Freitag, 21. Dezember 2012

Was heißt Moderne? - von Helmut Dahmer





 




  



Anläßlich der Wiederholung unserer Diskussions-Veranstaltung „Warum wir über den Islam nicht reden  können“  

http://samamaani.blogspot.co.at/2012/03/wrum-wir-uber-den-islam-niht-reden.html 

in Graz, stellte ein Teilnehmer die Frage: "Was heißt Moderne?" - und behauptete in weiterer Folge, die Moderne habe ihren Ursprung in dem von Mohammad in Medina des 7. Jahrhunderts gegründeten Gemeinwesen.

Im folgenden einige Gedanken des Soziologen Helmut Dahmer, einer der Vortragenden des Abends, zur Frage  

Was heißt „Moderne“?

Antwort auf die Frage eines gelehrten, gläubigen Muslims

„Modernisierung“ nennen wir den sozialhistorischen Prozess, der mit der Auflösung der traditionalen, auf Grundeigentum beruhenden alteuropäischen Wirtschaftsgesellschaft begann. Im Laufe von Jahrhunderten löste sich die feudale Ständegesellschaft auf: Die Individuen verselbständigten sich gegenüber ihrer Herkunftsgruppe (Stämmen und Familien) - und deren Glaubensüberzeugungen. Als formell selbständige „freie Lohnarbeiter“ waren sie von ihren Subsistenzmitteln (Boden, Nahrungsmittel, Rohstoffe und Werkzeuge) getrennt; als mobile, „überschüssige“ Arbeitskräfte strömten sie dorthin, wo es Arbeit für sie gab – in die städtischen Manufakturen und Industriebetriebe im eigenen Land oder in überseeischen Kolonien. „Gemeinschaften“, denen man durch Geburt angehört, verloren nach und nach ihren Nimbus und ihre Bindungskraft. Loyalitäts- und Pietätspflichten gegenüber Familie, Sippe und Religionsgenossen wurden unter Markt-, also Konkurrenzverhältnissen relativiert; hier konnte man sich nur mit Hilfe von individuellen Vorteils-Kalkülen und durch die Mitgliedschaft in solidarischen Interessenverbänden behaupten. Die (relativ) autonom gewordenen Individuen, die mit allen anderen konkurrierten und lernten, auf ihren Vorteil zu schauen, verhielten sich gegenüber den traditionellen Religionen mit ihren Jenseitsverheißungen zuerst skeptisch, dann zunehmend gleichgültig. Im Zuge der „Aufklärung“ wurde die Herkunft der Gottesvorstellungen aus Wunsch- und Angstphantasien kenntlich, die „heiligen“ Schriften galten nicht mehr als „Offenbarungen“, sondern als grandiose Dichtungen, die religiösen Rituale als Dressurmittel.

         In traditionalen Gesellschaften waren Individuen, die sich von ihren Herkunftsgruppen lossagten oder aus ihnen ausgeschlossen wurden, nicht überlebensfähig. Die Etablierung von Marktverhältnissen setzt die Existenz solcher „vereinzelter Einzelner“ voraus. Die Marktgesellschaft eröffnet ihnen neuartige Überlebenschancen und macht tendenziell „alle“ zu arbeitsuchenden abhängig Beschäftigten. Bei dem Übergang von "traditional" verfassten (durch direkte Herrschaft und Zwangsmoral zusammengehaltenen) Gesellschaften zu modernen, in denen die vereinzelten Einzelnen sich nur indirekt durch Tausch- oder Marktbeziehungen vergesellschaften, handelt es sich um einen Prozess, der in Europa Jahrhunderte in Anspruch genommen hat und dort – ebenso wie in den außereuropäischen Gesellschaften, die zeitverzögert von ihm erfasst worden sind – auch gegenwärtig noch andauert. Dieser Modernisierungsprozess hat die Voraussetzungen für die Anerkennung der Gleichberechtigung aller Menschen, für die Trennung von Wissenschaft und Religion und von Staat und Kirche, für die Teilung der Gewalten und (schließlich auch) für die parlamentarische Demokratie geschaffen. Jede dieser Errungenschaften wurde in langwierigen Kämpfen gegen die Interessen privilegierter Gruppen und ihrer Ideologen durchgesetzt, und jede dieser Errungenschaften muss auch im heutigen Europa verteidigt werden.

         Modernisierung bedeutet die Auflösung traditionaler Lebenswelten. Teile der davon betroffenen Bevölkerungen und ihre Ideologen versuchen angesichts solcher „Entfremdung“ an ihrer überkommenen Sozialethik festzuhalten, ja, deren drohenden Verfall durch eine Rückkehr zu jenen Verhältnissen aufzuhalten, unter denen sie entstand. Dieser Sprung in die Vergangenheit wird so wenig gelingen wie der Versuch „fundamentalistisch“ orientierter Regime, bestimmte Errungenschaften der Moderne, vor allem die heutige Kriegs- und Produktionstechnik, zu übernehmen und im Übrigen an der religiösen Weltanschauung des 7. Jahrhunderts festzuhalten. Der Anschluss an die Moderne, die Integration der Weltbevölkerung in den kapitalistischen Weltmarkt wird auch im 21. Jahrhundert nicht harmonisch verlaufen, sondern Verelendung, Kriege, Massaker und Terror zeitigen. Wir aber, Erben der Aufklärung, vergessen darüber nicht, dass die kapitalistische nur die erste historische Gestalt einer weltumspannenden Gesellschaft ist, nicht ihre letzte.

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