperrt - in seinem Glücksstreben empfindlich stören.

Wenn wir heute über „fremde“ und „eigene Kultur“, „Leitkultur“, „Multikulturalität“ usw. reden, stellen wir Freuds Konzept von Kultur geradezu auf den Kopf. Über "Kultur" reden wir heute so, als redeten wir über Natur. Denn: Was bedeutet es etwa, wenn wir von einer „fremden Kultur“ - z.B. derjenigen der Türken - im Unterschied zu „unserer eigenen“ reden? Fragen wir uns, was das sei, „fremde“ oder „eigene Kultur“, fällt uns zunächst die Sprache ein. Aber Sprache allein kann es nicht sein. Denken wir an „Integration“. Wenn wir „Integration“ sagen, meinen wir in aller Regel, daß Angehörige „fremder Kulturen“, "sich bei uns integrieren" sollten. Damit meinen wir zwar auch, daß jene Fremde unsere Sprache lernen und sprechen sollten, aber nicht nur.  Es scheint um mehr zu gehen. Worin besteht aber dieses Mehr? Über Sprache hinaus, wird es auf einmal schwer, zu sagen, was mit "Kultur" (der eigenen oder der fremden) gemeint sein könnte.
Den meisten würde nach der Sprache Kultur im Sinne von Kunst und Folklore einfallen: Malerei, Musik, Tanz, Literatur. Das alles scheint zu unserer Vorstellung von „fremder“ und „eigener Kultur“ dazu zu gehören - aber nicht zentral zu sein. Malerei, Musik, Tanz, Literatur empfinden wir eher als „Symptome“ einer (fremden oder eigenen) Kultur – nicht als deren Wesen.

Wenn sie in Österreich stattfände, würde die Diskussion darüber, was wir meinen, wenn wir „fremde -“ oder „eigene Kultur“ sagen, an dieser Stelle - wie es bei Diskussionen über „Integration“ regelmäßig der Fall ist - bei „Wiener Schnitzel“, „Burenheidl“* und „Bier“ landen also, nicht zu Unrecht, ins Lächerliche abgleiten.

Aber wir wollen nicht aufgeben, und es noch einmal versuchen. Woran wir denken, wenn wir „fremde Kultur“ sagen - und diese „fremde Kultur“ „unserer eigenen“ gegenüberstellen - scheint auf etwas wie Lebensart oder Lebensweise hinauszulaufen. „Fremde Kultur“ scheint auf eine Lebensweise zu verweisen, die sich von „unserer“ unterscheidet, für die fremde Menschengruppe wesenhaft und für die Gesamtheit ihrer Mitglieder typisch ist. Anders gesagt: Wenn wir von „fremder“ und „eigener“ „Kultur“ reden, meinen wir das, was wir im Falle eines Individuums dessen Charakter nennen würden.

Die Rede von „Kultur“ läuft also auf etwas hinaus, was man früher Volkscharakter genannt hätte. Wenn wir über „uns“ und die Migranten in Begriffen der "Kultur" reden, reden wir also in Wahrheit in Kategorien der Natur. Mit „Charakter“ verbinden wir ja die Vorstellung des Festen, Unabänderlichen. Eben die Vorstellung von der „Natur“ eines Menschen.

Daß wir Volkscharakter meinen, wenn wir „Kultur“ sagen, sagt uns zwar nicht, was einen solchen Volkscharakter - und somit das, was wir meinen, wenn wir "Kultur" sagen - konkret ausmachen könnte. Aber wenn wir auch nichts Festes in der Hand haben –  immerhin haben wir hinter der Rede von „Kultur“ das Bedürfnis ausgemacht, uns an etwas Festes, Unabänderliches zu halten, an einem "von Natur aus bestehenden" (Volks)Charakter.

"Kultur", wie sie uns in der Rede von „eigener“ und „fremder“ Kultur, „Leitkultur“ und „Multikulturalität“ begegnet, verspricht also mehr als sie hält - und enthält Schlimmeres als sie zu versprechen scheint.

wird fortgesetzt


* österreichisch für Burenwurst oder Klobasse. Eine grobe österreichische Brühwurst. Gehört zum Standardangebot österreichischer Würstelstände.

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